Lebensfreude hinter Panzerglas
Wachsendes jüdisches Leben in Deutschland
Anti-Israel-Demos, antisemitische Anfeindungen auf der Straße: Nachrichten aus Berlin können derzeit auf Juden nur abschreckend wirken. Und doch entwickelt sich eine der am schnellsten wachsenden Gemeinden Deutschlands.
Von Jens Büttner Dienstag, 12.11.2024, 11:34 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.11.2024, 11:36 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Wir müssen das Narrativ ändern“, ruft Rabbiner Yehuda Teichtal mehr, als dass er ruhig zu seinem Gegenüber spricht. Es dürfe nicht nur über wachsenden Antisemitismus und Hass gegen Jüdinnen und Juden hierzulande geredet und geschimpft werden. Angesprochen werden müsse vielmehr das „wachsende und lebendige jüdische Leben“, appelliert Teichtal energiegeladen an seine Gesprächspartner. Natürlich gebe es viele Sorgen, „aber auch Grund für Zuversicht“.
Der gebürtige New Yorker steht dabei auf dem jüdischen Campus in Berlin-Wilmersdorf – einem Vorzeigeort für eine sich rasch entwickelnde jüdische Gemeinschaft in der deutschen Hauptstadt. Hinter dem orthodoxen Rabbiner liegen der neue Fußballplatz mit dem blauen Belag und die große, inzwischen aber dennoch zu kleine Synagoge. Vor Yehuda Teichtal steht der im Juni 2023 eingeweihte siebenstöckige Neubau mit Kita, Grundschule, Gymnasium, Sporthalle, Bibliothek, eigenem Kino, Jugendclub und Festsaal.
Wachsende jüdische Gemeinde
Vom Grundriss her ist der Neubau geformt wie ein zusammengekrümmter Embryo. Er soll das Leben in all seiner Vielfalt und Dynamik symbolisieren und zeigen, dass jüdisches Leben ein fester Bestandteil Berlins ist. Rund 8.000 Quadratmeter Innenfläche bietet der Campus. Rund 1.000 Menschen seien dort pro Woche, erzählt Rabbiner Teichtal stolz. Chabad Berlin im südwestlich gelegenen Stadtbezirk Wilmersdorf ist eine der am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinden Deutschlands.
Als der jüdische Kindergarten vor 20 Jahren seine Arbeit aufnahm, waren dort vier Kinder untergebracht. Heute sind es gut 150. Zusammen mit der Schule lernen dort 450 Mädchen und Jungen. Zahlen, die 1996 noch undenkbar schienen, als der heutige Mitfünfziger mit seiner Frau aus den USA nach Deutschland kam.
Deutsch, Hebräisch, Englisch und Russisch
Die Synagoge bietet 250 Menschen Platz, zu wenig inzwischen, vor allem an hohen jüdischen Feiertagen. 600 Plätze sollen es einmal werden, die Planungen für den Ausbau haben begonnen. Gerade erst war das Gotteshaus zu den jüdischen Feiertagen Jom Kippur und Rosch ha-Schana rappelvoll. An diesem Tag sitzen die Kinder von Klasse 3 der Grundschule in ihrem Klassenraum zusammen und schneiden aus Papier Pflanzen für Sukkot aus, das bevorstehende, siebentägige jüdische Laubhüttenfest.
Auf den Schulfluren herrscht ein fast schon babylonisches Sprachengewirr. Unterrichtet wird auf Deutsch und Hebräisch. Ein bisschen Englisch gehört natürlich auch dazu. Und allerorten ist Russisch zu vernehmen. Allein drei Willkommensklassen wurden für Kinder eingerichtet, die mit ihren Eltern vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflüchtet sind. Auch Waisenkinder wurden aufgenommen.
Koscheres Essen in der Mensa
„Mittlerweile haben wir Wartelisten für unsere Schule“, berichtet Heike Michalak. Seit inzwischen 19 Jahren sei die jüdische Einrichtung ein fester Bestandteil der Berliner Bildungslandschaft, sagt die Schulleiterin. Damals ging es mit einer altersgemischten Klasse für die Jahrgänge eins bis drei los. Inzwischen kann man an der Westfälischen Straße von der Grundschule bis zum Abitur lernen. Die Smartboards an den Wänden der Klassenräume zeugen von modernster Einrichtung und höchstem Standard – weit moderner als in vielen anderen Berliner Schulen.
In der Pause strömen die Kinder in die Mensa, wo koscher gekocht wird, eine der größten Herausforderungen in der Schulorganisation, wie die Schulleiterin einräumt. Es wird herumgetobt, gelacht, gesungen, so als wäre alles im Leben leicht und einfach. Dass es das nicht immer ist, verrät ein Blick auf die äußeren Begrenzungen des Chabad-Campus: hohe Zäune, Betonwände, schusssicheres Glas, Sicherheitsschleusen. Und doch fühlten sich alle Besucher sicher, selbst wenn sie aus kriegserfahrenen Ländern wie Israel oder der Ukraine kommen, berichtet Chabad-Sprecher Vadim Basin.
Chabad-Lubawitsch in 70 Ländern weltweit
Das Chemiekabinett im Campus trägt den Namen des in Leipzig geborenen jüdischen Chemikers Hans Finkelstein (1885-1938). Gestiftet wurde der Raum von der Bayer AG, die damit auch ihre eigenen Verstrickungen in der Nazizeit aufarbeiten will. Der erfolgreiche Chemiker Finkelstein war im Nazi-Reich trotz seiner bahnbrechenden Entdeckungen aus der I.G. Farben gedrängt worden und nahm sich später das Leben. An anderen Räumen in der Schule stehen die Namen von Privatpersonen als Spender, hinzu kam Geld von Bund und Land.
Die im späten 18. Jahrhundert begründete jüdische Gruppierung Chabad-Lubawitsch gibt es heute in 70 Ländern weltweit. In Berlin hat sie Synagogen und Mikwe zur Verfügung, es gibt ein koscheres Restaurant und die Bildungseinrichtungen. Und ganz in der Nähe zum Campus in Wilmersdorf hat – allerdings aus ganz und gar anderer Initiative heraus – jüngst das erste und einzige komplett koschere Hotel Deutschlands eröffnet. Zufall. Aber sehr bereichernd für jüdische Gäste aus der ganzen Welt, sagt Vadim Basin. (epd/mig) Aktuell Gesellschaft
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