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Zuzugsstopp?

Seehofers Zuwanderer gibt es nicht

CSU-Chef Horst Seehofer ist bemüht, seine Forderung nach einem Zuzugsstopp für Menschen aus anderen Kulturkreisen zu relativieren und tritt dabei in die Fußstapfen Thilo Sarrazins.

Dienstag, 12.10.2010, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.10.2010, 8:29 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Mit dem Strom rudert es sich einfacher. Das muss sich auch CSU-Chef Horst Seehofer gedacht haben, als er sich in einem Interview mit Focus am Wochenende für einen Zuzugsstopp für Menschen „aus anderen Kulturkreisen“ aussprach. In welchem Strom er zu rudern gedenkte, ließ er gestern in München durchschimmern. In Anlehnung auf Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin sagte er: „Jeder beurteilt ein Interview von mir, aber die wenigsten haben es gelesen.“ Es sei wohl eine Erscheinung der gegenwärtigen Zeit, dass Leute sagen: „Ich habe zwar das Buch nicht gelesen, aber ich kann es bewerten.“

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Sein Nachteil: Es sind nur wenige Seiten, die man sich – im Gegensatz zu Sarrazins Buch – antun muss, um mitreden zu dürfen. Im Interview holt sich Seehofer zunächst Schwung mit der Sarrazin-Debatte, nimmt Fahrt auf mit den Erfolgen der bayerischen Integrationspolitik und lässt sich schließlich vom Strom mitreißen: „Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen, vor allem aus der Türkei und arabischen Ländern, insgesamt schwerer tun.“ Auf die Frage, welche Schlüsse er daraus zieht, antwortete Seehofer: „Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.“ Anschließend verweist er auf den erwarteten Zuzug von Arbeitnehmern aus Osteuropa und kommt erst danach auf den Fachkräftemangel zu sprechen.

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Parteiübergreifend hagelte es Kritik – unmöglich, alle Stimmen und Meinungen aufzulisten. Selbst aus der Schwesternpartei CDU und dem Koalitionspartner FDP wurden teilweise deutliche Worte vernommen.

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Türkische Fachkräfte?
Sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht, wurde aus dem Bundeskanzleramt gestern mitgeteilt, wie Seehofers Interview denn zu verstehen sei. In einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel habe der Chef der CDU-Schwesternpartei klargestellt, dass er seine Aussagen ausschließlich auf das Thema Fachkräftemangel bezogen habe.

So leuchtet allerdings nicht ein, wieso, Seehofer explizit „Fachkräfte“ aus der Türkei und aus den arabischen Ländern aufführt. Ein hoch qualifizierter und sprachlich bewandter Türke oder Araber, der als Fachkraft nach Deutschland kommt, wird wohl kaum mehr oder weniger Integrationsprobleme aufweisen, als ein Zuwanderer aus jedem anderen Land. Dem Staat wird er mit einem Jahresgehalt von 66.000 Euro jedenfalls nicht der Tasche liegen. Das ist die Mindestgrenze, die ein Arbeiter beziehen muss, um als Fachkraft überhaupt einreisen zu können.

Trotz dieses Widerspruchs behauptete Seehofer gestern in München, dass er „ganz sachlich Fragestellungen für die Zukunft beschrieben“ und sich in sachlicher Form mit einigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen auseinandergesetzt habe. „Ich legte immer Wert darauf, dass wir über die Tatsachen reden“, so Seehofer.

Tatsachen und Fakten
Tatsache und Fakt ist aber eine Andere. In Deutschland gibt es seit zwei Jahren keine Ein-, sondern Auswanderung. Die Zahl der Auswanderer ist größer als die der Einwanderer. Auf Menschen aus der Türkei trifft das bereits seit vier Jahren zu. 2008 und 2009 betrug der Saldo sogar jeweils mehr als 10.000. Viele von Ihnen sind hoch qualifiziert und kehren Deutschland aus mangel an Chancen und wegen Benachteiligung am deutschen Arbeitsmarkt den Rücken.

Unter allen Zuzüglern liegen Polen (123.000) und Rumänen (56.000) weit vorn. Türken rangieren mit US-Amerikanern mit je 30.000 auf Platz drei. Aus den arabischen Ländern kamen im vorigen Jahr rund 20 000 Menschen nach Deutschland – mehr als 11 000 Kriegsflüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan waren darunter. Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf Zuwanderung insgesamt. Doch darum ging es Seehofer ja nicht; es ging ihm um Fachkräfte.

Im Jahr 2009 kamen einer Studie des Bundesamts für Migration zufolge insgesamt nur 26.400 Arbeitsmigranten. Davon kamen lediglich 1.053 aus der Türkei, von denen wiederum 68 % als „qualifiziert“ eingestuft wurden. Arbeitsmigranten aus den arabischen Ländern sind aufgrund der niedrigen Zahl nicht einmal aufgeschlüsselt.

Das sind die Fakten, die aufgeführt werden müssen, möchte man tatsächlich und sachlich über Fachkräftemangel reden. Der bloße Verweis auf Zuwanderer aus der Türkei und den arabischen Ländern hingegen erweckt eben doch den Eindruck, als rudere Seehofer im „braunen Fahrwasser“, wie es Sevim Dağdelen (Die Linke) formuliert.

Zuwanderung nach Qualifikation erforderlich
In einem Punkt hat Seehofer in seiner gestrigen „Richtigstellung“ allerdings recht. Er hat sich mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen auseinandergesetzt. Denn ohne Zuwanderung wird nach Angaben des Chefs der Bundesanstalt für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland in den kommenden vierzig Jahren um 18 Millionen auf 26 Millionen zurückgehen. Auf der anderen Seite wird die Zahl der Rentner steigen.

Daher spricht sich Weise für eine gesteuerte Zuwanderung aus. Im Gegensatz zu Seehofer nach Qualifikation und nicht nach Kulturkreis. Weise fragt aber auch: „Warum sollte jemand, der richtig gut qualifiziert ist, ausgerechnet zu uns kommen?“ Diese und Frage sollte man sich aufheben für ein Interview mit Seehofer. Wieso sollte sich ein Hochqualifizierter mit Seehofer in ein Boot setzen?

Perle im Misthaufen
Je größer die öffentliche Empörung, desto größer die Wahrscheinlichkeit für ein Zurückrudern. Als klar wurde, dass die nachträglichen Relativierungsversuche Seehofers und die Beschwichtigungsversuche aus dem Bundeskanzleramt aufgrund der vielen Fettnäpfchen nicht überzeugen, meldete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem bulgarischen Sofia zu Wort und ging auf Distanz zu Seehofer. Sie lehnte einen Zuwanderungsstopp klar ab und sagte: „Deutschland ist und bleibt ein weltoffenes Land. … Und ansonsten bleiben wir Heimat für viele Menschen und wir hoffen, dass sie sich in Deutschland wohlfühlen.“

Für den Grünen-Integrationsexperten Memet Kılıç genießt Seehofer von nun an Narrenfreiheit: „Ich glaube nicht, dass irgendjemand Horst Seehofer noch ernst nimmt”, sagte Kilic der taz. Es sei dennoch bedenklich, dass sich Unionspolitiker „zu häufig an den Umfragewerten anstatt an den eigenen Werten“ orientierten. Die Kanzlerin nahm Kilic davon aus. Merkel sei „eine Perle im Misthaufen”. Politik

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  1. delice sagt:

    Ein sehr guter Artikel!

  2. ElChefe sagt:

    Wenn von 30.000 türkischen Zuwanderern, gerade mal ~700 als qualifizierte Arbeitsmigranten gelten stellt sich mir die, berechtigte, Frage was in aller Welt die restlichen 29.300 hier wollen? Sich in der sozialen Hängematte ausruhen?

  3. Die Diskussion ist völlig verquer. Gesagt wird, es sei „nur“ die Fachkräfte-Anwerbung aus der Türkei und arabischen Ländern gemeint gewesen – ein bei Lichte betrachtet quantitativ marginales und qualitativ völlig unproblematisches Phänomen. Gleichzeitig sollte es in der breiten Öffentlichkeit jedoch so ankommen, als sei nicht Fachkräftezuwanderung gemeint, sondern der in der Tat sozial „abgehängte“ Teil der hier lebenden türkisch- und arabisch-stämmigen Bevölkerung. Wer einen politischen Vorstoß macht, muss sich selbstverständlich Gedanken über Umsetzungsoptionen machen. Seehofer musste also wissen, dass seine Forderung gleichbedeutend wäre mit noch radikalerer Einschränkung oder gar Aussetzung/Abschaffung des Rechts auf Familiennachzug. Der Sturm der Entrüstung in der türkisch-/arabisch-stämmigen Bevölkerung wäre immens gewesen, die Wähler/innen mit deutscher Staatsbürgerschaft hätten der Union wohl ein für allemal den Rücken zugewandt. Und das Bundesverfassungsgericht und/oder der Europäische Gerichtshof hätten solche Regelungen kassiert. – Fazit: es geht nicht um die Sache, sondern nur ums Wahlkampf-Kalkül (für Seehofer wohl eher noch um Positionierung innerhalb seiner eigenen Partei, um gegen Guttenberg zu punkten).
    Bemerkenswert scheint mir, dass Familiennachzug-Aspekte auch in der Medienberichterstattung nur ganz am Rande und nicht konsequent zu Ende gedacht benannt werden. Ob hier die Sorge mitspielt, es könnte sich eine ähnliche Zustimmungsrate für die Abschaffung von Ehegatten- und Kinder-Nachzug ergeben wie bei den Sarrazin-Thesen?

    Kai Diekelmann

  4. Selçuk sagt:

    Nein ElChefe. Wir haben in der Zwischenzeit die deutsche Sprache gelernt und sind in der Lage einen Text zu verstehen. In dem obigen Artikel steht geschrieben, dass aus der Türkei 30.000 Menschen eingewandert sind. Davon sind 1.053 Arbeitsmigranten, von denen wiederum 68 % als „qualifiziert“ eingestuft wurden. 68% sind also auf die Zahl der Arbeitsmigranten bezogen und geben keine Information darüber, wie qualifiziert oder unqualifiziert der Rest ist.

    Sie hätten also zunächst fragen müssen, welcher Anteil der restlichen Einwanderer aus der Türkei als qualifiziert eingestuft werden können. Wenn Sie dann eine Antwort bekommen, die Sie sich so sehr wünschen, ja dann steht nichts mehr für ein fröhliches Gemecker im Wege.

  5. ElChefe sagt:

    Lieber Selcuk,

    scheinbar gibt es mit dem Lesen noch die einen oder anderen Probleme. Ich habe keine Aussage über die (Nicht-)Qualifikation der „restlichen“ 29.000 Türken getroffen sondern lediglich festgestellt dass von 30.000 zugewanderten Türken gerade mal ~700 als qualifizierte Arbeitsmigranten gelten und weitere 300 als unqualifizierte Arbeitsmigranten. 29.000 sind also scheinbar nicht wegen einer Arbeitsstelle hier – sondern? Asyl müssen sie wohl auch kaum beantragen, es sei denn es würde sich um türkische Christen handeln – wovon ich aber nicht ausgehe.

    Vermutlich benötigen die hier lebenden Türken einfach weiteren Nachschub, damit die Quote von 93% der Eheschließungen zwischen 2 Türken in Deutschland aufrecht erhalten werden kann. Schließlich möchte man ja nicht unbedingt einen Partner, der die eigene Sprache nicht spricht, gell?

  6. delice sagt:

    Der moderne Rassismus hat jetzt auch ganz andere Facetten.

    Lesen Sie mehr aus dem spiegel-online:

    „Sie würden den Vorwurf weit von sich weisen, doch viele Deutsche haben ausländerfeindliche und chauvinistische Einstellungen. Eine alarmierende Rechtsextremismus-Studie macht klar: Die Radikalen in der Mitte der Gesellschaft sind zum Risiko für die Volksparteien geworden. …“

    Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,722789,00.html

    Gehören Sie nun auch zu den Verweigerern?

    Oder meinen Sie es nur gut mit uns?

  7. Pingback: Studie – Deutschland! Rechts um! Marsch-Marsch? | Migration und Integration in Deutschland | MiGAZIN

  8. Selçuk sagt:

    @ ElChefe
    Sie haben geschrieben: „… was in aller Welt die restlichen 29.300 hier wollen? Sich in der sozialen Hängematte ausruhen?“

    Mit der letzten Frage suggerieren Sie, dass die restlichen Einwanderer entweder unqualifiziert sind oder keine Lust zum Arbeiten haben und als Ergebnis sich in der sozialen Hängematte ausruhen.

    Mit dem Lesen und Verstehen gibt es keine Probleme mehr. Wie die Menschen Ihrer Position versuchen kläglich zu argumentieren, ist mittlerweile auch mehr als durchsichtig.

  9. ElChefe sagt:

    @Selcuk,

    dann veraten Sie mir doch den Grund wieso die 29.000 nicht als ARBEITSmigranten zählen.

    Desweiteren suggeriere ich nichts, ich halte mich an Fakten und Tatsachen. Auch Ihnen dürften die Statistiken bekannt sein, bei welchen ihre Landsleute regelmäßig die vorderen Plätze einnehmen. Allein, es sind keine Statistiken auf die man besonders stolz sein dürfte.

    Argumente haben Sie bisher überhaupt keine gebracht, von daher bin ich natürlich gespannt wie sie „unsere“ (wer auch immer Menschen meiner Position sein sollen – aber es ist typisch, sich dagegen wehren dass alle Migranten über einen Kamm geschert werden und selbst nur so mit Verallgemeinerungen um sich werfen. Sind Ihnen die Worte Heuchelei und Doppelmoral ein Begriff? Ansonsten empfehle ich ein Lexikon) klägliche Argumentation von ihnen auseinander genommen wird.

  10. Selçuk sagt:

    @ ElChefe

    Was für eine Rolle spielt es denn für Sie, dass die restlichen ~29.000 nicht zu Arbeitsimmigranten zählen? Sie brauchen nicht zu antworten, denn die Antwort steckt bereits in Ihrem ersten Kommentar.

    Ich zitiere Sie noch einmal: „Sich in der sozialen Hängematte ausruhen?“

    Ein Arbeitsimmigrant ist jemand, der in ein Land einwandert, um dort für (un)bestimmte Zeit zu arbeiten. Dieser wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit bzw. mit Sicherheit auf keine Sozialleistungen vom Staat angewiesen sein und ist deshalb kein Dorn im Auge.

    Sie halten sich bei dieser Diskussion an kein einziges Faktum. Sie stellen eine „Frage“ und sind dabei nicht mal in der Lage diese sachlich zu formulieren. Was nicht sachlich ist, habe ich für Sie mal hervorgehoben:

    „… die, berechtigte, Frage WAS IN ALLER WELT die restlichen …“
    „Sich in der SOZIALEN HÄNGEMATTE ausruhen?“
    „… es sei denn es würde sich um TÜRKISCHE CHRISTEN handeln …“
    „… damit die Quote von 93% der EHESCHLIESSUNGEN ZWISCHEN 2 TÜRKEN in Deutschland aufrecht erhalten …“
    „… möchte man ja nicht unbedingt einen Partner, der DIE EIGENE SPRACHE NICHT SPRICHT …“

    Wenn in Ihrer ursprünglichen Fragestellung ein Hauch von Sachlichkeit wäre, hätte ich auf Ihren Kommentar gar nicht geantwortet. Ich habe kein fundiertes Wissen im Bereich der Immigration, weshalb ich einfach die Klappe gehalten hätte. Wenn Sie in der Art und Weise eine Diskussion beginnen, wie Sie es hier gemacht haben, brauchen Sie sich über so eine Reaktion nicht zu wundern.

    Ich mache es Ihnen einfach mal vor und stelle (nicht an Sie) die folgenden Fragen:

    1. Wie ist es möglich, dass 32% der Arbeitsimmigranten nach Deutschland einwandern dürfen, wenn diese nicht als qualifiziert eingestuft werden können? Was genau ist in diesem Fall unter „nicht qualifiziert“ zu verstehen?
    2. Gibt es Erkenntnisse über die Integration der restlichen ~29.000 Einwanderer in das Arbeitsleben?