Bundespräsident Christian Wulff
Christentum, Judentum und der Islam gehören zu Deutschland
Christentum, Judentum und der Islam gehören zu Deutschland, lautete die Botschaft von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit. MiGAZIN dokumentiert Auszüge:
Von GastautorIn Montag, 04.10.2010, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 08.10.2010, 5:18 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Seit 20 Jahren sind wir wieder „Deutschland, einig Vaterland“. Doch was meint „einig Vaterland“? Was hält uns zusammen? Sind wir zusammengewachsen, trotz aller Unterschiede? […]
Unser Land ist offener geworden, der Welt zugewandter. Vielfältiger – und unterschiedlicher. Alltag und Lebensentwürfe haben sich gewandelt. Die Gründe kennen wir: weltweiter Wettbewerb, globale Handelswege, neue Technologien, grenzenlose Kommunikation, Zuzug von Einwanderern, demographischer Wandel und – ja, auch das, neue Bedrohungen von außen. Lebenswelten driften auseinander: die von Alten und Jungen; Spitzenverdienern und denen, die vom Existenzminimum leben; von Menschen mit und ohne sicherem Arbeitsverhältnis; von Volk und Volksvertretern; von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Glaubensbekenntnisse.
Manche Unterschiede lösen Ängste aus, leugnen dürfen wir sie nicht. Doch trotzdem kann gar nicht oft genug gesagt werden: Ein freiheitliches Land wie unseres – es lebt von Vielfalt, es lebt von unterschiedlichen Lebensentwürfen, es lebt von Aufgeschlossenheit für neue Ideen. Sonst kann es nicht bestehen. Zu viel Gleichheit erstickt die eigene Anstrengung und ist nur um den Preis der Unfreiheit zu haben. Das Land muss Verschiedenheit aushalten. Es muss sie wollen. Aber: Zu große Unterschiede gefährden den Zusammenhalt. Daraus folgt für mich: Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schließen – das bewahrt vor Illusionen, das schafft echten Zusammenhalt. Das ist Aufgabe der „Deutschen Einheit“ – heute! […]
„Wir sind ein Volk“! Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht gegründet ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht haben. Mit einem so verstandenen „wir“ wird Zusammenhalt gelingen – zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass manche vergessen haben, dass auch ihre Vorfahren von auswärts kamen.
Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: „Sie sind unser Präsident“ – dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich Ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben.
Ich habe mich gefreut über den offenen Brief einer Gruppe von Schülern mit familiären Wurzeln in 70 verschiedenen Ländern. Sie alle sind Stipendiaten einer Stiftung, die engagierte Jugendliche unterstützt. Sie schreiben: „Für uns spielt keine Rolle, woher einer kommt, sondern vielmehr, wohin einer will. Wir glauben daran, dass wir gemeinsam unseren Weg finden werden. Wir wollen hier leben, denn wir sind Deutschland.“
Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland!
Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Und weil diese Menschen mit ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem ureigenen nationalen Interesse.
Die Zukunft gehört den Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem. Deutschland muss mit seinen Verbindungen in alle Welt offen sein gegenüber denen, die aus allen Teilen der Welt zu uns kommen. Deutschland braucht sie! Im Wettbewerb um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen und anziehend sein, damit die Besten bleiben. Meine eindringliche Bitte lautet: Lassen wir uns nicht in eine falsche Konfrontation treiben. Johannes Rau hat bereits vor zehn Jahren klug und nachdenklich an uns appelliert, „ohne Angst und ohne Träumereien“ gemeinsam in Deutschland zu leben.
Wir haben von drei Lebenslügen längst Abschied genommen. Wir haben erkannt, dass Gastarbeiter nicht nur vorübergehend kamen, sondern dauerhaft blieben. Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben. Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. Ich habe die vielen hundert Briefe und E-Mails gelesen, die mich zu diesem Thema erreichten. Mich beschäftigen die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger sehr.
Und dennoch, wir sind weiter, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt: Es ist Konsens, dass man Deutsch lernen muss, wenn man hier lebt. Es ist Konsens, dass in Deutschland deutsches Recht und Gesetz zu gelten haben. Für alle – wir sind ein Volk.
Es gibt Hunderttausende, die sich täglich für bessere Integration einsetzen. Viele – zum Beispiel als Integrationslotsen – freiwillig, uneigennützig und ehrenamtlich. Unsere Kommunen leisten Beträchtliches, wenn sich Politik und Bürger zusammentun. Alle sollen gemeinsam das Netz weben, das unsere Gesellschaft in aller Vielfalt und trotz aller Spannungen zusammenhält.
Auch wenn wir weiter sind, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt, sind wir ganz offenkundig nicht weit genug. Ja, wir haben Nachholbedarf, ich nenne nur als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse für die ganze Familie, mehr Unterrichtsangebote in den Muttersprachen, islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern. Und ja, wir brauchen viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten- etwa bei Schulschwänzern. Das gilt übrigens für alle, die in unserem Land leben.
Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung: Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem „West-östlichen Divan“ zum Ausdruck gebracht:
„Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“
Wie haben die Schüler gesagt? Wichtig ist, wohin einer will. Sie glauben daran, dass wir einen gemeinsamen Weg finden. Der gemeinsame Weg braucht Einigkeit über das gemeinsame Ziel.
Jetzt zur dritten Antwort auf unsere Ausgangsfrage. „Deutschland, einig Vaterland“ – zu Hause zu sein in diesem Land: das heißt, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen: Zuallererst die Würde eines jeden Menschen, die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben, zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.
Wir erwarten zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die Augen vor denjenigen, die unseren Gemeinsinn missbrauchen. „Unser Sozialstaat ist kein Selbstbedienungsladen ohne Gegenleistungsverpflichtung“, so schlicht und richtig hat es die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgedrückt. Und weiter: „Wenn die Menschen staatlich alimentiert werden, darf die Gemeinschaft erwarten, dass die Kinder wenigstens in die Schule geschickt werden, damit sie einen anderen Weg einschlagen und in ihrem späteren Leben auf eigenen Beinen stehen.“
Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner Kultur. Es gibt die Ärztin, den Deutschlehrer, den Taxifahrer, die Fernsehmoderatorin, den Gemüsehändler, den Fußballspieler, den Filmemacher, die Ministerin und viele weitere Beispiele gelungener Integration.
Wir können stolz sein auf unsere kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen. Vor allem auf das soziale Klima in unserem Land, auf Toleranz, Kompromissfähigkeit und Solidarität. Das hat uns auch in der Wirtschaftskrise geholfen. Gewerkschaften, Arbeitgeber, Beschäftigte – alle haben gezeigt: Die Kraft zum Ausgleich, zum Verhandeln, zu einfallsreichen Lösungen, die Kraft zum Zusammenhalt, die Kraft zum Konsens – das ist Deutschland.
Neuer Zusammenhalt in der Gesellschaft ist nur möglich, wenn sich kein Stärkerer entzieht und kein Schwächerer ausgegrenzt wird. Wenn jeder in Verantwortung genommen wird und jeder verantwortlich sein kann. […]
Wer sich zur Elite zählt, zu den Verantwortungs- und Entscheidungsträgern, und sich seinerseits in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschiedet – auch der wendet sich von dieser Gesellschaft ab. Leider haben wir genau dies erlebt. Niemand sollte vergessen, was er auch dem Zufall seiner Geburt und unserem Land zu verdanken hat – und er sollte es als seine Pflicht begreifen, unserem Gemeinwesen etwas zurückzugeben. […]
Wir sind – im doppelten Sinne des Wortes – zusammengewachsen und zusammen gewachsen.
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Mich erinnert das immer an die Figur des Strebers Konrad, der während der Schulstunde immer vom Lehrer gelobt wird und dann in den Pausen Klassenkeile kassiert.
Ich fand seine Rede ganz gut! Hat mich gefreut zuzuhören!!!
Er hat sich meiner Meinung nach wie ein Bundespräsident, der nicht von Parteienpolitik getrieben ist, benommen! Und das ist lobenswert. Jetzt wäre es schön wenn auf die Worte auch Taten folgen würden… wie auch immer diese aussehen.
Jetzt meckern sie wieder alle – vor allem die, die sich selber nur über die Computertastatur engagieren…..
Wulff war eigentlich nie ein Sympathieträger für mich, weder als Ministerpräsident noch als Bundespräsident aber die Rede find ich gut ,ohne Wenn und Aber. Es kann also noch was werden mit der Sympathie, will heißen, wenn er in dem Sinne seiner Rede seine politischen Möglichkeiten nutzt, ist er auch mein Bundespräsident.