Gefahr unter der Oberfläche
Sarajewo – das Jerusalem des Balkans
Sarajewo ist bekannt für das Attentat von 1914, das zum Ersten Weltkrieg führte, für die Olympischen Winterspiele von 1984 und für den Bosnien-Krieg von 1992 bis 1995. Die Stadt ist aber auch eine Blaupause für das Miteinander der Religionen.
Donnerstag, 05.12.2024, 11:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.12.2024, 11:22 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Islam ist allgegenwärtig in Sarajewo: Muezzinrufe erschallen, die übergroße Mehrheit der 300.000 Einwohner sind Moslems. In der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina gibt es mehr als 200 Moscheen, darunter die imposante Gazi-Husrev-Beg-Moschee von 1530. Doch nur wenige hundert Meter weiter stehen die gewaltige katholische Kathedrale sowie die nicht minder große serbisch-orthodoxe Kirche – und zwischen Moschee und den beiden Kirchen die alte Synagoge und das jüdische Gemeindehaus. Polizei oder Absperrungen sucht man rund um die Synagoge – anders als in anderen Hauptstädten Europas – vergebens.
„Juden, Christen und Muslime leben hier seit Jahrhunderten gut zusammen“, sagt Senudin Jahic bei einem Besuch von Vertretern der Diakonie Württemberg dem „Evangelischen Pressedienst“. Nicht umsonst trage die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas auch den Beinamen „Jerusalem des Balkans“. Der 47-jährige Jahic ist Moslem, so wie rund 80 Prozent der Hauptstädter. Seit den 1990er Jahren engagiert sich der studierte Germanist und Dolmetscher für den Dialog der Religionen in Sarajewo. So gehörte er zu den Mitbegründern der Vereinigung für interreligiöse Friedensarbeit „Abraham“.
Das Verständnis schwindet
„Nach den Grauen des Bosnien-Krieges und dem Massaker von Srebrenica mit 8.000 Toten musste Vertrauen wieder wachsen“, sagt er. So starteten er und seine Mitstreiter Versöhnungsaktionen, indem etwa muslimische Jugendliche den Friedhof der serbisch-orthodoxen Gemeinde in der Stadt pflegten. Umgekehrt kümmerten sich Christen um Gräber von Muslimen.
Doch Jahic bereitet Sorgen, dass mehr und mehr junge Menschen ausschließlich innerhalb ihrer eigenen Volksgruppe verkehren – also Bosniaken unter ihresgleichen, Serben unter sich und Kroaten ebenso. „Dadurch schwindet das Verständnis für die jeweils andere Seite.“ Das sei in seiner Generation noch anders gewesen. So habe er während seiner Tätigkeit als Übersetzer für die Bundeswehr auch viel mit serbischen Kameraden zu tun gehabt, erzählt er. „Religiös und politisch tickten wir komplett unterschiedlich, aber wir konnten normal miteinander sprechen.“ Das gehe der jungen Generation zunehmend verloren.
Konflikte unter der Oberfläche
Das beobachtet auch Ingrid Halbritter. Die gebürtige Schwäbin lebt und arbeitet seit 25 Jahren in Bosnien-Herzegowina. Der von ihr gegründete Verein „Pharos“, der maßgeblich vom Diakonischen Werk in Württemberg unterstützt wird, kümmert sich in erster Linie um Angehörige der Roma-Minderheit. Halbritter liegt aber das gesamtgesellschaftliche Miteinander am Herzen. „Und das geht hier nicht ohne interreligiöse Kontakte“, sagt sie auf Anfrage. So hat sie vor mehr als zwei Jahrzehnten auch Senudin Jahic kennengelernt.
Jahic sieht die Gefahr eines wieder erstarkenden Nationalismus und erneuter ethnischer Konflikte in der Region. „Der Bosnien-Krieg wurde 1995 ja nicht beendet, er wurde lediglich abgebrochen“, sagt er. Viele Konflikte schwelten seitdem unter der Oberfläche weiter. Die Erinnerung an den Krieg ist in Sarajewo bis heute gegenwärtig. Einschusslöcher in Häusern zeugen von den Gefechten, mit rotem Harz ausgefüllte Einschlagspuren von Granaten auf Straßen und Wegen erinnern an die zahlreichen Todesopfer des Konflikts.
Von den Religionsgemeinschaften würde er sich mehr Einsatz für Versöhnung und gegenseitiges Verständnis wünschen, sagt Jahic: „Sie könnten befriedend wirken. Aber sie nutzen ihren Einfluss nicht. Dabei stünde genau das dem Jerusalem des Balkans gut zu Gesicht.“
Die bosnische Politikanalystin Ivana Maric bescheinigt dem Land, das möglichst bald der EU beitreten möchte, im Gespräch mit dem epd eine verbreitete Anfälligkeit für Korruption. Sie ziehe sich durch Medien, Wirtschaft und Politik. „Haben Menschen noch vor Jahren das Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, so tun sie es jetzt, weil sie nicht möchten, dass ihre Kinder mit dem Eindruck aufwachsen, Korruption sei etwas ganz Normales.“ (epd/mig) Aktuell Ausland
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