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Thermostat © 123rf.com

„Rechter Populismus“

Lindner will bei Bürgergeld Rotstift ansetzen – auch bei Ukrainern

Der Staat erstattet Menschen mit Bürgergeld die Unterkunftskosten. Hier will Finanzminister Lindner jetzt kürzen – ebenso bei den ukrainischen Kriegsflüchtlingen. Die Bundesregierung dementiert. Experten widersprechen Lindner ebenfalls. Die Linke wirft ihm „rechten Populismus“ vor.

Mittwoch, 23.10.2024, 13:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 23.10.2024, 13:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Bürgergeld-Empfänger sollen nach einem neuen Vorstoß von FDP-Chef Christian Lindner künftig ihre Wohnkosten pauschal und nicht nach tatsächlichen Kosten erstattet bekommen. „Dann können die Leistungsempfänger entscheiden, ob sie eine kleinere Wohnung beziehen und wie sie heizen“, sagte der Bundesfinanzminister der „Wirtschaftswoche“. „Ich glaube, dass wir hier Milliarden Euro einsparen können.“

Einsparmöglichkeiten sieht Lindner auch bei den Leistungen für Flüchtlinge aus der Ukraine. „Wir sollten für die aus der Ukraine Geflüchteten einen eigenen Rechtsstatus erwägen“, schlug er vor. Dieser solle die Leistungen für Asylbewerber mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten kombinieren, die für Bürgergeld-Empfänger gedacht sind. „Ukrainer müssen wegen des Krieges in ihrer Heimat nicht eigens ein Asylbewerberverfahren durchlaufen“, erläuterte Lindner. „Sie sollten aber auf der anderen Seite nicht gleich ein Bürgergeld erhalten, das auf ein sozioökonomisches Existenzminimum mit gesellschaftlicher Teilhabe auch ohne Arbeit ausgerichtet ist.“

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Wie die Bundesregierung mitteilte, sind keine Änderung beim Rechtsstatus der ukrainischen Flüchtlinge geplant. Dazu gebe es im Augenblick innerhalb der Bundesregierung keine übergeordneten Planungen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch in Berlin. Hebestreit erinnerte daran, dass der im vereinfachten Verfahren erlangte Aufenthaltsstatus der Ukrainer mit dem Bürgergeld zusammenhängt. Es habe seinerzeit gute Gründe gegeben, so zu verfahren, sagte er. Man habe das für Asylverfahren zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nicht überfordern wollen. Zudem habe über diesen Weg die Kasse des Bundes die Kosten übernommen. Während das Bürgergeld vom Bund gezahlt wird, gehen Asylbewerberleistungen auf Kosten der Länder.

Ukrainern wird Asylverfahren erspart

Tatsächlich erhalten ukrainische Kriegsflüchtlinge grundsätzlich EU-weit Schutz unter der „Massenzustrom-Richtlinie“, wie der Mediendienst Integration erläutert. Die EU-Richtline wurde erstmals Anfang März 2022 aktiviert. Bis März 2026 ist sie, Stand heute, verlängert. „Der Vorteil der europaweiten Regelung: Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine (…) bekommen automatisch einen Aufenthaltsstatus“, so der Mediendienst.

Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten in Deutschland Bürgergeld. Alleinstehende zum Beispiel 563 Euro pro Monat. Die Regelsätze sollen 2025 aufgrund einer Nullrunde unverändert bleiben. Hinzu kommen Hilfen für Miete und Heizung sowie Krankenversorgung. Das Arbeitsministerium betont, die Beträge sicherten das Existenzminimum in Deutschland.

Rund eine halbe Million erwerbsfähige Ukrainer

Asylbewerber, über deren Asylanträge noch nicht entschieden wurde, bekommen weniger: 460 Euro pro Monat nach Asylbewerberleistungsgesetz. Beratung durch das Jobcenter bekommen sie noch nicht.

Im Mai 2024 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rund 529.000 Ukrainer als „erwerbsfähig“ bei den Jobcentern gemeldet – und Bürgergeld-berechtigt. Viele sind noch in Jobcenter-Maßnahmen, Integrationskursen oder in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit, zum Beispiel Alleinerziehende mit Kindern ohne Kitaplatz. Zwei Drittel davon sind Frauen.

4.000 arbeitslose Ukrainer weniger

Nicht jeder, der Bürgergeld bekommt, könne auch einen Job annehmen, stellt der Mediendienst fest. Etwas mehr als ein Drittel der erwerbsfähigen Ukrainer habe im Mai 2024 für den Arbeitsmarkt zur Verfügung (37 Prozent) gestanden – etwa 4.000 weniger als noch im April.

Insgesamt ist die Zahl der Ausländer mit Bürgergeld in den vergangenen Jahren deutlich auf zuletzt 2,7 Millionen gestiegen – das sind rund 48 Prozent aller Empfänger. Hauptgrund für den Anstieg ist die Flüchtlingsbewegung nach Russlands Einmarsch in der Ukraine.

Zuletzt hatte BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht deswegen gesagt, der deutsche Sozialstaat werde bedroht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wertet (DGB) es hingegen als Erfolg, dass immer mehr Ukrainer in Jobs vermittelt werden.

Experten verteidigen „nachhaltige Strategie“

Seit Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 haben rund 1,2 Millionen Menschen von dort in Deutschland Schutz gefunden. Bei den Ukrainern liegt der Anteil der Bürgergeld-Beziehenden an der Bevölkerungsgruppe insgesamt bei derzeit knapp 65 Prozent – im Vergleich zu anderen Nationalitäten ein hoher Wert. Experten etwa des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) verteidigen dennoch die „nachhaltige Strategie“, die Menschen eher mit deutscher Sprache und Qualifizierung in den Arbeitsmarkt zu bringen als so schnell wie möglich.

Beim Bürgergeld könnten die Jobcenter Menschen arbeitsmarktpolitisch betreuen, erläutert etwa der IAB-Forschungsleiter Enzo Weber. Laut IAB gehen im laufenden Jahr pro Monat doppelt so viele Ukrainer aus der Arbeitslosigkeit in Jobs wie im Vorjahr. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte kürzlich den von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gestarteten „Job-Motor“ für Flüchtlinge in Deutschland als Erfolg gewertet: 266.000 Flüchtlinge aus der Ukraine seien derzeit mit Job in Deutschland.

Insgesamt beziehen rund ein Fünftel der etwa vier Millionen arbeitsfähigen Bürgergeld-Beziehenden ein eigenes Arbeitseinkommen. Ihr Gehalt ist so niedrig, dass sie es mit Staatshilfe aufstocken müssen.

Linke: Barrieren abbauen statt rechtem Populismus

Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Gruppe Die Linke, kritisiert Lindners Vorstoß scharf. „Es ist immer dieselbe Leier: Anstatt für Steuergerechtigkeit zu sorgen und Geld bei den Reichen zu holen, greift Bundesfinanzminister Lindner jene an, die ohnehin wenig haben. Sein jüngster Vorschlag: Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sollen kein Bürgergeld mehr enthalten, um Kosten zu sparen und die Betroffenen in prekäre Jobs zu zwingen. Das ist schäbig, aber gemessen an der immer rechter werdenden Politik der Ampel nicht überraschend“, erklärt Bünger.

Dass viele Geflüchtete aus der Ukraine momentan noch nicht erwerbstätig sind, habe Gründe. Vielerorts fehlten Kinderbetreuungsangebote, die Betroffenen stießen auf Hürden bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse oder sie müssten auf einen Platz im Sprachkurs warten. „Das weiß auch die Bundesregierung und bemüht sich darum, diese Barrieren abzubauen, wie sie mir kürzlich in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mitteilte. Wenn der Bundesfinanzminister wider besseres Wissen suggeriert, Ukraine-Geflüchtete seien faul und würden sich auf den vermeintlich zu hohen Bürgergeldsätzen ausruhen, ist das rechter Populismus, nichts anderes.“, so die Linke-Politikerin.

Staat zahlt bei 2,7 Millionen Familien Unterkunft

Derzeit übernehmen die Kommunen beim Bürgergeld in bestimmten Grenzen die Kosten für Kaltmiete und Heizung sowie die Betriebskosten von Bürgergeld-Beziehenden und ihren Familien; dabei unterstützt sie der Bund. Von den 2,94 Millionen Bedarfsgemeinschaften, also in der Regel zusammenwohnende Familien, werden derzeit bei 2,73 Millionen Kosten der Unterkunft anerkannt – Kostenpunkt: 1,77 Milliarden Euro. Dazu kommen einmalige Kosten in Höhe von 43 Millionen Euro.

Pro Bedarfsgemeinschaft werden im Schnitt 649,96 Euro bezahlt, pro Quadratmeter im Schnitt 11,82 Euro, pro Person einer Bedarfsgemeinschaft 362,69 Euro. Die Statistik weist auch die Betriebs- und Heizkosten extra aus. Bei 2,68 Millionen Bedarfsgemeinschaften handelt es sich um Mietkosten, bei 46.000 um Wohneigentum. Die Durchschnittswohnfläche der Familien liegt bei 62 Quadratmetern. Pro Person sind es im Schnitt 35 Quadratmeter.

Was übernimmt der Staat?

Der Staat übernimmt bei Bürgergeld-Beziehenden die sogenannten tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, soweit sie angemessen sind. Auch Schönheitsreparaturen, Kabelgebühren oder beispielsweise ein vereinbartes Nutzungsentgelt etwa für Küchenmöbel werden übernommen, soweit diese unausweichlich im Mietvertrag vereinbart sind. Weitere Nebenkosten, zum Beispiel für einen Pkw-Stellplatz, werden nicht übernommen. Bei selbstgenutztem Wohneigentum werden Aufwendungen wie Schuldzinsen oder Grundsteuern übernommen.

Wie eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg erläuterte, sind die BA sowie Kreise und Städte für Bürgergeld-Leistungen verantwortlich, bei Unterkunft und Heizung die Kommunen. Sie regeln, was lokal angemessen ist. Die Jobcenter setzen das um. Die Mieten unterscheiden sich innerhalb Deutschlands erheblich. (dpa/epd/mig) Leitartikel Panorama

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