Waffen und Hilfsgelder
Humanitäre Lage in Nahost „apokalyptisch“ dramatisch
Der Kanzler hat Israel Waffen versprochen. Das schlägt sich nun in der Rüstungsexport-Statistik deutlich nieder. Derweil verschärft sich die humanitäre Situation in Palästina und Libanon. Welthungerhilfe spricht von „apokalyptischen Zuständen“.
Donnerstag, 24.10.2024, 17:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.10.2024, 17:09 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Die Bundesregierung weitet ihre Genehmigungen für Rüstungslieferung an Israel stärker aus als bisher bekannt. Allein seit August wurden nach Angaben des Auswärtigen Amts Ausfuhren von Rüstungsgütern im Wert von 94,05 Millionen Euro an das Land erlaubt, das mit der Hamas im Gazastreifen und der Hisbollah im Libanon im Krieg ist. Das ist mehr als doppelt so viel wie die 45,74 Millionen Euro, die das Wirtschaftsministerium noch vergangene Woche dem Wirtschaftsausschuss des Bundestags für das gesamte Jahr bis zum 13. Oktober gemeldet hat.
Die neue Zahl geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amts auf eine Anfrage der BSW-Abgeordneten Sevim Dağdelen hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Offen gelassen wird in der Antwort, ob unter den genehmigten Exporten auch Kriegswaffen sind.
Völkermord-Verfahren vor dem internationalen Gerichtshof
Die Exporte von Rüstungsgütern an Israel haben eine besondere Brisanz, weil dagegen eine Klage beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag anhängig ist. Das lateinamerikanische Land Nicaragua beschuldigt Deutschland wegen der Lieferungen der Beihilfe zum Völkermord und hat eine Klage bei dem Gericht eingereicht. Ende April wiesen die Richter einen Eilantrag zum Stopp der Rüstungsexporte zwar ab. Der Forderung Deutschlands, die Klage Nicaraguas ganz zurückzuweisen, entsprachen sie aber nicht. Das Hauptverfahren kann sich noch über Jahre hinziehen.
Einer aktuellen Umfrage zufolge ist auch eine deutliche Mehrheit der Deutschen gegen Waffenlieferungen an Israel. In einer Forsa-Befragung für das Magazin „Stern“, die am Dienstag veröffentlicht wurde, lehnten 60 Prozent die Rüstungsexporte nach Israel ab. Nur 31 Prozent waren dafür, 9 Prozent äußerten sich unentschlossen.
Baerbock differenziert wischen Kriegswaffen und Rüstungsgütern
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte vor undifferenziertem Schwarz-Weiß-Denken bei Rüstungsexporten an Israel. „Das ist kein Gegensatz, sondern das sind zwei Seiten der gleichen Medaille: Das Recht auf Selbstverteidigung im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht“, sagte sie am Rande einer Unterstützerkonferenz für den Libanon in Paris. Bei Exporten an Drittstaaten wie Israel werde jede Lieferung im Rahmen des humanitären, des europäischen und des internationalen Rechts geprüft. „Das tun wir auch hier.“
Auf eine Reporterfrage zu den Zahlen sagte Baerbock, es müsse zwischen Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern unterschieden werden. Die aktuelle Frage beziehe sich auf sonstige Rüstungsgüter, deren Genehmigung ebenfalls geprüft werde. Es gebe hier eine große Spannbreite, es gehe manchmal um Ersatzteile oder auch Zulieferteile. Deswegen gebe es immer wieder auch unterschiedliche Zahlen, „weil es auf die unterschiedlichen Rüstungsgüter an der Stelle ankommt“. Details zu den mitgeteilten Zahlen für Israel nannte Baerbock nicht.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hatte Anfang der Woche gegen die Waffenlieferungen protestiert. „Die Waffenlieferungen an Israel ermöglichen die Fortsetzung massiver Verbrechen gegen das wehrlose palästinensische Volk“, erklärte ihr Vertreter in Deutschland, Laith Arafeh. Die BSW-Politikerin Dağdelen nannte die Exporte „unverantwortlich“. „Die Ampel-Regierung leistet mit der Waffenhilfe an Israel Beihilfe für Kriegsverbrechen in Gaza und Libanon, statt dem Mehrheitswillen der Bevölkerung in Deutschland nach einem Waffenembargo Rechnung zu tragen“, sagte sie.
Libanon-Hilfskonferenz in Paris
Bei der Hilfskonferenz für den Libanon geht es am Donnerstag in Paris um Unterstützung für die notleidende Bevölkerung im Libanon gehen. Deutschland stellt dem vom Krieg und einer schweren Wirtschaftskrise erschütterten Land weitere 60 Millionen Euro an humanitärer Hilfe zur Verfügung. Der Schlüssel zum Frieden liege in der vollen Umsetzung der UN-Resolution, sagte Baerbock in Beirut. Dabei komme auch Libanons Streitkräften eine wichtige Rolle zu. Bei der Libanon-Konferenz wolle sie „ausloten, wie wir auf diesem schwierigen Weg vorankommen können und zugleich dazu beitragen, das humanitäre Leid zu lindern“. An der Konferenz sollen auf Ministerebene Partnerstaaten des Libanon, die UN, die Europäische Union sowie internationale, regionale und zivilgesellschaftliche Organisationen teilnehmen.
Zuvor hatte es Berichte über eine mögliche dauerhafte Besetzung des nördlichen Gazastreifens durch Israel gegeben. Israelische Menschenrechtsgruppen hatten vergangene Woche gewarnt, es gebe Anzeichen dafür, dass das Militär im Stillen beginne, den sogenannten „Plan der Generäle“ oder Eiland-Plan umzusetzen. Der Plan sehe eine Zwangsumsiedlung der Zivilbevölkerung durch eine Verschärfung der Belagerung des nördlichen Gazastreifens und die Aushungerung der Bevölkerung vor.
Guterres spricht von israelischer Belagerung
UN-Generalsekretär António Guterres beklagte im Vorfeld der Pariser Konferenz auf der Plattform X, den Menschen, „die unter der andauernden israelischen Belagerung im nördlichen Gazastreifen leiden“, gingen rapide die Mittel zum Überleben aus. „Die Zivilbevölkerung muss geschützt werden und muss humanitäre Hilfe erhalten können. Das gebietet das humanitäre Völkerrecht“, schrieb Guterres. Im Falle von Menschenrechtsverletzungen im nördlichen Gaza legte ein ranghoher ehemaliger israelischer Sicherheitsberater den dort eingesetzten Soldaten Befehlsverweigerung nahe. Eran Etzion warnte in einem BBC-Interview, das israelische Militär begehe im nördlichen Gazastreifen möglicherweise Kriegsverbrechen.
Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen gleicht nach Worten der Welthungerhilfe nach mehr als einem Jahr Krieg einer „Apokalypse“. Trotz des Hungers und der Not der Menschen gelangten weiter zu wenig Hilfsgüter in den Küstenstreifen. „So eine massive Zerstörung und Verzweiflung der Menschen haben unsere erfahrenen Kollegen (…) in keinem anderen Krisengebiet der Welt erlebt“, betonte der Vorstandsvorsitzende der Hilfsorganisation, Mathias Mogge. Die Menschen lebten in Zeltlagern auf dem beschränkten Platz zwischen Meer und komplett zerstörten Gebäuden, während Drohnen über das Gebiet flögen und es ständig Luftangriffe und Schüsse gebe. „Es herrschen apokalyptische Zustände“, schrieb Mogge.
EU schmiedet Notfallplan gegen Geflüchtete
Auch im Libanon verschlimmert sich die humanitäre Lage nach Einschätzung der Vereinten Nationen durch die jüngsten Angriffe Israels dramatisch. Im Süden des Landes zerstörte Israels Armee laut libanesischen Sicherheitskreisen mehrere Orte fast komplett. Wohngebiete in Vororten von Beirut liegen Augenzeugen zufolge in Schutt und Asche. In den Vororten griffen Kampfflugzeuge in den Abendstunden erneut mindestens zehnmal an, wie eine Reporterin der Deutschen Presse-Agentur vor Ort schilderte. Der libanesischen Nachrichtenagentur NNA zufolge wurde in der Umgebung von Lailaki eine Wohnhausanlage zerstört. Auch das Gebiet Al-Dschanah nahe dem internationalen Flughafen sei getroffen.
Die Europäische Union blickt derweil gebannt auf das Geschehen in der Region. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen befürchtet zusätzliche Fluchtbewegungen Richtung Europa. In den vergangenen Wochen seien mehr als eine Million Menschen vertrieben worden und es bestehe ein klares Potenzial für weitere Vertreibungen, schrieb die deutsche Spitzenpolitikerin in einem Bericht im Vorfeld von EU-Beratungen der Mitte Oktober. Man müsse deswegen an Notfallplänen sowohl für die EU als auch für internationale Partner arbeiten.
Menschenrechtler verurteilen Angriffe auf Hisbollah-Bank
Israels Armee bombardierte im Libanon nach eigenen Angaben Zweigstellen der Vereinigung Al-Kard al-Hassan, eine Art Bank der Hisbollah. Bei den Angriffen handelt es sich der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zufolge um Kriegsverbrechen. „Dass eine bewaffnete Gruppe eine finanzielle Institution, Vereinigung oder Bank nutzt, bedeutet noch keinen wirksamen Beitrag zu militärischen Handlungen“, teilte die HRW mit. „Deshalb ist es kein rechtmäßiges militärisches Ziel im Rahmen des Kriegsrechts“, hieß es.
Der aktuelle Krieg begann vor einem Jahr mit Raketenangriffen der Hisbollah auf Israel – nach eigener Darstellung zur Unterstützung der Hamas, gegen die Israel im Gazastreifen seit dem Hamas-Terrorangriff in Israel am 7. Oktober 2023 Krieg führt. Seitdem beschießen sich Israel und die Hisbollah im Grenzgebiet. Im September weitete Israel seine Angriffe im Libanon – aus der Luft und dann auch am Boden – massiv aus. Mehr als 2.500 Menschen wurden getötet, Tausende verletzt und Hunderttausende vertrieben, die meisten davon im Libanon. (dpa/mig) Aktuell Politik
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