Bezeichnungsproblematik
Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten – Wer gehört zum neuen Deutschland?
Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten - Naika Foroutan geht der Bezeichnungsproblematik auf den Grund und möchte wissen, wer zum neuen Deutschland gehört.
Von GastautorIn Mittwoch, 24.11.2010, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.11.2010, 4:20 Uhr Lesedauer: 23 Minuten |
Jeder fünfte Einwohner Deutschlands, darunter jedes dritte Kind unter sechs Jahren, hat einen Migrationshintergrund. In Ballungsräumen wie Frankfurt oder Berlin trifft dies bereits auf über 60 Prozent der Kinder zu, die dieses Jahr eingeschult wurden, einen Migrationshintergrund. Wenn Pluralität für Kinder und Jugendliche zur Normalität wird, 1 ist es unzeitgemäß, über einen Migrantenschlüssel für Schulklassen nachzudenken – wie auch Forderungen nach einem Zuwanderungsstopp für „fremde Kulturkreise“ in Zeiten der Globalisierung anachronistisch sind.
„Vielmehr wäre es angebracht, in einer Zukunftsdebatte über einen veränderten Blick auf die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nachzudenken und zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, diese im Sinne einer fraglosen Zugehörigkeit als deutsche Bürger anzusehen, gar als ‚Neue Deutsche‘?“
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Vielmehr wäre es angebracht, in einer Zukunftsdebatte über einen veränderten Blick auf die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nachzudenken und zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, diese im Sinne einer fraglosen Zugehörigkeit 2 als deutsche Bürger anzusehen, gar als „Neue Deutsche“? Interessanterweise wird mit dem Gedanken der Globalisierung vorrangig die Öffnung der weltweiten Märkte verbunden. Dagegen ist noch nicht verinnerlicht, dass mit einer Entgrenzung der Märkte nicht nur Güter freier beweglich sind, sondern auch Menschen. Transnationale Migration, im Rahmen derer Menschen in andere Länder ein- und auswandern, ist ein selbstverständliches Zeichen der globalisierten Gegenwart. 3
Wo Migration auch mit Settlement verbunden wird, wandelt sich die Bevölkerungsstruktur – nicht nur demographisch und soziostrukturell, sondern auch identitär und ideell. Spätestens in der zweiten Generation der Einwanderung stellt sich ein Moment ein, in dem identitäre Verortung nicht mehr eindimensional zu einem Herkunftsland vorgenommen werden kann. Während für die meisten Migranten der ersten Generation ein Herkunftsbezug durch eine aktive Migrationserfahrung bestehen bleibt und in vielen Fällen mit einer zumindest emotionalen Rückkehroption gekoppelt wird, beinhaltet im Falle der Nachfolgegenerationen der Herkunftsbezug und der Gedanke der „Rückkehr“ bereits einen Moment von invented tradition. 4
Dazu kommen noch identitäre Irritationen bei jenen Einwanderern, die als Kind oder als Jugendliche nach Deutschland gekommen sind und ihre Primärsozialisation zwar in einem anderen Herkunftskontext erlebt haben, Pubertät oder Adoleszenz jedoch durch eine Lebensrealität in Deutschland bestimmt wurde. Bei einem Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund ist Migration gar keine selbsterlebte Erfahrungsgrundlage mehr. Sie bleibt jedoch als Element der biographischen Kernnarration bestehen – entweder durch die Familienlegende oder durch außerfamiliäre Zuschreibungen, bedingt durch phänotypische Merkmale wie Aussehen, Akzent, Kleidung oder Namen.
Vom Ausländer zur Person mit Migrationshintergrund
Deutschlands „Gesicht“ wandelt sich stetig, was zu Verunsicherungen in der Bezeichnungspraxis führt. Die herkunftsdeutsche Bevölkerung weiß häufig nicht, wie sie sich selbst oder jene bezeichnen soll, die lange Jahre als „Ausländer“ oder „Fremde“ galten und nun offensichtlich zu Deutschland gehören wollen und sollen. Immer häufiger hört man zur Selbstbeschreibung ironisierend den Begriff „Bio-Deutsche“, da „autochthone Deutsche“ zu wissenschaftlich und „Deutsch-Deutsche“ zu redundant klingt. Hingegen erzeugt der Begriff „echter Deutscher“ einen zu ausgrenzenden Effekt, da er die Menschen mit Migrationshintergrund offensichtlich als „nicht echte“ Deutsche kennzeichnet. Immer mehr Menschen nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn sie „anders“ aussehen, „fremd“ klingende Namen oder eine andere Religionszugehörigkeit haben. Trotzdem gehören die Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Bewusstsein eines Großteils der Bevölkerung noch immer „nicht richtig“ dazu.
„’Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben‘, sagen 53,7 Prozent der Bevölkerung laut der Studienreihe ‚Deutsche Zustände‘ vom Bielefelder Institut für Konflikt und Gewaltforschung.“
Mit dem Wort Migration ist eine Neuzuwanderung verbunden, der Migrationshintergrund markiert daher seine Träger als tendenziell „neuer“ als jene ohne und in der öffentlichen Wahrnehmung auch als tendenziell fremd, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit in dritter und vierter Generation besitzen. „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben“, sagen 53,7 Prozent der Bevölkerung laut der Studienreihe „Deutsche Zustände“ vom Bielefelder Institut für Konflikt und Gewaltforschung (IKG). 5
Dabei bleibt offen, wie lange dieses „Neu-Sein“ eigentlich Bestand hat und welche Effekte es für das Selbstverständnis als deutscher Staatsbürger mit sich bringt. Tatsächlich beschreibt das Wort Migrationshintergrund in seinem analytischen Kontext die Lebensrealität der Angesprochenen korrekter als nationale Kategorien wie etwa „Türke“, „Spanier“, „Chinesen“, die nur eine einseitige Herkunftsverortung vornehmen. Es ist auch exakter als das Wort „Migrant“ oder „Ausländer“, da ersteres auf jene nicht zutrifft, die nicht aktiv zugewandert sind und letzteres jene falsch bezeichnet, die eine deutsche Staatsangehörigkeit haben. 6 Allerdings, so neutral der Begriff auch im Entstehungsmoment definiert wurde, verbindet sich mit ihm durch den öffentlichen Diskurs eine Bezeichnungspraxis, der eine soziale Praxis folgt, die vorwiegend Differenz-Momente hervorhebt und die in der öffentlichen Wahrnehmung vor Allem mit Defiziten und Problemen verbunden wird.
- Vgl. Bundesjugendkuratorium, Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche, Stellungnahme, April 2008.
- Vgl. Kai-Uwe Hunger, Junge Migranten online: Suche nach sozialer Anerkennung und Vergewisserung von Zugehörigkeit, Wiesbaden 2009, S. 251.
- Vgl. hierzu den Beitrag von Isabel Sievers und Hartmut M. Griese in dieser Ausgabe.
- Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Invention of Tradition, New York 1983.
- Die neuesten Forschungsergebnisse des IKG erscheinen im Dezember 2010. Die hier genannte Frage ist nach Aussagen des IKG nicht in der Druckausgabe enthalten. Konkrete Fragen dazu können an das IKG direkt gerichtet werden: ikg@uni-bielefeld.de. Für eine weitergehende Analyse Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 8, Frankfurt/M. 2010.
- Von den 15,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund sind mehr als die Hälfte deutsche Staatsbürger (8,3 Millionen) und bei zwei Dritteln ist die Migration aktiv erlebt.
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Vielen Dank für diesen sehr treffenden, analytisch scharfen Artikel, Frau Dr. Foroutan!