Brandmuster
Motiv unklar?
In Buchholz stirbt ein Geflüchteter in einem Brand, den er selbst gelegt hat. Ein Polizeibeamter erleidet schwere Verbrennungen. Das Motiv für den Brand ist unklar. Stimmt das?
Von Joel Schülin Dienstag, 29.10.2024, 10:13 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.10.2024, 9:28 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Kritik an Polizeiuniform nach Brand in Flüchtlingsunterkunft“ betitelt der NDR einen Artikel vom Juli 2024. Ein Bewohner der Containerunterkunft für Geflüchtete in Buchholz in der Nordheide legt ein Feuer in seinem Zimmer und stirbt in den Flammen, 22 weitere Personen werden verletzt – ein Polizeibeamter wird durch das Feuer lebensgefährlich verletzt und kommt auf die Intensivstation.
Es ist die Kunstfaser in der Uniform, die in Brandfällen eine Gefahrenquelle birgt. Aber was ist eigentlich mit dem namenlosen Bewohner der Unterkunft? Er erstickt in dem Feuer, das er scheinbar selbst gelegt hat. Der NDR erklärt, dass das Motiv des Bewohners unklar sei. Der Fall scheint abgeschlossen. Ein Warum bleibt aus. Die Konturen des Falls verschwimmen in der Debatte um die Sicherheit von Polizeiuniformen.
Warum findet der Fall eigentlich keine Beachtung? Immer wieder kommt es zu Brandstiftungen durch Bewohnende von Geflüchtetenunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE). Sobald jedoch ausgeschlossen werden kann, dass die Tat von rechts kam, wenden sich die Blicke vom Thema ab. Hauptsache, man muss sich in Deutschland nicht schon wieder für den totgeglaubten Rechtsterrorismus erklären.
„Schauen wir uns Fälle von Brandstiftung von Innen an, wird deutlich, dass das Thema weitaus politischer ist als angenommen.“
Schauen wir uns Fälle von Brandstiftung von Innen an, wird deutlich, dass das Thema erstens weitaus politischer ist als angenommen und zweitens nicht ohne die Unterbringungspolitik von Geflüchteten zu verstehen ist. Nehmen wir zwei Brandmotive, um Buchholz neu zu kontextualisieren.
Vorsätzliche Brandstiftung scheint zum einen ein Mittel gegen die Unterbringung und Bürokratien zu sein, in denen sich Geflüchtete während des Asylprozesses und darüber hinaus befinden. Im Januar 2017 zum Beispiel zünden zwei Bewohner der kommunalen Unterkunft in Hövelhof-Staumühle ihre Matratzen an – der Anlass ist die Unzufriedenheit mit ihrer Unterbringungssituation.
Zum anderen kommt es immer wieder zu Brandlegungen von Geflüchteten mit psychischen Erkrankungen. Im Mai 2004 bspw. versucht ein libanesischer Mann sich das Leben zu nehmen, indem er in seinem Zimmer in der Münsteraner Geflüchtetenunterkunft ein Feuer legt. Vor Gericht gesteht er folgendes: „Ich wollte alles zerstören und auch selbst mitverbrennen.“
„Über Jahre werden Geflüchtete durch Intransparenz, stockende behördliche Prozesse und Gesetze ihrer Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit beraubt.“
Eine Studie beschreibt ausführlich die Unterversorgung therapeutischer Unterstützung von Menschen mit Fluchterfahrungen und die Suizidgefahr, die unter anderem daraus folgt. Grundlegend hierfür ist das Asylbewerberleistungsgesetz, das 1993 durch den damaligen Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer eingeführt wurde und de facto ein Zweiklassensystem für medizinische und psychologische Versorgung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Geflüchteten schafft.
Auch wenn das individuelle Motiv des Bewohners in Buchholz nicht im Detail bekannt ist, können wir dennoch über die strukturelle Dimension sprechen, in die der Brand eingebettet ist. Über Monate bis Jahre werden Geflüchtete durch bürokratische Intransparenz, stockende behördliche Prozesse und Gesetze ihrer Bewegungs-, Meinungs- und Entscheidungsfreiheit beraubt.
Dabei stellt das Kontinuum der Freiheitsberaubung keine Neuheit dar. Seit den 1980er Jahren gilt neben dem Arbeitsverbot auch die Residenzpflicht, die Geflüchtete dazu zwingt, in der Region zu leben, die ihnen zugewiesen wurde.
„Bei Erstaufnahmeeinrichtungen handelt es sich um Räume, die meist von räumlicher Isolation, fehlender Privatsphäre und repressiven Hausregeln geprägt sind.“
Um den Asylprozess zu ‚beschleunigen‘, sind Menschen im Asylprozess gezwungen, in ihnen zugewiesenen Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen. Während der Aufenthalt auf drei Monate begrenzt war, wurde 2015 die Maximaldauer auf 18 Monate angehoben. Für viele Menschen ist die Erstaufnahmeeinrichtung keine Übergangs-, sondern eine Endstation.
Bei Erstaufnahmeeinrichtungen, wie Hermsdorf oder Berlin-Tegel auf dramatische Art und Weise verdeutlichen, handelt es sich um Räume, die meist von räumlicher Isolation, fehlender Privatsphäre und repressiven Hausregeln geprägt sind. Weiterhin gibt es etliche Vorfälle von gewaltsamen Übergriffen von Security-Mitarbeitern gegenüber Bewohnenden von EAE’s.
Wird bestätigt, dass der Asylantrag von Deutschland bearbeitet werden kann, ist es möglich die EAE zu verlassen und in eine Geflüchtetenunterkunft oder Privatwohnung umzuziehen. Letztere Option bleibt jedoch oft Theorie, wie eine Studie von Juli 2023 belegt. In Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt leben 25 Prozent der Personen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, immer noch in kommunalen Gemeinschaftsunterkünften.
Dabei ist der angespannte Wohnungsmarkt nur eine Seite der Medaille. Rassistische Diskriminierung bei der Wohnungssuche führt dazu, dass sich der Umzug in die eigenen vier Wände weiter verzögern kann.
„Brandstiftung kann als Form des direkten oder indirekten Protests gegen ein Migrationssystem verstehen, das Menschen prekarisiert, hierarchisiert und rassifiziert.“
Immobilisiert in Geflüchtetenlagern wirkt die fehlende Perspektive wie ein Brandbeschleuniger. Ein Brand von Innen sollte demnach nicht als blinder Zerstörungswille diskreditiert werden. Vielmehr kann man die Brandstiftung als Form des direkten oder indirekten Protests gegen ein Migrationssystem verstehen, das Menschen prekarisiert, hierarchisiert und rassifiziert.
Das Motiv für den Brand? Die strukturelle Vernachlässigung, Diskriminierung und fehlende Unterstützung von migrantisierten Personen im Asylprozess und darüber hinaus. Meinung
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