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20. Todestag von Hatun Sürücü
Wie ein Mord zum Politikum wurde
Der Mord an Hatun Sürücü ist bis heute präsent. Wohl auch, weil nach wie vor Frauen ermordet werden. Teils geht es um patriarchale Strukturen, häufig um Eifersucht. Der Fall wurde der Politik aber auch zu einem Vorwand, das Aufenthaltsrecht zu verschärfen.
Donnerstag, 06.02.2025, 11:08 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 06.02.2025, 11:41 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Ihre Familie zwingt sie als Teenager in der Türkei zur Heirat mit ihrem Cousin. Wenig später wird die junge Deutsch-Kurdin schwanger und hält es nicht mehr aus. Zurück in Berlin ändert sie ihr Leben: Zieht den kleinen Sohn allein groß, macht eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin, hat deutsche Freunde – und legt das Kopftuch ab. Der Wandel zum westlichen Lebensstil passt der aus Ostanatolien stammenden kurdischen Familie nicht. Am 7. Februar 2005 wird Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle im Stadtteil Tempelhof erschossen.
An der Stelle erinnert ein Gedenkstein an die damals 23-Jährige. Jedes Jahr wird dort am 7. Februar ihrer gedacht, auch in diesem Jahr. „Hatun Sürücü war eine mutige junge Frau, die mit ihrem Leben dafür bezahlt hat, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte“, sagt der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD).
Debatte und Gesetzesverschärfungen
Der Fall löste bundesweit Entsetzen und eine über Jahre anhaltende und kontroverse Diskussion über Zwangsehen, sogenannte „Ehrenmorde“ und um patriarchale Strukturen in vermeintlich türkisch-muslimischen Einwandererfamilien aus. Für die Politik wurde der Mord zu einer Vorlage für weitreichende Verschärfungen im Aufenthaltsgesetz, beispielsweise für die Einführung von Sprachtests beim Familiennachzug im Jahr 2007.
Die Sprachanforderungen wurden mit dem Argument eingeführt, dass dadurch die Integration erleichtert und Zwangsehen verhindert werden könnten. Wer schon mit Deutschkenntnissen nach Deutschland komme, könne sich in Deutschland Hilfe holen und die Zwangsehe anzeigen, hieß es. Ob das Gesetz dieses Ziel erreichte – Zahlen sprechen eher dagegen –, wurde nicht evaluiert. Gemessen wurde aber ein anderer Effekt: Die Zahl der Familiennachzüge aus dem Ausland zu Ehegatten in Deutschland ging massiv zurück. Die Verschärfungen wurden begleitet von massiver Kritik, auch weil betroffenen Frauen kein Aufenthaltsschutz gewährt wurde.
In den folgenden Jahren gab es zahlreiche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu Lasten der Sprachtests. Mehrere europäische Länder hatten die deutsche Regelung kopiert. Mit kleineren Gesetzesanpassungen und juristischer Spitzfindigkeit hat Deutschland dafür gesorgt, dass die umstrittene Regelung bis heute gilt. Zwischenzeitlich gab ein Sprecher des Bundesinnenministeriums zu, dass der Sprachtest auch eine [migrations-]„politische Entscheidung“ ist und man daran festahlten werde. In Fachkreisen setzte sich zudem die Erkenntnis durch, dass der „Ehrenmord“ weniger einen religiösen Hintergrund hat, sondern überwiegend in von Kurden bewohnten Regionen Ost- und Südanatoliens Tradition ist – und bis nach Afghanistan verbreitet ist.
Zentrale Gedenkveranstaltung
Zum 20. Jahrestag der Ermordung von Sürücü ist eine zentrale Gedenkveranstaltung am früheren Flughafen Tempelhof unweit des Tatorts geplant. Damit wolle man auch „auf die fortwährende Dringlichkeit hinweisen, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen“, erklärt der Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg, Jörn Oltmann (Grüne).
Jüngere Fälle zeigen, dass weiterhin Frauen sterben, weil ihre Lebensweise verteufelt wird: Im Juni 2024 verurteilte das Landgericht Bremen einen 24-Jährigen, der seine Schwester erstach, wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Angeklagte habe gedacht, er müsse seine Schwester umbringen, um seine Ehre und die seiner Familie wiederherzustellen, so die Richterin.
In Berlin verurteilte das Landgericht vor rund zwei Jahren zwei Brüder jeweils zu lebenslanger Haft, weil sie ihre Schwester im Juli 2021 ermordeten. Opfer und Täter waren aus Afghanistan geflohen. Die Frau war als 16-Jährige zwangsverheiratet worden. In Deutschland trennte sich die zweifache Mutter von ihrem gewalttätigen Ehemann, verliebte sich und wollte ihr Leben nach eigenen Vorstellungen führen. „Dieses Recht, dieses Lebensrecht, haben sie ihr abgesprochen“, sagte der Vorsitzende Richter Thomas Groß.
Überführt wurden die Brüder auch mithilfe von Aufnahmen aus Überwachungskameras, auf denen sie einen ausgebeulten Koffer mit der Leiche ihre Schwester auf den belebten Bahnhof Berlin-Südkreuz ziehen. Der Fall löste erneut eine Debatte um den Begriff „Ehrenmord“ und Integration aus.
Umstrittener Begriff
Der Begriff „Ehrenmord“ ist umstritten, weil er ein ehrenhaftes Motiv suggeriert. Die Frauenrechtsorganisation Terres des Femmes verwendet ihn gleichwohl und beruft sich auf eine Definition des Bundeskriminalamtes (BKA), in der es heißt: „Ehrenmorde“ sind „vorsätzlich begangene versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen“.
Für das Jahr 2024 recherchierte Terre des Femmes nach vorläufigen Zahlen bundesweit sechs Opfer (vier Frauen, zwei Männer) versuchter oder vollzogener Morde vermeintlich im Namen der Ehre. 2023 gab es demnach bundesweit 19 solcher Taten (15 Mädchen oder Frauen). Begleitet werden Meldungen und Debatten über „Ehrenmorde“ oft mit Kritik, da sie an die Herkunft der Täter und der Opfer anknüpfe. Morde an Frauen in deutschen Familien hingegen würden oft als „Familiendrama“ bezeichnet, auch wenn sehr oft ähnliche Beweggründe vorlägen: Eifersucht und gekränkter Stolz.
Opfer von – oft tödlicher – Gewalt werden Frauen aufgrund ihres Geschlechts tatsächlich weit häufiger. Nach Zahlen der Bundesregierung wurden im Jahr 2023 in Deutschland 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Femiziden, 360 Frauen und Mädchen starben. Ein Femizid ist eine vorsätzliche Tötung, bei der das weibliche Geschlecht des Opfers als Motiv eine Rolle spielt.
Weltweit wurden 2023 nach Schätzungen der Vereinten Nationen 51.100 Mädchen und Frauen von Verwandten oder männlichen Partnern getötet. Laut UN-Fachleuten schlugen viele Opfer vor ihrem Tod wegen Gewalt in der Beziehung Alarm. „Dies legt nahe, dass viele Tötungen von Frauen vermeidbar sind“, schreiben sie in einer Studie. Kontaktverbote für männliche Partner könnten Leben retten, hieß es.
Tödliche Messerattacke trotz Kontaktverbot
Dass auch sie nicht immer nutzen, zeigt ein aktueller Fall: Ein 50-jähriger Libanese steht vor dem Landgericht Berlin, weil er seine Frau im August 2024 aus „massiver Eifersucht“ und „übersteigertem Besitzdenken“ erstochen haben soll. Die 36-Jährige hatte sich 2020 nach häuslicher Gewalt von ihm getrennt. Sie erwirkte über ein Gericht eine sogenannte Gewaltschutzverfügung und ein Annäherungsverbot, wohnte in einer geschützten Wohnung. Doch der Ex-Mann lauerte ihr auf und stach zu.
Sechs Femizide zählte die Berliner Staatsanwaltschaft 2024 in der Hauptstadt. Die Zahlen der Polizei liegen mit 29 Fällen deutlich darüber. Als Grund nennt Staatsanwaltschaftssprecher Sebastian Büchner unterschiedliche Kriterien bei der Einordnung. Die Definition der Justiz sei enger: „Nicht jedes Tötungsdelikt an Frauen ist tatsächlich auch vorurteilsgeleitet und basiert auf Gewalt des Partners oder Ex-Partners.“
Unabhängig von derartigen Einordnungen bleiben alarmierende Zahlen: Im Jahr 2023 gab es nach Daten des BKA 132.966 weibliche Opfer partnerschaftlicher Gewalt. Insgesamt verzeichnet die Statistik 167.865 Opfer – und damit einen Anstieg von 6,4 Prozent (2022: 157.818 Opfer).
Vieles bleibt jedoch – gerade im häuslichen Umfeld – im Dunkeln. Nach wie vor nutzen manche Eltern den Heimurlaub zur Zwangsverheiratung ihrer Kinder. Terre de Femmes geht gemeinsam mit der Polizei vor den Sommerferien in Schulen. Die „Weiße Woche“ – in Anlehnung an ein weißes Hochzeitskleid – soll Gelegenheit für Gespräche geben. Sie seien oft der einzige Anlaufpunkt für Betroffene, sagt die zuständige Referentin Myria Böhmecke.
Aufklärung gegen Zwangsehen
Bei einer bundesweiten anonymen Online-Befragung der Organisation im Jahr 2022 wurden laut Böhmecke knapp 1.850 Fälle von „angedrohten oder vollzogenen Früh- und Zwangsverheiratungen an deutschen Schulen“ genannt. Repräsentativ ist die Studie nicht. Beobachter kritisieren zudem, dass oft auch der Versuch, eine arrangierte Ehe anzubahnen, oft in die Statistik einfließe. In solchen Fällen würden Eltern ihren Töchtern und Söhnen lediglich Kandidaten für eine mögliche Ehe vorgeschlagen. Die Entscheidung verbleibe in solchen Fällen aber letztlich bei den Betroffenen selbst.
Die polizeiliche Statistik weist für das Jahr 2023 bundesweit 80 Fälle von Zwangsheirat aus. Das ist ein Höchststand seit 2013 – was auch mit einer zunehmenden Sensibilität zu tun haben kann. Seit 2011 sind Zwangsehen in Deutschland strafbar und es gibt bundesweit Projekte zur Aufklärung.
Die Geschichte von Sürücü ist weiter präsent – auch, weil sie juristisch immer wieder für Schlagzeilen sorgte: Ihr Mörder wurde 2006 vom Landgericht Berlin im Alter von 20 Jahren zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt, zwei mitangeklagte Brüder wurden wegen fehlender Beweise freigesprochen. Sie setzten sich in die Türkei ab, bevor es in Deutschland zu einem neuen Prozess kam – und wurden 2017 von einem Gericht in Istanbul freigesprochen, weil ihnen eine Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden konnte.
An das Schicksal der 23-Jährigen erinnert der Kinofilm „Nur eine Frau“ (2019) mit der Deutsch-Türkin Almila Bagrıaçık in der Hauptrolle. Produziert wurde er von Moderatorin Sandra Maischberger. Sie betonte bei einer Diskussion anlässlich des Todestages: „Wir müssen alle Gewalttaten an Frauen – auch im Namen einer vermeintlichen Familienehre – thematisieren, denn Menschenrechte und Menschenwürde sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau stehen über allem.“ (dpa/mig) Aktuell Panorama
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