Sensible Kommunikation
Bündnis fordert Recht auf Dolmetscher im Gesundheitswesen
Anders, als viele Vorurteile nahelegen, nehmen Migranten Gesundheitsleistungen vergleichsweise seltener in Anspruch. Dieser Befund ist wissenschaftlich belegt. Oft liegt das an Sprachbarrieren. Ein Verbändebündnis fordert ein Recht auf Sprachmittlung. Lokale Projekte dazu gibt es schon.
Von Nils Sandrisser Sonntag, 12.01.2025, 14:32 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.01.2025, 14:32 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Manchmal reicht eine einfache Übersetzung von Worten nicht aus. Nazila Afshar wurde das klar, als sie in einer Arztpraxis im hessischen Vogelsbergkreis saß, und für eine erkrankte Frau dolmetschen musste. „Sie hatte Nierenprobleme“, berichtet Afshar. „Der Arzt hat eine Behandlung vorgeschlagen, aber dabei so viele Fachwörter benutzt, dass ich erst nachfragen musste, was sie bedeuten.“ Dann erst habe sie der Klientin nicht nur übersetzen, sondern die vorgeschlagene Therapie auch erklären können.
Afshar übersetzt regelmäßig für das Projekt „Sprachmittler“ des Vogelsbergkreises aus dem Deutschen ins Persische und umgekehrt. Bei dem Projekt werden speziell geschulte Dolmetscherinnen und Dolmetscher eingesetzt. Nicht nur, aber auch im Gesundheitswesen.
Laut Zuwanderungsgesetz stehen Neuankömmlingen 600 Stunden Sprachkurs und 100 Stunden Orientierungskurs zu. Danach können sich die meisten Migranten im Alltag zurechtfinden. Aber mit dem sprachlichen Verstehen kann es schnell vorbei sein, wenn sie im Klinikflur stehen, eine Entscheidung treffen müssen, und ein Arzt ihnen etwas von „Niereninsuffizienz“ und „Dialyse“ erzählt.
Keine ausreichende Aufklärung bei Sprachproblemen
Eine Untersuchung der Universität Hamburg aus dem Jahr 2017 beispielsweise geht von fünf Prozent an Patientinnen und Patienten in Berlin aus, mit denen keine oder kaum Verständigung möglich ist. Schätzungsweise 34.000 Behandlungen und Operationen werden demzufolge in der Hauptstadt jährlich vorgenommen, ohne dass über die Eingriffe ausreichend aufgeklärt wurde. Oft behelfen sich migrantische Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen mit dem, was gerade verfügbar ist. Mitunter spricht eine Ärztin oder eine Pflegerin die Sprache des Patienten. Oder dessen Angehörige sind des Deutschen mächtig.
Hintergrund: Migranten und das Gesundheitssystem
Altersstruktur
Migranten sind durchschnittlich jünger als die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Das Alter hängt in hohem Maß mit der Zahl der Kontakte zum Gesundheitssystem und den dadurch verursachten Kosten zusammen. Die Altersgruppe jenseits der 65 beispielsweise weist in Deutschland laut Zahlen des Statistischen Bundesamts doppelt so viele Krankenhausaufenthalte auf wie die Alterskohorte zwischen 45 und 65. Die Krankenhauskosten der 65- bis 84-Jährigen sind doppelt so hoch wie jene des Bevölkerungsdurchschnitts.
Lebensweise
Hierzulande verbreitete Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes sowie deren Spätfolgen wie Herzinfarkt und Schlaganfall sind die Folgen eines westlichen Lebensstils. Die vorrangigen Risikofaktoren dieses Lebensstils sind Bewegungsmangel,
Über- und Fehlernährung, Nikotin- sowie Alkoholkonsum. Diese Risikofaktoren sind in vielen Herkunftsländern von Migranten nicht so stark verbreitet wie in der westlichen Welt. Selbst wenn Migranten hier diesen Lebensstil übernehmen, dauert es einige Jahre bis Jahrzehnte, bis sie an dessen Folgen erkranken, wie Zahlen des Robert Koch-Instituts belegen.
Gesundheit und Migration
Der Gesundheitszustand bestimmt mit, wer migriert. In der Regel machen sich nur gesunde Menschen auf den oft beschwerlichen Weg. Hier ankommende Migranten, das zeigen Studien aus Spanien oder Schweden, sind daher überdurchschnittlich gesund.
Barrieren
Selbst wenn sie krank sind, nehmen Migranten das Gesundheitssystem in Deutschland weniger häufig in Anspruch als die Durchschnittsbevölkerung, wie eine Auswertung mehrerer länderübergeifender Studien zeigt. Gründe hierfür sind Sprach- und kulturelle Barrieren, mitunter auch mangelndes Wissen über Krankheitssymptome und das Angebotsspektrum des Gesundheitswesens sowie Angst vor Kosten.
Eingeschränktes Angebot
Asylsuchende im Anerkennungsverfahren dürfen Gesundheitsleistungen gar nicht wie Einheimische in Anspruch nehmen. Sie werden laut Asylbewerberleistungsgesetz nur in Notfällen, bei Schmerzen oder während einer Schwangerschaft behandelt. Vor einer Behandlung müssen sie einen Behandlungsschein beantragen. Die zuständige staatliche Stelle legt den Umfang der Leistungen fest.
Eine Arzneimittelverordnung oder eine Krankenhauseinweisung muss sie erst genehmigen. Einige Bundesländer haben eine elektronische Gesundheitskarte, die den Behandlungsschein ersetzt. Erst nach 18 Monaten oder sobald sie einen Schutzstatus erhalten, bekommen Asylsuchende eine Krankenversicherung.
Seltener bei Fachärzten
Auch wenn Migranten Gesundheitsdienste insgesamt geringer in Anspruch nehmen als die Durchschnittsbevölkerung, zeigen Daten des sozio-ökonomischen Panels starke Unterschiede zwischen einzelnen Sektoren. Beispielsweise sind Migranten bei Fachärzten und bei Vorsorgeuntersuchungen besonders selten anzutreffen, in der Notfallversorgung und bei Psychotherapien sind sie hingegen überrepräsentiert.
Höhere Risiko
Für bestimmte Krankheiten haben Migranten ein höheres Risiko als die Durchschnittsbevölkerung, beispielsweise für einige Infektionen, bedingt durch einen im Schnitt schlechteren Impfschutz. Auch ihr durchschnittlich geringer Sozialstatus ist ein Risikofaktor für körperliche und seelische Erkrankungen. Geschätzt 20 Prozent aller Flüchtlinge leiden außerdem an Traumafolgen, etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
Professionelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind den Behelfslösungen in der Regel überlegen. Sie können medizinische Fachbegriffe erklären, und sie haben keine eigenen Interessen dabei. Viele Kliniken bieten auch bereits heute schon muttersprachliche Leistungen in Medizin und Pflege an. Aber einen Rechtsanspruch auf eine professionelle Übersetzung gibt es nicht.
Bündnis fordert Rechtsanspruch auf Übersetzung
Das will das „Bündnis für Sprachmittlung“ ändern, in dem auch die Diakonie Deutschland engagiert ist. Vor rund einem Jahr veröffentlichte es ein Forderungspapier dazu. Maike Grube von der Diakonie Deutschland sagt: „In der Schweiz sieht man, dass mit den 20 häufigsten Sprachen mehr als 90 Prozent aller Sprachmittlungseinsätze abgedeckt werden können.“
Das Papier fordert unter anderem, einen Rechtsanspruch auf Sprachmittlung im Sozialgesetzbuch V zu verankern für alle Gesundheitsleistungen, die im Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung stehen. Zudem sollten auch Asylsuchende nach Asylbewerberleistungsgesetz diesen Anspruch haben. Für das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz hatten SPD und Grüne im November einen Änderungsantrag eingebracht. Darin ist auch eine Sprachmittlung vorgesehen, allerdings nicht als Rechtsanspruch.
KI noch nicht einsatzfähig
Nicht immer können Dolmetscher vor Ort sein. Digitale Lösungen für Übersetzungen hat das Verbändebündnis daher mitbedacht. Nach den Worten Grubes sind das Zuschaltungen von Dolmetschern per Videokonferenz oder Telefon einerseits und maschinelle Übersetzungen durch eine Künstliche Intelligenz (KI) andererseits. „Hier werden Video und Telefon zentral sein“, prognostiziert die Expertin. Die KI werde zwar zusehends besser: „Aber im Gesundheitswesen geht es um sensible Kommunikation oder darum, Informationen in einen Kontext einzubetten und auch nonverbale Signale zu deuten. Das sind Dinge, bei denen die KI momentan noch nicht einsatzfähig ist.“
Schätzungen, wie viel eine flächendeckende Sprachmittlung kosten würde, gehen weit auseinander. Sie hängen davon ab, mit wie vielen Einsätzen von Dolmetschern pro Jahr man rechnet und wie hoch man deren Honorar ansetzt. Zwischen 12,5 und 255 Millionen Euro könnte das alles pro Jahr kosten. Aber: Studien aus den USA, der Schweiz und Großbritannien sehen durch die Sprachmittlung langfristig sinkende Gesundheitskosten. (epd/mig) Leitartikel Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Paradoxon Wie Deutschland Syrer zum Bleiben zwingt
- Inder verdienen mehr als Deutsche Lohn-Studie legt Gehälter von Migranten offen
- Diskriminierung Ohne deutschen Pass kein Zutritt? – Besucher kritisiert Club
- Fast drei Jahre Krieg Ukrainer in Deutschland sorgen sich um ihre Verwandten
- Dauerperspektive oder Ausreise? Habeck über Syrer: Wer nicht arbeitet, wird gehen müssen
- Söder will Asyl-Aus CSU verschärft Ton in der Migrationspolitik