Ein Jahr Gaza-Krieg
„Nicht enden wollender Alptraum“
Hunger und Zerstörung – der Gaza-Streifen gleicht ein Jahr nach Kriegsbeginn einer Trümmerlandschaft. Laut der Weltbank leben alle Menschen in Armut, eine halbe Million droht akut zu verhungern.
Von Jan Dirk Herbermann Sonntag, 06.10.2024, 14:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.10.2024, 14:21 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Philippe Lazzarini spricht von einem „nicht enden wollenden Alptraum“. Seit einem Jahr hat der Generalkommissar des Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge der Vereinten Nationen (UNRWA) mit beispielloser Zerstörung und Not im Gaza-Streifen zu tun. Denn auf den schlimmsten Terrorangriff in der Geschichte Israels durch die Hamas am 7. Oktober 2023 folgte eine bis heute anhaltende Offensive der israelischen Armee auf das Gebiet.
Es würden weiterhin Bombardierungen aus der Luft, von Land und Meer aus auf den Gaza-Streifen gemeldet, hieß es im jüngsten Lagebericht des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe (Ocha). Die zivile Infrastruktur werde zerstört, die Bevölkerung vertrieben und getötet. UNRWA und andere UN-Institutionen dokumentieren die Lage der Menschen regelmäßig.
Mehr als 40.000 Tote, 96.000 Verletzte
Das Gesundheitsministerium von Gaza, das von der Hamas geführt wird, spricht von mindestens 41.615 Palästinenserinnen und Palästinensern, die vom 7. Oktober 2023 bis zum 30. September 2024 getötet wurden. 96.359 weitere wurden demnach verletzt. Die UN halten diese Zahlen für glaubwürdig, auch wenn sie sie nicht überprüfen können. Zudem unterscheiden die Angaben nicht zwischen Zivilbevölkerung und Hamas-Kämpfern. Laut einer im Juli in der medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlichten Studie könnte die Zahl der Todesopfer allerdings noch sehr viel höher liegen, unter anderem da von vielen weiteren Toten unter den zerstörten Gebäuden auszugehen ist.
Auf israelischer Seite wurden nach offiziellen Angaben mehr als 1.546 Israelis und Ausländer getötet, die meisten davon am 7. Oktober und unmittelbar danach. Darunter befinden sich 346 Soldaten, die seit Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen oder an der Grenze zu Israel getötet wurden. Überdies hätten seit dem Start der Bodenoffensive 2.298 Soldaten Verletzungen erlitten. Außerdem warten Familien in Israel noch immer auf die Befreiung von Angehörigen, die in den Gaza-Streifen verschleppt wurden und sich als Geiseln in der Gewalt der Hamas befinden.
Humanitäre Lage katastrophal
Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen beschreiben UN-Beschäftigte als katastrophal und eine der gravierendsten Krisen weltweit. Israel hat das Gebiet weitgehend abgeriegelt, die Menschen können nicht heraus, es kommt kaum Hilfe herein. Laut Daten von 15 im Gaza-Streifen tätigen Organisationen gelangen wegen der Blockade nur 17 Prozent der benötigten Hilfe in das Gebiet. Die allermeisten der rund 2,1 Millionen Bewohner mussten teils mehrfach innerhalb des schmalen Streifens vor der Gewalt flüchten, viele verloren ihren gesamten Besitz. Nach Angaben der Weltbank „leben heute fast 100 Prozent der Bevölkerung in Armut“, fast eine halbe Million Menschen ist laut den UN in akuter Gefahr zu verhungern.
Die Wirtschaft des Gaza-Streifens schrumpfte nach Berechnungen der Weltbank allein im ersten Quartal 2024 um 86 Prozent. Der Fischereisektor steht beispielhaft für den Kollaps der Ökonomie. Vor Oktober 2023 galt der Sektor als eine der wichtigsten Einnahmequellen der Menschen. Einem Bericht des palästinensischen NGO-Netzwerks (PNGO) zufolge sind seit Beginn des Kriegs 150 Fischer ums Leben gekommen. Etwa 1.000 Boote, insgesamt rund 87 Prozent, seien beschädigt oder zerstört worden.
Trümmerwüste Gaza-Streifen
Der Gaza-Streifen gleicht inzwischen einer Trümmerwüste: Nach Angaben des UN-Satellitenzentrums Unosat sind zwei Drittel aller Gebäude in dem rund 360 Quadratkilometer kleinen Gebiet am Mittelmeer beschädigt oder zerstört. Besonders verheerend sei der Verlust von Schulen, Krankenhäusern und anderer ziviler Infrastruktur, die laut Völkerrecht nicht attackiert werden darf. Laut UNRWA wurden bislang 85 Prozent aller Schulgebäude im Gaza-Streifen getroffen. Israels Militär begründet die Angriffe damit, dass die Hamas die Objekte militärisch nutze und weist die Verantwortung für den Beschuss der Miliz und ihren Verbündeten zu.
Der Krieg in Gaza offenbare einen beängstigenden Mangel an gegenseitiger Empathie, erklärte UNRWA-Chef Lazzarini. „Diesen Niedergang in die Barbarei kann nur die Macht der Gesetze aufhalten, die jedoch immer bedeutungsloser werden.“ Ohne sie werde das Schicksal Gazas womöglich auch das der übrigen Welt. (epd/mig) Aktuell Ausland
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