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Wochenrückblick

KW 1/11 – Sarrazin, Migration, Islamophobie, Bildung, Werteordnung

Die Themen der 1. Kalenderwoche: Sarrazin-Dossier; zweimal ein Blick zurück – und was man dabei lernen könnte; Antisemitismus und Islamfeindlichkeit; Bildungsillusionen? Verfassung und Werteordnung; den Koran lesen – aber anders.

Von Montag, 10.01.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 09.01.2011, 23:49 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Das Sarrazin-Dossier
ist der wichtigste Debattenbeitrag dieser Woche.

Die ZEIT (dort auch der Link zum pdf) fasst die 70 Seiten knapp zusammen, listet Sarrazins fehlerhaften Umgang mit Statistik vor allem im Kapitel 7 seines Buches auf.

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„Kopftuchmädchen“: Sarrazin glaubt, das Kopftuch werde immer beliebter – tatsächlich werde es in der zweiten Generation signifikant weniger getragen. 70 Prozent der muslimischen Frauen tragen kein Kopftuch.

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Schwimmunterricht: Sarrazin hält es für ein Indiz für Integrationsverweigerung, dass muslimische Kinder nicht am Schwimm- und Sportunterricht teilnähmen. Eine „Phantomdebatte“, sagen die Forscher, sie betreffe lediglich 7 bis 10 Prozent der Kinder.

Parallelgesellschaft: Sarrazin glaubt, dass die Abschottung zunimmt. Dabei geben in allen muslimisch geprägten Gruppen mehr als drei Viertel der Befragten an, häufig Freundschafts- oder Nachbarschaftskontakte zu Nichtmuslimen zu haben. Angebliche mangelnde Bereitschaft zum

Spracherwerb: Das Allensbach-Institut ermittelte bei 70 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund gute bis sehr gute Deutschkenntnisse.

und so weiter. So wird Punkt für Punkt abgehakt, im Dossier selbst detailliert mit amtlichen Daten belegt, die Sarrazins Behauptungen widerlegen. Von wegen:

„Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.“

(Sarrazin in der Weihnachtsausgabe der FAZ, nicht online)

Der Migrationsblick zurück (1)
Das wissen wir doch alles schon, oder? Interessant ist, wann es bereits gesagt worden ist:

Der mit der Anwerbung von ausländischen Gastarbeitern in Gang gesetzte Prozess sei eine „unumkehrbare Entwicklung“, stellt da beispielsweise einer fest, der es wissen muss. Insbesondere den „bleibewilligen Zuwanderern, namentlich der zweiten und dritten Generation“, müsse deshalb „das Angebot zur vorbehaltlosen und dauerhaften Integration“ gemacht werden. Die entsprechenden Forderungen des Autors lauten: „Anerkennung der faktischen Einwanderung“, „Intensivierung der integrativen Maßnahmen“ vor allem für Kinder und Jugendliche, „Ablösung aller segregierenden Maßnahmen“ insbesondere in Schulen, Optionsrecht in Deutschland geborener Einwanderer auf Einbürgerung und Verstärkung der politischen Rechte der Einwanderer durch Erteilung des kommunalen Wahlrechts „nach längerem Aufenthalt“.

1979 sagt das der Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn. Die taz erinnert daran – und fragt natürlich auch, warum man nicht schon damals Integrationsnägel mit Köpfen gemacht hat.

Der Migrationsblick zurück (2)
Noch weiter zurück erlaubt uns der Spiegel online zu schauen: bis ins Jahr 1973. In einem damaligen Hauptartikel wird en detail der Stand der Einwanderungsgesellschaft Deutschland beschrieben, in allen Aspekten, die uns auch heute beschäftigen, weil man sie seinerzeit nicht anpacken wollte:

Fast eine Million Türken leben in der Bundesrepublik, 1,2 Millionen warten zu Hause auf die Einreise. Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon Lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen: Es entstehen Gettos, und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Verelendung wie in Harlem.

Wie hat die Politik reagiert?

Die Legende von den „Gastarbeitern“ hat sich noch nicht dadurch erledigt, daß die Behörden die irreführende Vokabel aufgegeben haben und nun von „ausländischen Arbeitnehmern“ sprechen. Geblieben ist die amtlich immer noch genährte Fiktion, die Fremden in der Bundesrepublik gastierten gewissermaßen nur — billige Wohlstandshelfer mit exotischem Air, die nach einer Weile dahin, wo sie hergekommen sind, zu retournieren und durch Neuangeworbene zu ersetzen seien.

Lässt sich daraus etwas lernen?
Einmal abgesehen davon, dass es nicht klug ist, Augen und Ohren vor der Wirklichkeit der Einwanderung zu verschließen und stur auf die Rückkehr der Einwanderer zu hoffen. Der schon zitierte taz-Artikel von Alke Wierth schließt mit einer zweiten Antwort auf die Frage. Arbeitsmigranten, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, sie alle

leben mitten unter uns und wir Eingeborenen könnten aus den Erfahrungen dieser MigrantInnen mit ihrem Blick auf die globalisierte Welt viel Wichtiges für unser aller Zukunft lernen. Voraussetzung dafür wäre, dass wir aufhören, sie als Bürger zweiter Klasse, als schlechter, weil anders anzusehen. Wäre das in den nächsten zehn Jahren zu schaffen, wäre der integrationspolitische Teufelskreis aus Stigmatisierung und Reglementierung zu durchbrechen, wäre für uns alle viel gewonnen.

Sind Antisemitismus und Islamfeindlichkeit miteinander verwandt?
Die Diskussion um die Frage, ob die Muslime in Deutschland zu den neuen „Juden“ geworden sind, und ob man den alten Antisemitismus und die ressentimentgetriebene Islamfeindlichkeit als einander ähnlich und parallel setzen darf, geht weiter. Die Neue Zürcher Zeitung wägt das Pro und Contra ab. Zunächst das Pro:

«Mit Stereotypen und Konstrukten, die als Instrumentarium des Antisemitismus geläufig sind, wird Stimmung gegen Muslime erzeugt.» Zugleich stellen der Historiker und seine Mitstreiter klar, dass ihr Vergleich keine Gleichsetzung meint. Aber es wäre doch dumm, meint Benz, würde er die gut erkundete Judenfeindschaft nicht als «erkenntnisleitendes Paradigma» in seinem Spezialgebiet, der Vorurteilsforschung, einsetzen. Im Wesentlichen sei der Modus identisch, wie Menschen ausgegrenzt und stigmatisiert würden: Erst komme die xenophobe Abwehr des Fremden, dann die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und schliesslich, verbunden mit einer Abwertung, ihre Generalisierung für eine ganze Gruppe. Dies üble Spiel könne man statt mit Juden und Muslimen genauso gut mit Rothaarigen oder Brillenträgern treiben….

Der Satz von Horkheimer und Adorno, Antisemitismus sei «das Gerücht» über die Juden, trifft analog auch die Islamophobie.

Dann ein knappes Contra: Die Analogie habe Grenzen.

Eine Dämonisierung, wie sie die Juden erfahren haben, begegnet den Muslimen nicht, und anders als die vermeintlich jüdische Weltverschwörung ist der Ruf, Ungläubige zu massakrieren, ja keine von aussen herangetragene Unterstellung, sondern erschallt aus den Mündern von Islamisten.

Bildungsillusionen?
Die Bildungsorientierung unter den türkischen Einwanderern in Deutschland wächst. Das wird – außer von Sarrazin und seinen Fans – wohl kaum noch von jemandem ignoriert. Trotzdem, eine noch nicht veröffentlichte Studie gießt etwas Wasser in den Wein: Vor allem türkische Familien haben illusionäre Erwartungen:

  • Einwanderer überschätzen die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems und wissen zu wenig über die Berufsbildung, wodurch sie häufig allein das Abitur für erstrebenswert halten.
  • Einwanderer haben eine höhere Erwartung in die Bildung ihrer Kinder, denn die sollen Ziele nachholen, die sie selbst nicht erreichen konnten. Sie projizieren dabei einen vergleichsweise starken Willen zum sozialen Aufstieg auf ihre Kinder, weil der meist Grund ihrer Einwanderung war.
  • Sie gründen die Einschätzung der Kompetenzen ihrer Kinder weniger auf Noten und Schulleistungen als auf ihren allgemeinen Eindruck von deren Persönlichkeit und Verhalten.
  • Sie meinen, ihre Kinder würden in der Schule und später im Beruf diskriminiert und könnten das nur mit einem möglichst hohen und guten Schulabschluss kompensieren.

Über einige interessante vorab veröffentlichte Einzelheiten dazu informieren der Spiegel online und das MiGAZIN.

Diese Studie wird hilfreich für alle, die amtlich oder ehrenamtlich oder freundschaftlich Bildungsberatung leisten.

Verfassung und Werteordnung
Die Islamische Zeitung interviewt Eberhard Straub über das aktuelle Thema „Werte“. Straub hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Zur Tyrannei der Werte“. Er weist die kapitalistische Seite des Begriffs hin, auf die Gefahr der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, und stellt u. a. fest, wenn Rechte zu Werten würden, würden sie nicht sicherer. Zum Beispiel:

Der Höchstwert ist im Augenblick die Sicherheit. Und der Sicherheit zuliebe wird alles untergeordnet und geopfert. Es werden jetzt auf einmal rechtsstaatliche Freiheiten, die wir seit dem 19. Jahrhundert haben, durchbrochen. Das sind alles gefährliche Tendenzen, die eigentlich den liberalen Rechtsstaat, den wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben, aushöhlen und gefährden. Da sieht man, wie sich die Tyrannei dieses Wertes schädlich bemerkbar macht, wenn er auf einmal die Freiheit des Menschen bedroht. Das Recht kann nur durch Recht gesichert werden und nicht durch geisteswissenschaftlichem Schmuck, wie es die angeblichen Wertesysteme sind. Übrigens ist das Bundesverfassungsgericht längst davon abgekommen, das völlig neutrale Grundgesetz als eine Werteordnung zu verstehen. Recht wird eben durch Recht und nicht durch geisteswissenschaftliche Rhetorik verteidigt.

Den Koran lesen – aber anders
Wie würden wir diesen Text, den Koran, lesen, wenn wir ihn einmal losgelöst von seiner weiteren Geschichte betrachten, als Dokument einer religiösen Bewegung der Spätantike, deren weitere Zukunft als Weltreligion im Text selbst noch gar nicht absehbar ist.

Angelika Neuwirth eröffnet mit ihrem Buch „Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang“ eine neue Perspektive auf den Text des Korans. Stefan Weidner rezensiert das – schwierige, aber wichtige – Buch im Deutschlandfunk und lässt auch die Autorin zu Wort kommen:

Dieser Band soll den Koran für westliche Leser wieder als das erkennbar machen, war er zur Zeit seiner Entstehung für die frühe Gemeinde war: Ein literarisch herausragender und intellektuell herausfordernder Text. Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskursen hervorgegangen ist und sich selbst in jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat, ist er selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa.

Ein vermutlich wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einer islamischen Aufklärung. Wochenschau

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