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Prof. Dr. Tarik Tabbara, Wissenschaftler, Migration, Rassismus, Integration, Migazin
Prof. Dr. Tarik Tabbara © Maurice Weiss/Ostkreuz, bearb. MiGAZIN

Auftrag des Grundgesetzes

Menschenwürde in der Einwanderungsgesellschaft

Die Menschenwürde im Grundgesetz, der Olymp am Wertehimmel, hat in der Einwanderungsgesellschaft noch ein erhebliches Entwicklungspotenzial – in der Jurisprudenz, Politik und in der Gesellschaft.

Von Mittwoch, 27.11.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.11.2024, 12:01 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser erste Satz des Grundgesetzes ist ein Aufschrei. Ein Aufschrei gegen die moralische und zivilisatorische Bankrotterklärung nach 12 Jahren Nazi-Deutschland. Der Satz ist Auftrag und Anspruch des Staates aber auch der Gesellschaft, die Würde jedes und jeder einzelnen zu schützen. Dieser Anspruch bleibt bestehen, auch wenn er nicht immer erfüllt wird. Als normativer Stachel gegen das Vergessen wie auch die Selbstvergessenheit.

Das Grundgesetz ist generell kein Text nur für Juristen, keine bloße Juristenverfassung. Es ist ein Text für die ganze Gesellschaft, die ganze Bevölkerung. Für den Schutz der Menschenwürde gilt das ganz besonders. Schon in den frühen Jahren der Bonner Republik stand die Menschenwürde im Zentrum gesellschaftspolitischer Debatten. Unter dem Schlagwort „Menschenwürdige Gesellschaft“ wurden zum Beispiel gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen der großen Kirchen und Parteien diskutiert.

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Die Menschenwürde aller Menschen zu wahren und zu schützen ist aber nicht nur in der der alten Bonner Bundesrepublik, sondern erst recht im wiedervereinten Deutschland ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, der gesellschaftlichen Selbstverständigung, die nie abgeschlossen ist. Und dass heute zu den gesellschaftlichen Vorstellungen über eine menschenwürdige Gesellschaft anders als vielleicht noch in der Bonner Republik selbstverständlich auch migrantische und postmigrantische Perspektiven gehören, sollte selbstverständlich sein.

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Die Menschenwürde, der Olymp am Wertehimmel

„Der Schutz der Menschenwürde ist weitestgehend unbestritten der höchste verfassungsrechtliche Wert. Gewissermaßen der Olymp am Wertehimmel.“

Wie steht es aber mit dem rechtlichen Schutz der Menschenwürde? Hier zeigt sich ein etwas differenziertes Bild: Einerseits ist Artikel 1 Abs. 1 des GG, also der Schutz der Menschenwürde, weitestgehend unbestritten der höchste verfassungsrechtliche Wert. Gewissermaßen der Olymp am Wertehimmel. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bedienen sich hier der sogenannten Objektformel: Die Würde von Menschen wird verletzt, wenn sie zum bloßen Objekt hoheitlichen Handelns herabgewürdigt werden. Wenn sie also einer Behandlung ausgesetzt werden, die ihre Subjektqualität infrage stellt.

Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine klassische juristische Definition, die sich einfach anwenden lässt. Im Alltag der Rechtswirklichkeit tritt der Schutz der Menschenwürde ohnehin eher etwas leise, indirekt auf. Was nicht heißen soll, dass sie nicht von ganz erheblicher Bedeutung ist. Aber es gibt eine gewisse Zurückhaltung, die Menschenwürde aufzurufen. Das hat auch ganz praktische Gründe: Anders als bei den Grundrechten wie z.B. Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, wo nach der Feststellung einer Beschränkung der Freiheit ein Abwägungsprozess einsetzt und gefragt wird, ob hinreichend gute Gründe für die Einschränkung vorliegen, steht in dem Moment, in dem festgestellt wird, dass die Menschenwürde berührt, also angetastet wird, auch schon das Urteil fest, nämlich dass ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt.

Die Menschenwürde entfaltet im Rechtsalltag ihre Wirkung wie bereits erwähnt eher indirekt, sie wirkt gewissermaßen im Hintergrund der Grundrechte. Ganz überwiegend wird nämlich davon ausgegangen, dass alle Grundrechte einen Menschenwürdekern besitzen. Dass also in jedem Grundrecht ein Aspekt, ein Anteil der Menschenwürde geschützt ist und dieser Menschenwürdekern darf nicht beschränkt, nicht angetastet werden. Auf dieser Grundlage hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel aus der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot einen Anspruch auf ein soziales Existenzminimum hergeleitet.

Menschwürde in der Einwanderungsgesellschaft

Welche Bedeutung hatte und hat aber der Schutz der Menschenwürde nun für die durch Einwanderung geprägte Gesellschaft? Hier ist meine thesenhafte Antwort: Der verfassungsrechtliche Schutz der Menschwürde hat in der Einwanderungsgesellschaft noch ein erhebliches Entwicklungs- und Entfaltungspotenzial. Anders ausgedrückt: Es gibt noch grundlegenden Nachholbedarf bei der durch die Menschenwürde angeleiteten grundrechtlichen Durchdringung und Durcharbeitung der durch Migration geprägten gesellschaftlichen Fragen. Während für manche Lebensbereiche zu Recht eine übermäßige Verrechtlichung beklagt wird, gilt das für Fragen, die im Zusammenhang mit der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte stehen, sicher nicht.

„Die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde hat im Zusammenhang mit Migration nur einen recht eingeschränkten Anwendungsbereich gefunden.“

Direkt hat die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde im Zusammenhang mit Migration nur einen recht eingeschränkten Anwendungsbereich gefunden. Am prominentesten noch beim Asylbewerberleistungsgesetz. Also den abgesenkten Sozialleistungen insbesondere für Asylbewerber:innen. Hier wurde vor Jahrzehnten schon der kritische Ausdruck von der „Menschenwürde mit Rabatt“ geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hat aber im Jahr 2012 klargestellt und dies 2022 wiederholt, dass die Menschenwürde nicht aus migrationspolitischen Gründen relativiert werden darf! Ein starker Satz! Leider enthalten die Entscheidungen an anderer Stelle Randunschärfen, die politischen Vorstößen zu anhaltenden und weiteren Kürzungen von Sozialleistungen für Geflüchtete zumindest eine gewisse Legitimation verschaffen, auch wenn freilich nur ganz geringe Einschränkungen tatsächlich nach der Rechtsprechung gerechtfertigt sind.

Der Schutz der Menschenwürde spielt auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur NPD eine gewisse Rolle. Und zwar im Zusammenhang mit der rassistischen Anti-Migrationspolitik der NPD. Einer ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“, wie sie die NPD vertritt, wird hier eine klare Absage erteilt. Und zwar mit Blick auf dem in der Menschwürde wurzelnden Achtungsanspruch des Einzelnen als Person, der sich in der – Zitat – „Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft“ ausdrückt.

Hiermit ist ein zentraler Gehalt des Menschenwürdeschutzes angesprochen: Der Schutz vor Diskriminierung. In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist weitgehend anerkannt, dass ein starker Zusammenhang zwischen dem Schutz der Menschenwürde und dem Schutz vor Diskriminierung in Art. 3 Abs. 3 GG besteht. In der Praxis, gerade auch der des Bundesverfassungsgerichts, hat sich das aber in Bezug auf Migration bisher kaum niedergeschlagen, um es vorsichtig zu formulieren.

Als das Bundesverfassungsgericht 1990 über zaghafte Vorstöße der Einführung eines Ausländerwahlrechts auf kommunaler Ebene zu entscheiden hatte, da befand es nicht nur die konkreten Gesetze für verfassungswidrig, sondern ging in der Begründung soweit, dass die Zulassung von Ausländer:innen zu Wahlen Deutschland in seiner staatsrechtlichen Existenz gefährden würde. Weil Wahlen an denen Ausländer:innen beteiligt wären, keine demokratische Legitimation vermitteln könnten und Deutschland als Staat auf das deutsche Staatsvolk existenziell angewiesen sei. Die Würde und Gleichberechtigung der Ausländer:innen erwähnten diese Entscheidungen übrigens mit keinem Wort. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht knapp zwei Jahrzehnte später, als es darum ging, der fortschreitenden Integration der EU Grenzen zu setzen, im Wahlrecht einen Menschenwürdekern gefunden, der vor „zu viel EU“ schützen soll. Auch wenn das erkennbar strategisch motiviert war, auffällig ist die Diskrepanz dennoch.

„Die Menschenwürde und die sie konkretisierenden Grundrechte müssen gesellschaftlich in Anspruch genommen.“

Es gibt noch weitere Beispiele, in denen sich zeigt, dass Menschenwürde und Grundrechte eine noch erheblich ausbaufähige Rolle spielen könnten auf dem schwierigen Weg von Ausländer:innen als bloß Gewaltunterworfenen zu Menschen mit dem Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe. Hier können weitere Themenfelder nur kurz benannt werden: 1) Der Einbürgerung fehlt bislang noch weitgehend eine grundrechtliche Grundlage, obwohl es nach wie vor das einzige Nadelöhr zum Wahlrecht ist. 2) Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Deutschen – und Jedermann-Grundrechten. Eine durchaus nicht nur theoretische Debatte, wie sich in letzter Zeit wieder rund um das Thema Versammlungsfreiheit zeigt, bei der es sich um ein sogenanntes Deutschengrundrecht handelt. 3) Auch beim Schutz vor rassistischer Diskriminierung zeigen sich erst in jüngster Zeit erste Ansätze die entsprechende Garantie im Grundgesetz vom verfehlten „Rasse“-Begriff und auf in der Praxis tragfähige antirassistische Füße zu stellen. Und auch bei den Kopftuchentscheidungen wurde bislang überwiegend unter dem Banner der staatlichen Neutralität der Homogenität der Vorzug vor einem positiven Bezug auf die neue Diversität dieses Landes gegeben.

Bemerkenswert ist, dass zum Beispiel der Schul-Gesetzgeber in Nordrhein-Westfalen den Schutz der Menschenwürde einseitig gegen die Religionsfreiheit gestellt hat, mit dem er das Kopftuchverbot unter anderem begründet hat (§ 57 Abs. 4 Schulgesetz NRW v. 13.6.2006). Dass die Glaubensfreiheit – auch von Amtsträger:innen – dagegen in enger Verbindung mit der Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte steht, wie es das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont hat, blieb dabei vom Gesetzgeber unerwähnt und im Ergebnis auch unberücksichtigt.

Das ist allerdings eine Tendenz, die auch in anderen Bereichen zu beobachten ist. So wird der Schutz der Menschenwürde neuerdings auch im Staatsangehörigkeitsgesetz (§ 10 Abs. 1 Satz 3) als Ausschlussgrund für Einbürgerungen aufgeführt. Auch wenn das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat ausdrücklich dazu verpflichtet die Menschenwürde zu schützen, bleibt zumindest ein etwas fader Beigeschmack, dass die Aktivierung dieser positiven Seite der Menschenwürde gerade im Zusammenhang mit migrationspolitischen Fragen und dann auch noch in einer repressiven Spielart erfolgt.

Verfassungswandel durch Inanspruchnahme

Es wäre aber verfehlt, die Defizite in der Verfassungspraxis allein dem Bundesverfassungsgericht oder der juristischen Zunft anzulasten. Die Menschenwürde und die sie konkretisierenden Grundrechte müssen gesellschaftlich in Anspruch genommen, mobilisiert und letztlich erstritten werden. Das jedenfalls wäre die Grundlage für einen Verfassungswandel im Zeichen der Migration. Einen Verfassungswandel, also eine Änderung des Grundgesetzes, ohne dass zwingend der Text geändert wird, der nachvollzieht und fördert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte von bloß Gewaltunterworfenen, also Objekten staatlichen Handelns, zu Menschen mit Anspruch auf volle gleichberechtigte Teilhabe in Staat und Gesellschaft werden.

Migrantische Stimmen für den Schutz der Menschenwürde und den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe sind zwar in den letzten 10-15 Jahren insbesondere in der Wissenschaft deutlich sichtbarer und vernehmbarer geworden. Hier gibt es aber insgesamt, also in der ganzen Gesellschaft, noch viel Luft nach oben.

Info: Dieser Text ist eine überarbeitete Version einer Keynote auf der Veranstaltung des Bundesverbandes Netzwerk der Migrant:innenorganisationen NeMO e.V. „Menschenwürde verteidigen, Demokratie stärken!“ am 22.11.24 in Berlin.

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