Auge des Betrachters
Islamische Vielfalt
Es hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis Wolfgang Schäuble 2006 bemerkte: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Niemand regte sich damals darüber auf. Erst als Bundespräsident Christian Wulff feststellte, auch der Islam gehöre zu Deutschland, brachen lautes Heulen los. Warum tun sich viele Menschen mit dieser Feststellung hierzulande so schwer?
Von GastautorIn Mittwoch, 09.03.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 11.03.2011, 5:58 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Der Islam ist weltweit die am schnellsten wachsende monotheistische Religion. Mit mehr als 1,4 Milliarden Anhängern bildet er nach dem Christentum die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. Muslime leben heute in nennenswerter Zahl auch in Ländern und Regionen, wo noch vor wenigen Jahrzehnten niemand mit ihrer dauerhaften Präsenz rechnete: In der Europäischen Union mit ihren knapp 500 Millionen Einwohnern sind es zwischen 18 und 20 Millionen; in Frankreich gibt es mehr als fünf Millionen und in Deutschland bis zu 4,3 Millionen Muslime.
Nach Jahrzehnten unscheinbarer Existenz in Hinterhofmoscheen sind Muslime in den vergangenen Jahren mehr in Erscheinung und ins Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft getreten. Von muslimischen Extremisten verübte Terroranschläge in New York, Bali, Madrid, London, Casablanca, Istanbul und an zahlreichen anderen Orten der Welt haben viele Menschen hierzulande aufgeschreckt. Eine seit September 2001 häufig gestellte Frage lautet: „Warum hassen sie uns?“ Mit „sie“ sind nicht nur verblendete Terroristen gemeint, sondern Muslime allgemein, die aus einer Fülle von Gründen schnell unter Generalverdacht geraten. Dabei wird oft übersehen, dass die weitaus meisten Opfer terroristischer Anschläge religiös verbrämter Extremisten Muslime waren und sind, und dass Muslime mit großer Mehrheit den im Namen des Islams verübten Extremismus ablehnen.
Der zweite Grund dafür, warum der Islam in den vergangenen Jahren zu einem Dauerthema geworden ist, sind innergesellschaftliche Entwicklungen. Viele einst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommene Muslime sind nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Sie haben hier Familien gegründet, Existenzen aufgebaut, Karriere gemacht und damit begonnen, ihr Gemeindeleben zu organisieren. Dazu gehören auch der Bau sichtbarer und mitunter repräsentativer Moscheen, die Einforderung von Verfassungsrechten sowie der Wunsch nach Lehrer- und Imamausbildung.
Der Islam ist Teil Deutschlands
Es hat ein halbes Jahrhundert muslimischer Zuwanderung nach Deutschland gebraucht, bis der CDU-Grande und damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) im September 2006 bemerkte: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Niemand regte sich damals darüber auf. Erst als Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit 2010 feststellte, auch der Islam gehöre zu Deutschland, brachen lautes Heulen und Zähneknirschen unter Politikern, Publizisten und einfachen Bürgern los. Warum tun sich viele Menschen mit dieser Feststellung hierzulande so schwer? Knapp die Hälfte der hier lebenden Muslime sind deutsche Staatsbürger. Sie haben die gleichen Rechte und Pflichten wie alle Bürger unseres Landes – ihr Glaube darf dabei keine Rolle spielen. Eine gefühlte und angenommene Fremdheit steht wie eine unsichtbare Mauer zwischen Nichtmuslimen und Muslimen. Zentrale Elemente dieser Mauer sind Unwissen von- und übereinander und sich daraus speisende Vorurteile. Der Islam kann ebenso wenig wie das Christentum als ein monolithischer Block angesehen werden. Er ist ungemein vielfältig und facettenreich.
In 57 Ländern der Welt stellen Muslime eine Bevölkerungsmehrheit. In Dutzenden von Staaten bilden sie beachtliche Minderheiten. Die weitaus meisten Muslime leben heute außerhalb der einstigen nahöstlichen Stammlande. Sie sind in Indien, Pakistan, Bangladesch, Malaysia, China und vor allem Indonesien zu Hause. Der Islam hat ebenso wie das Christentum im Laufe der Geschichte Brüche und Verwerfungen erlebt. Der Graben zwischen Sunniten (90 %) und Schiiten (10 %) ist wahrscheinlich mindestens so tief wie der Graben zwischen Katholiken und Protestanten. Und ebenso wie beim Christentum weist die Geschichte des Islams dunkle Seiten der Bedrängnis, der Unduldsamkeit und des Fanatismus auf. Es ist unsinnig, das im Namen der jeweiligen Religion begangene Unrecht gegeneinander aufrechnen zu wollen.
Kultureller Überlegenheitsdünkel
Es ist auf der anderen Seite unlauter und unfair, 1.400 Jahre islamische Zivilisation durch die Brille kulturellen Überlegenheitsdünkels zu betrachten. Kulturen entwickeln sich, sie werden nicht über Nacht geboren. Die Entstehung von Zivilisationen sind fließende Prozesse. Vor 4.000 Jahren waren die Ägypter Träger der Hochkultur; vor 2.500 Jahren übernahmen Perser und Griechen; vor 2.000 Jahren folgten die Römer; vor 1400 Jahren Muslime – und jenseits unseres eurozentrischen Weltbildes erklommen Inder und Chinesen ungeahnte kulturelle Höhen. Ein wesentliches Merkmal von Hochkulturen besteht darin, dass sie auf Vorangegangenem gründen, geerbte Wissensschätze nutzen und das Rad der geistigen Schöpfung mit eigenen intellektuellen Leistungen weiterdrehen. Genau das geschieht während der islamischen Blütezeit zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert. Von Wissenschaftlern muslimischer Reiche sind unendlich viele Impulse in Mathematik und Medizin, in Chemie und Astronomie ausgegangen, ohne die der Aufstieg Europas schlicht nicht möglich gewesen wäre. Die weltweit mehr als 1,4 Milliarden Muslime stehen heute vor großen Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind aufgrund nationaler und regionaler Besonderheiten zwar sehr unterschiedlich. Doch in allen muslimischen Ländern gibt es eine erkennbare Grundthematik: Welche Auswirkungen haben Globalisierung und Moderne, die beide in enger Wechselwirkung miteinander stehen, auf die jeweiligen Gesellschaften?
In Deutschland sind viele Menschen der Meinung, unser Land sei für beides gut gerüstet, weil wir als Reiseweltmeister rund um den Globus jetten und jedes sichtbare Nabelpiercing per se Auskunft über unsere moderne Grundhaltung gibt. Die Probleme der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit den hiesigen Muslimen zeugen indessen davon, dass das Ausmaß der Globalisierung nur teilweise begriffen worden ist. Denn Globalisierung bedeutet nicht nur Flexibilität bei der Produktfertigung mit Blick auf die internationale Konkurrenz. Sie bedeutet auch Zuwanderung, weil der Arbeitsmarkt es verlangt, weil es durch moderne Technologien einen beispiellosen Informationsfluss gibt und weil Grenzen für Waren und Menschen immer durchlässiger werden. „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Von Max Frisch stammt diese zum geflügelten Wort gewordene Aussage. Die Menschen brachten ihre Religion, ihre Werte und ihre Traditionen mit. Wie schwer sich unsere Gesellschaft mit dem neuen Teil Deutschlands, den Muslimen, tut, haben die Debatten der vergangenen Monate deutlich gezeigt. Das Potential der Neuen kann genutzt werden, wenn die Furcht vor dem Fremden der Lust auf Neues weicht.
Ein unvoreingenommener Blick
Viele Missverständnisse im Umgang mit Muslimen in westlichen Ländern basieren auf einer angenommen kulturellen Überlegenheit, die in den Vorwurf mündet, DER Islam kenne keine Aufklärung und habe deshalb Probleme mit Demokratie und Moderne. Westlicher Überlegenheitsdünkel hat viel mit einem an Ignoranz grenzenden Eurozentrismus zu tun, der kulturelle Leistungen anderer Zivilisationen möglichst klein hält, um „eigenes“ Wirken groß erscheinen zu lassen. Ein unvoreingenommener Blick in die Vergangenheit von Morgen- und Abendland könnte Erkenntnisse zu Tage fördern, die gegenseitigen Respekt und damit auch gegenseitiges Verständnis fördern. Der Islam hat viele Gesichter und Facetten: schöne und hässliche, faszinierende und abstoßende. Darin unterscheidet er sich nicht von anderen Religionen. Die Schönheit liegt bekanntermaßen im Auge des Betrachters. Dessen Herausforderung besteht darin, sich nicht zu Verklärung oder Dämonisierung hinreißen zu lassen, sondern sich um Verstehen und Verständnis zu bemühen. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Die islamischen Länder haben zum Erbe Europas nichts Wesentliches beigetragen. Die Grundlagen der Mathematik stammen aus Indien und Griechenland, die Grundlagen der modernen Medizin von Paracelsus, einem Deutschen. Die antike Medizin, die u.a. Avicenna (Ibn Sina) lehrte, gründete auf der Vier-Säfte-Lehre nach Galen, aus heutiger Sicht Quacksalberei und Aberglaube. Kein Mensch würde sich heute nach dieser arabischen Medizin behandeln lassen. Wir verdanken in Wissenschaft und Technik der islamischen Welt nichts, auch nicht für ihre Rolle als Mittelsmänner, weil uns über die Araber nichts Wesentliches übermittelt worden ist, was wir nicht über andere Bezugsquellen ebenso bekamen oder gar bereits besaßen.
haha,
kerhhelm kröger, Sie sind lustig.
Das Problem an dem ganzen Thema ist jenes, dass davon ausgegangen wird, dass z.B. Naturwissenschaftliche Fortschritte ein Ausfluss von Religion sei. Dies ist jedoch der falsche Ansatzpunkt. Religionen hatten sich immer in einem wechselnden Maße gegen die Naturwissenschaften gewandt, da durch diese eben auch der „Wahrheitsgehalt“ der jeweiligen Schriften infrage gestellt wurden und werden. Gerade der gegen den Bereich „Urknall und Evolution“ stehende Begriff der „Schöpfung“ ist ja eines der paradebeispiele für diese Problematik. Allenfalls passten sich Religionen interpretativ an diese natürlichen Wissensentwicklungen der Menschheit und an – teilweise. Sie hatten diesen Wissensschatz allesamt nicht selbst erzeugt, sondern höchstens gesammelt und archiviert. Je konservativer das Verhältnis zur religiösen Schrift ist, desto schwieriger ist diese Aufnahme- und Anpassungsfähigkeit, und je älter eine Religion ist, desto stärker lastet der Druck der Veränderung auf sie, und damit auch der überwindbare Hang zur Zensur. Aber auch das ist nichts neues. Neu sind die neuen Medien, die einen Blick in zuvor unbekannte Welten erlauben. Und genau dies prägt – heute – alle Gesellschaften, die einen Zugang zu diesen neuen Medien haben, gleichermaßen. Diese Medien sind ein Quantensprung in der Geschichte der Menschheit, die den der Schifffahrt, dem der Eisenbahn und dem des Flugzeugs noch um Dimensionen übersteigt. Dieser Quantensprung ist gerade erst im Gange. Und ich glaube auch nicht, dass September 2001 wirklich relevant ist, um gesellschaftliche Vorgänge zu erklären. Er ist ein Aspekt. Einer von vielen. Die DotCom-Blase war mit ihren Nachwirkungen auf die Gesellschaft viel wirkungsreicher. Sie führte letztlich zu einer „Digitalisierung“, und damit immer stärker dazu, dass Eindrücke aus der gesamten Welt relativ ungefiltert Einfluss auf die Gesellschaft in Deutschland nehmen – als wären China, Argentinien und der Iran Nachbarländer von Deutschland – und umgekehrt. Entsprechend der Digitalisierung wuchs auch die Sensibilität für das, was in diesen Ländern passiert. Dies wirkte sich auch auf die Differenzierung zwischen Inländischem und ausländischem Geschehen aus. Was in der Türkei passiert, wurde dann plötzlich hier lebenden Türken angeheftet. Hier kommt der Aspekt des 11.9. – es wurde islamisiert. Was nämlich in Afghanistan passierte, wurde nicht den hier lebenden Afghanen angeheftet, sondern nach und nach den hier lebenden Muslimen. Das waren dann hauptsächlich Türken, Bosnier, Albaner, Marokkaner, usw. – Nationalistische Befindlichkeiten hatten sich globalisiert, und auf eine höhere Stufe begeben. Es stand plötzlich keine „Deutsche Nationalität“ mehr gegen einer „Französischen“ oder „Polnischen“ in Stellung, auch nicht mehr gegen „den Russen“, sondern eine „Europäische Nationalität“ gegen eine „Islamische Nationalität“. Auf dieser Ebene spielen auch z.B. China und Indien mit. Sich im Wachstum befindliche stille Riesen.
Der Islam ist über Jahrhunderte Gegner Europas gewesen.
Seine Wirkung auf die Kultur oder politische Wertorientierung Deutschlands kann ich nicht erkennen – sollte ich mich irren, freue ich mich auf Gegenbeispiele.
Hm, Herr Kröger. Sie sollten sich vielleicht noch einmal die Geschichte der Kreuzzüge durchlesen. Trotz der Niederlage brachte sie Europa eine Entwicklung, die man nicht einfach über „andere Bezugsquellen“ bekommen hätte. Da gabs auch mal eine schönes „Welt der Wunder“ Special zu diesem Thema.
Nimmt man die optimistischen etwa 400 Jahre islamischer „Blütezeit“ zum Maßstab dann stehen dem ziemlich genau 1000 Jahre islamischer Rückständigkeit und Dunkelheit entgegen. Der geneigte Gutmensch schlußfolgert daraus das Islam eigentlich Blütezeit bedeutet und es hier und da ein paar Ausreißer vom eigentlich tollen und fortschrittlichen Islam gab. Der nüchterne, aufgeklärte Realist wird jedoch sagen, hey 1000 Jahre Rückständigkeit, bis einschließlich heute, sind mehr als doppelt so lang wie 400 Jahre „Blütezeit“. Daraus würde der Realist schlußfolgern das die Blütezeit wohl eher die Ausnahme war und nicht die Regel. Wer hat da nun recht?
Zu dieser offensichtlich einfachen Antwort ist einer wie Baumgarten aber nicht fähig. Leider setzt sich diese Realitätsverweigerung fort und es wird von Problemen der Mehrheitsgesellschaft mit Muslimen gesprochen, anstatt die Problem der Muslime mit einer freiheitlich, demokratischen Gesellschaft zu thematisieren. Da stellt sich direkt wieder die Frage, wer integriert sich hier eigentlich in was? Der letzte Absatz des Artikels outed den Author dann noch als einen der letzten Anhänger von Kulturrelativismus, einem mindestens so überholten Ismus wie Multikulturalismus.