Innenministerkonferenz
Die causa des konstruierten Begriffes Integrationsverweigerer
Nach zweitägigen Beratungen werden die Innenminister der deutschen Länder heute in Hamburg vor die Presse treten. Wenngleich die eindringliche Terrorwarnung von Bundesminister Thomas de Mazière die Landespolitiker zu zahlreichen Einlassungen reizte, betraf die inhaltliche Agenda der Konferenz doch hauptsächlich Fragen des Ausländerrechts.
Von Philipp Freiherr von Brandenstein Freitag, 19.11.2010, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 20.10.2015, 6:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Bereits im Vorfeld der Innenministerkonferenz hatte sich Hamburgs Innensenator Heino Vahldieck (CDU) für die staatliche Erfassung von sogenannten Integrationsverweigerern ausgesprochen. Vahldieck sprach sich dafür aus, diese durch Entzug der Aufenthaltserlaubnis oder Kürzung von Sozialleistungen „konsequent“ zu bestrafen. Auch höhere Bußgelder für jene, die nicht an Integrationskursen teilnehmen, schloss er nicht aus.
Mit diesem polternden Vorstoß für eine staatliche Erfassung von Integrationsverweigerung gesteht Vahldieck (wohl eher unfreiwillig) ein, was Integrationsexperten schon seit Wochen anprangern: Der sogenannte „Integrationsverweigerer“ ist momentan lediglich eine politisch konstruierte und bislang nicht verifizierte (geschweige denn quantifizierte) Arbeitshypothese.
Tatsächlich stützt sich die Hypothese „Integrationsverweigerung“ derzeit nicht einmal im Ansatz auf eine gesicherte empirische Datenbasis, wie auch die Bundesregierung jüngst kleinlaut in Erwiderung auf eine parlamentarische Anfrage der Opposition konzedieren musste. In diesem Kontext musste das Ressort von Bundesminister de Maizière kleinlaut nachschieben, dass die vom Minister verwendeten Zahlen (10-15% Integrationsverweigerer) auf linearen Herleitungen aus diversen anderen Studien, d.h. letztlich auf rein subjektiven Schätzungen, beruhten. Denn laut Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) existierten nur einige disparate Zahlen, die sich kaum zur „Herleitung“ eignen. So gebe es die Angaben des Essener Zentrums für Türkeistudien, die aber nur für die türkische Zuwandererbevölkerung in Nordrhein-Westfalen abdecken und die Kursabbrecherzahlen des BAMF (Bundesamt als Kompetenzzentrum für Migration, Integration und Asyl), die aber im Kontext mannigfaltiger privater Gründe und Konstellationen (Arbeitsaufnahme, Schwangerschaft, Ortswechsel u.a.m.) stünden, die den betroffenen Abbrechern nicht zwingend zur Last gelegt werden können. Auf eine weitere Anfrage der Opposition musste die Bundesregierung auch bezüglich des immerhin als Beleg für Integrationsverweigerung angesehenen Abbruchs der Integrationskurse eingestehen, dass man nach wie vor über keinerlei Erkenntnisse zur Nichtteilnahme an Integrationskursen und zu möglichen Gründen hierfür verfüge. Auch dieses Ergebnis war überaus absehbar, denn das BAMF selbst hatte bereits im Juli dieses Jahres aus finanziellen Gründen eine Zulassungssperre für eine freiwillige Teilnahme an den Integrationskursen erlassen.
Damit soll keinesfalls im Umkehrschluss gesagt werden, dass Phänomene der Integrationsverweigerung gar nicht existierten. Tatsächlich deuten einzelne Beobachtungen darauf hin, dass es Zuwanderer gibt, die sprachlich und kulturelle tatsächlich noch nicht in Deutschland angekommen sind. Doch existiert derzeit offenbar weder eine geeignete inhaltlich-konzeptionelle Begriffsdefinition, noch eine auch nur rudimentäre Quantifizierung der sogenannten Integrationsverweigerung. Niemand an verantwortlicher Stelle weiß, wer und wie viele Menschen betroffen sind und aus welchen Gründen! Dieser qualitative Erkenntnismangel stellt mit Sicherheit die größte Forschungslücke dar, denn die Gründe für die unterstellte mangelhafte Integration könnten letztlich auch in mangelnden wirtschaftlichen oder staatlichen Angeboten begründet sein. Vor dem Hintergrund dieser völlig unzureichenden Erfassung des Problems und seiner Bestimmgrößen sollten sich diskriminierende Denunziationen von Regierungsstellen gegenüber Minderheiten eigentlich von selbst verbieten. Gleichwohl operieren die Innenminister in der Öffentlichkeit munter mit den einmal in die Welt gesetzten unwissenschaftlichen Behauptungen und Phantasiezahlen.
Die causa des konstruierten Begriffes Integrationsverweigerer ist ein Lehrstück für die mangelnde Sachlichkeit und pseudowissenschaftliche Hysterie in der Integrationsdebatte, die eigentlich eine Ausländerdebatte ist. Diffuse Ressentiments verdichten sich zu empirisch fragwürdig abgesicherten Denunziationen, diese gerinnen schließlich zu diskriminierenden Behauptungen und konstruierten Begriffen. Die Unterstellungen selbst werden durch ständiges Wiederholen nicht wahrer, doch sickern sie langsam aber stetig ins kollektive Bewusststein und unterhöhlen zerstörerisch die Gesteinsschichten unserer politischen Kultur. Dass dies zu nachhaltigen Erosionen führen muss, lässt sich am qualitativen Stand der derzeitigen Debatte ablesen.
Dabei hätten die Innenminister tatsächlich ein sachpolitisches Zeichen setzen können. Vielfach wurden die Minister aufgefordert, das bislang temporäre Bleiberecht für die 86.000 humanitär geduldeten Flüchtlinge in einen rechtlich gesicherten Status zu überführen. Die Betroffenen leben oftmals seit Jahren unter uns – allein 55.000 länger als sechs Jahre. Diese Menschen können und wollen arbeiten, unterliegen aber einem Arbeitsverbot. Das Damoklesschwert der Abschiebung schwebt selbst über ausgezeichnet integrierten Kindern, die vielfach ihre gesamte Schullaufbahn mit Erfolg absolviert haben. Diesen schon lange zu Mitbürgern gewordenen Flüchtlingen eine dauerhafte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zuzugestehen, würden die Sozialkassen entlasten und der Wirtschaft ungenützte Potentiale eröffnen. Nicht zuletzt wegen der sich abzeichnenden Blockadehaltung einiges unionsgeführten Bundeslandes scheint aber auch in diesem Punkt wenig nur Hoffnung für pragmatische Lösungen in der Integrationspolitik zu bestehen. Aktuell Meinung
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