Flucht und „illegale“ Migration
35 Jahre Mauerfall: Dinge, die wir vergessen haben
Vieles vom 9. November 1989 ist im kollektiven Gedächtnis. Einiges aber haben nach dreieinhalb Jahrzehnten nicht mehr alle auf dem Schirm: Flucht, Aufnahmestopp, Grenzkontrollen, „illegale“ Migration und Einwanderung, die die Staatskasse belastet.
Von Verena Schmitt-Roschmann Donnerstag, 07.11.2024, 10:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 07.11.2024, 9:10 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Mauerfall am 9. November 1989: Das ist diese seltsame Pressekonferenz mit SED-Funktionär Günter Schabowski, der die Sensation in den letzten fünf Minuten vernuschelt. „DDR öffnet Grenzen“, geht kurz darauf als Eilmeldung um die Welt. Trabi-Kolonnen wälzen sich von Ost nach West, Menschen liegen sich jubelnd in den Armen, erklimmen die Mauer, tanzen am Brandenburger Tor. Wer dabei war, sieht diese Bilder seit 35 Jahren mit Gänsehaut. Auch alle anderen wissen: Da passierte etwas Großes.
Einiges aber ist nach einem halben Menschenleben in Vergessenheit geraten – oder von Anfang an unter den Tisch gefallen. Der November 1989 war nicht nur für die DDR ein Ausnahmezustand, als täglich Zehntausende demonstrierten und Tausende das Land verließen. Auch die Bundesrepublik geriet erheblich unter Druck und wurde von den Ereignissen überrumpelt. Einige Fakten, die den Rückblick lohnen.
Die „Flüchtlingswelle“ bringt auch die BRD an ihre Grenzen
Der 9. November beginnt im Westen mit der Forderung nach einem Aufnahmestopp für Übersiedler aus der DDR. Schätzungen zufolge haben 1989 schon 200.000 Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen. Die Reserven auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt seien erschöpft, meint Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg (SPD). Auch der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine (SPD) sieht im Westen berechtigten Protest gegen den Zustrom der Übersiedler.
In der DDR fehlen die Leute. Das Ministerium für Staatssicherheit gibt bekannt, in „Anbetracht dringender Erfordernisse“ müssten 385 Stasi-Mitarbeiter in die Produktion, darunter Kraftfahrer, Monteure, aber auch 21 Ärzte. Aus Indien meldet sich Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh mit einem Lösungsansatz: Eine entvölkerte DDR könne Heimat für eine internationale Kommune seiner Anhänger werden, die dort ein Paradies erschaffen würden. „Alle verlassen das Land (die DDR) und wenn die derzeitige Situation anhält, wird es bald völlig leer sein. Doch meine Sannyasins (Jünger) können das Vakuum füllen“.
Die DDR hat Ärger mit ihrem Nachbarn
Da sich sehr viele DDR-Bürger über die Tschechoslowakei absetzen, droht Prag mit einer Schließung der Grenze zur DDR. Gerhard Lauter, Oberst der Volkspolizei und Chef des Pass- und Meldewesens, soll eine Regelung erarbeiten, die diesen Umweg verhindert. Wer die DDR auf Dauer verlassen will, soll die Ausreise direkt beantragen und organisieren können. Eine von Lauter geleitete Runde von Offizieren des Innenministeriums und der Staatssicherheit tagt dazu ab 9.00 Uhr. Angeblich eigenmächtig entwerfen sie zusätzlich eine viel weitreichendere Klausel: die neue Option für Privatreisen in den Westen.
Schabowskis Pressekonferenz: Die Öffnung ist erstmal nur behauptet
Es ist diese Reiseregelung, abgesegnet von Politbüro und Ministerrat, die Günter Schabowski kurz vor seiner Pressekonferenz um 18.00 Uhr erreicht. Der Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesen redet fast eine Stunde über anderes, bevor er auf Nachfrage die neue Regel publik macht. Eigentlich soll sie am nächsten Tag in Kraft treten, doch Schabowski sagt, das gelte „sofort, unverzüglich“. Es folgen die Eilmeldungen zur Grenzöffnung und reichlich Aufregung im Westfernsehen. Um 21.01 Uhr erheben sich im Bonner Bundestag die Abgeordneten und singen „Einigkeit und Recht und Freiheit“.
Nur: Die Grenze ist noch gar nicht offen. Am Berliner Übergang Bornholmer Straße ringt Oberstleutnant Harald Jäger nach Schabowskis Pressekonferenz stundenlang um eine Anweisung seiner Vorgesetzten. Inzwischen stehen Tausende vor dem Schlagbaum, die Menge ruft: „Tor auf, Tor auf.“ Erst um 23.30 Uhr entscheidet Jäger auf eigene Kappe: „Wir fluten jetzt.“
Sahra Wagenknecht trotzt der Revolution
Das SED-Zentralkomitee tagt bis 20.47 Uhr und bekommt von Schabowskis Äußerungen und der Lage an den Grenzen angeblich nichts mit. Parteichef Egon Krenz wird gegen 22.00 Uhr von Stasi-Chef Erich Mielke informiert. Bundeskanzler Helmut Kohl sitzt derweil während eines Staatsbesuchs in Polen in einem Bankett fest. Später sagt Kohl: „Es war einer der dramatischsten Augenblicke der jüngsten Geschichte, und das haben wir schon verspürt. Und gleichzeitig, und das haben wir auch sehr stark verspürt, waren wir sozusagen außerhalb, wir waren quasi auf einem anderen Stern.“
Kohls spätere Nachfolgerin Angela Merkel, damals 35, ist wie jeden Donnerstag in Ostberlin in der Sauna. Erst danach marschiert sie mit vielen anderen über die Bornholmer Brücke und trinkt ihr erstes Westbier. Sahra Wagenknecht, zu dem Zeitpunkt 20 Jahre alt und seit einem halben Jahr SED-Mitglied, trotzt im Osten der Euphoriewelle des historischen Moments. Der „Tageszeitung“ sagt sie 2010: „Da war ich in meiner Wohnung in Berlin und habe Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gelesen.“ Nach Westberlin sei sie erst 1990 gefahren, als sie ein Buch aus der Bibliothek benötigt habe.
Der ADAC ist im Dauereinsatz
Der 9. November 1989 ist ein Donnerstag – das Wochenende steht bevor und mit ihm ein Besucheransturm von Ost nach West. Vor dem Grenzübergang Helmstedt/Marienborn bildet sich eine 60 Kilometer lange Schlange von Trabis und Wartburgs. Weil viele Wagen liegen bleiben, ist der ADAC im Dauereinsatz. „Mal war es eine ganz banale Reifenpanne, mal waren es die Radlager, weil die Leute die Dinger auch überladen hatten“, erinnert sich Pannenhelfer Manfred Klein später im Gespräch. „Jeder wollte mit, nicht jeder hatte ein Auto. Dann haben die da fünf Mann in den Trabant reingepackt und sind rübergefahren.“ Allein nach Niedersachsen kommen an diesem ersten Wochenende mehr als 300.000 DDR-Bürger.
Das Begrüßungsgeld wird richtig teuer
Seit 1970 zahlt die Bundesregierung jedem Besucher aus der DDR ein Begrüßungsgeld – eine patriotische Geste für eine lange sehr überschaubare Zahl von Menschen. Im Herbst 1989 sind es 100 D-Mark. „Ein paar Tage nach der Maueröffnung haben sich bereits drei Millionen Menschen das Begrüßungsgeld auszahlen lassen, zum Jahresende fast jeder der über 16 Millionen DDR-Bürger“, heißt es in einem Rückblick der Hans-Böckler-Stiftung.
Binnen kürzester Zeit habe dies rund zwei Milliarden D-Mark verschlungen, resümiert die Bundesregierung. „Die neue Lage verlangt neue, geeignetere Regelungen.“ Das Begrüßungsgeld wird Ende Dezember abgeschafft.
Die Mauer ist weg
Die 155 Kilometer lange Berliner Mauer, begonnen am 13. August 1961 und später schwer gesichert, wird sofort von sogenannten Mauerspechten mit Hammer und Meißel attackiert. Systematisch abgetragen wird das Bollwerk aber erst zwischen Juni und November 1990. Einige wenige Mauerstücke bleiben in Berlin erhalten.
An der East Side Galerie am Ostbahnhof prangen bis heute aufwendige Kunstwerke auf dem Beton, inzwischen mehrfach saniert. Auf einem Mauerstück steht: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“ Ein Zitat des österreichischen Lyrikers Erich Fried. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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