Wochenrückblick
KW 42/2010 – Muslimbashing, Angst der Kleinbürger, Parallelgesellschaft, westliche Werte
Die Themen der 42. Kalenderwoche: Antisemitismus damals, Muslimbashing heute; Angst der Kleinbürger; Parallelgesellschaften; Islam, westliche Werte und Normen
Von GastautorIn Montag, 25.10.2010, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.11.2010, 14:36 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Antisemitismus damals, Muslimbashing heute
Unter dem Titel „Die neuen Scharfmacher“ vergleicht Eberhard Seidel in der taz den Antisemitismus zu Zeiten des Kaiserreichs mit dem Muslim-Bashing von heute – und sieht Parallelen. „Die Juden sind unser Unglück!“ hieß es. Vertraut dürfte uns heute der Lösungsvorschlag sein. Seidel zitiert zunächst Golo Mann, der darüber ein Buch geschrieben hat:
„Zugleich mit der Judenemanzipation, der neuen bürgerlichen Angleichung im 19. Jahrhundert, erscheint der neue Antisemitismus. Aber er ist zunächst nicht das, was wir uns darunter vorstellen; er verlangt nicht Ausschließung, sondern völlige Angleichung und Bescheidenheit in der Angleichung; er verlangt Ausschließung nur derer, die sich nicht angleichen wollen.“
Seidel fährt fort:
Vollständige Assimilation einer religiösen Minderheit, das war die Forderung im Jahre 1879. 130 Jahre später geht es im Islamstreit um Ähnliches. Die Mehrheit der Bürger wünscht eine vollständige Assimilation der Muslime und ein Verschwinden des Islam aus öffentlichen Räumen. „Wer sich nicht bescheidet und anpasst, der soll gehen“ – diese verbreitete Haltung ignoriert, dass spätestens mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahr 2000 die Würfel gefallen sind. Millionen Muslime sind Deutsche, der Islam ist organischer Bestandteil der Republik. Dies zu leugnen, ist töricht. Dies ändern geht nur mit Gewalt. …
Die hysterischen Bezichtigungen, für die Namen wie Henryk M. Broder, Necla Kelek, Udo Ulfkotte und Thilo Sarrazin stehen, sind keine Diskurse der Befreiung und Emanzipation. Es sind Rüpeleien, Erzählungen des Verdachts und der Denunziation. Ihre Thesen stoßen in der Bevölkerung nicht wegen der Qualität der Texte und der Analyse auf Begeisterung, sondern weil sie ein tiefer sitzendes Bedürfnis vieler Deutscher befriedigen. Der Islamstreit erlaubt, all die rassistischen Emotionen ungehindert auszuleben, denen beim Antisemitismus und Rechtsextremismus inzwischen recht enge Grenzen gesetzt werden.
Soziales und ökonomisches Krisenmanagement auf Kosten von Minderheiten ist ein altes und bis heute bewährtes Mittel des Erwerbs und des Erhalts politischer Macht. Diesmal, so legen es die Umfragen und die Entwicklungen bei den jüngsten Wahlen in den westeuropäischen Nachbarländern nahe, übernehmen die Muslime die Rolle des Sündenbocks. Wenn die Annahme stimmt, dass dem offenen Ausbruch eines Konflikts eine Zeit der Entfremdung vorausgeht, in der das Misstrauen wächst, dann stehen den Muslimen turbulente und gefährliche Zeiten bevor.
Die Angst der Kleinbürger
Abstiegssorgen stecken hinter der wachsenden Nervosität der Kleinbürger.
In „Das Ende der Integration“ kommt Oliver Nachtwey nach einer Analyse der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu folgendem Schluss:
Deutschland fragt, ob es sich abschafft. Doch die aktuelle Debatte um Migration, Demografie und kulturelle Integration verdeckt, was tatsächlich verloren zu gehen droht: das Normalarbeitsverhältnis als Modell sozialer Integration. Noch ist prekäre Beschäftigung nicht der Normalfall. Aber sie bedroht den Gesellschaftsvertrag der frühen Bundesrepublik, weil sie die Erwerbsarbeit von sozialer Sicherheit und Integration löst. Die wirtschaftlichen Bürgerrechte haben an Geltung verloren. Die Mittelschicht plagen Abstiegssorgen, im sozialen Unten fühlt man sich abgehängt. Die hitzige Debatte um die Integration von Migranten spiegelt, wie groß die Sorge um die eigene soziale Integration bei vielen Bürgern ist. Das neue deutsche Wirtschaftswunder wird diese Sorgen nicht lindern, im Gegenteil.
Jens Berger (auf telepolis) sieht in seinem Artikel „Die Angst des Kleinbürgers vor dem Fremden“ die Möglichkeit einer politischen Brücke zur Linken:
Wem ist damit geholfen, wenn der Kleinbürger Angst vor dem Fremden hat? Modernisierungsverlierer sind eine komplexe Gesellschaftsschicht. Der konservative Kleinbürger hat auch erstaunlich große Schnittmengen mit der Linken, die auf ihre Art ebenfalls konservativ – im Sinne von „bewahrend“ – ist. Neoliberalismus und Kleinbürgertum vertragen sich nun einmal in keiner Weise. Neoliberale Politik richtet sich nicht nur gegen den Kleinbürger, sondern ist auch die eigentliche Bedrohung seines Status. Diese Bedrohung kommt allerdings auf weitaus leiseren Sohlen daher und wird weder von der Kanzel noch von der BILD als Bedrohung dargestellt.
Solange der Kleinbürger den – in vielen Fällen ebenfalls kleinbürgerlich konservativen – Türken als Bedrohung sieht und reale Bedrohungen wie den Neoliberalismus ausblendet, kann auch die Politik neoliberal durchregieren, ohne einen Rückgang der Wählerstimmen zu befürchten. Die Angst des Kleinbürgers vor dem Fremden ist somit letztlich nichts anderes als ein stetes Feuer, das immer wieder aufs Neue geschürt wird, um eine Politik durchzudrücken, die sich gegen die Interessen des Kleinbürgers richtet.
Parallelgesellschaften
Für Tanja Dückers ist das klar, und am Ende folgt daraus: „Parallelgesellschaften gibt es nicht nur unter Muslimen“ und rechnet Horst Seehofer dazu.
Wie irrational die Debatte verläuft, zeigt sich an ganz anderen Zahlen. So hat nach Meinung von Annette Schavan, immerhin Bildungsministerin einer konservativen Partei, Deutschland nicht zu viel, sondern zu wenig Ausländer: “Nicht Einwanderung muss uns aufregen, sondern Auswanderung aus Deutschland”, erklärte sie vor wenigen Tagen angesichts der Tatsache, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr Menschen aus Deutschland fortziehen statt einwandern. Nach Aussage der Wirtschaftsverbände fehlen heute schon rund 400.000 Fachkräfte. Es ist ein großes Versäumnis, dass erst jetzt zaghaft überlegt wird, im Ausland erlangte Abschlüsse in Deutschland mit einfacheren Verfahren anzuerkennen. Bisher sind viel zu viele gut ausgebildete ausländische Fachkräfte hierzulande Taxi gefahren oder Toiletten putzen gegangen. Bleibt es bei dem Mangel an Fachkräften, dann fehlen in wenigen Jahren Millionen Steuer- und Beitragszahler. Dann heißt es auch für Horst Seehofer: Rente gibt es erst mit 72. Bleibt abzuwarten, was Seehofer nach seiner Pensionierung machen wird – in jedem Fall dürfte er Mitglied einer kleinen, feinen Parallelgesellschaft bleiben: Der selbst ernannten Kultur- und Bildungselite dieses Landes.
Henryk M. Broder verwirrt seine Fans mit einer ähnlichen Erkenntnis: „Die Parallelgesellschaft, sie lebe hoch!“
Deutschland debattiert über Integration – aber warum sollen Einwanderer sich überhaupt an die Mehrheitsgesellschaft anpassen? Solange sie Recht und Gesetz achten, ist ihr Leben schlicht Privatsache. Und Parallelwelten können sogar nützlich für uns alle sein.
Als Beispiele nennt er Chinatowns etwa in den USA, oder die Einwanderungsgesellschaften in Israel.
Nur primitive Gesellschaften, die weder eine horizontale noch eine vertikale Differenzierung zulassen und Diktaturen, die alle Lebensbereiche kontrollieren, kennen keine Parallelgesellschaften. Weder im Dritten Reich noch in der DDR gab es Parallelgesellschaften, wenn man von den Enklaven absieht, in denen „innerer Widerstand“ oder Freikörperkultur praktiziert wurden. Überall dort, wo Gesellschaften nicht auf der Stelle treten, sondern beweglich sind, kommt es zwangsläufig zur Entstehung von Parallelgesellschaften. …
Nur in Deutschland tut man sich mit der Erkenntnis schwer, dass Parallelgesellschaften unvermeidlich, vielleicht sogar gut und nützlich sind. Sie geben ihren Angehörigen das Gefühl der Geborgenheit, der Überschaubarkeit, die ihnen große Einheiten nicht bieten können. Davon abgesehen: Parallelen treffen sich im Unendlichen, dort wo die Differenzen gegen Null tendieren.
Islam und westliche Werte und Normen
Den Unsinn der Woche liefert Aydin Findikci in der WELT, wo er begründet, „Warum das Kopftuch die Integration verhindert“:
Das Kopftuchtragen ist mittlerweile nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland eine Identifikation mit einer politisch und religiös geprägten Einstellung geworden, die die westlichen Normen und Wertvorstellungen (Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Rechtsstaatlichkeit, Mehrparteiensystem; parlamentarische Demokratie usw.) in Frage stellt.
In diesem Sinne haben Frauen kein Recht, sich als Teil eines Rechtsstaates zu betrachten, wenn sie das „Kopftuch“ wegen ihres „islamischen Gebots“ bzw. wegen ihrer „Religionspflicht“ tragen. Aus diesem Grund ist es absurd und naiv zu glauben, das Kopftuchtragen mit der Religionsfreiheit zu erklären.
Ob dies auch für Nonnen oder gläubige Juden mit Kipa gilt?
Findikcis Parteikollege Schäuble (in einem Interview mit BamS) steht auf der anderen Seite der Barrikade:
BamS: Während Ihrer Abwesenheit gab es die eine oder andere heftige Kontroverse, beispielsweise bei den Themen Zuwanderung und Integration. Bundespräsident Christian Wulff hat gesagt: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Wie haben Sie das empfunden?
Schäuble: Es ist schlicht die Wahrheit, die Christian Wulff ausgesprochen hat. Der Bundespräsident hat uns den Weg gezeigt, den wir gehen müssen. Dieser Weg entspricht der modernen Welt des 21. Jahrhunderts. Wulff hat ein Beispiel dafür gegeben, was das Amt des Bundespräsidenten leisten kann. Wochenschau
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