Anzeige

EU-Marathon der Türkei

Die EU liest der Türkei die Leviten

Eine einseitige Sicht. Das Europäische Parlament verabschiedete am Mittwoch den Fortschrittsbericht 2010 zur Türkei. Neben der steigenden Zahl von Ehrenmorden und Zwangsheiraten, stellt der Bericht weiter erhebliche Mängel in der Zypernpolitik der Türkei fest.

Von Freitag, 11.03.2011, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 25.11.2011, 22:59 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Mit der (…) Abstimmung wurde die Gelegenheit verpasst, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen und Verbesserungen zu erreichen. Dieses Verhalten ist bigott“, SPD-Türkeiexperte Ismail Ertug (MdEP).

Nachdem die EU-Kommission bereits am 9. November 2010 ihren jährlichen Fortschrittsbericht veröffentlicht hatte, zog nun das Europäische Parlament am Mittwoch nach und legte der Türkei eine lange Mängelliste vor: angefangen mit dem stetigen Anstieg von Ehrenmorden und Zwangsheiraten – über die Repressionen bei der Presse- und Meinungsfreiheit sowie bei der Minderheitenpolitik – bis zur heiklen Zypernpolitik. Ebenfalls stimmte das Europäische Parlament für die Eröffnung des Energiekapitels, nicht jedoch für das Verhandlungskapitel über Justiz und Grundrechte.

___STEADY_PAYWALL___
Anzeige

Der SPD-Türkeiexperte und Abgeordneter des Europäischen Parlaments Ismail Ertug erklärt hierzu, dass es immer wieder Europas Populisten seien, die der Türkei ihre Rückstände in Sachen Menschen- und Minderheitenrechte vorhielten und ihr die Fähigkeit zum Beitritt absprächen. „Mit der (…) Abstimmung wurde die Gelegenheit verpasst, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen und Verbesserungen zu erreichen. Dieses Verhalten ist bigott.“

Anzeige

Ein politischer Bericht?
Ferner spiegeln das Votum des Europäischen Parlaments und der Bericht der Autorin Ria Oomen-Ruijten – aus dem konservativ-christlichen Bündnis EVP – die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wider. Denn die EVP besitzt dort eine Mehrheit, die ihren einseitigen Niederschlag im Bericht gefunden hat. Während die Fortschrittsberichte der EU-Kommission als objektive Kritik am Beitrittskandidaten verstanden werden, hält das Europäische Parlament lediglich, je nach Mehrheit, seine Fahne nach dem Wind. So erklärt der türkische Minister für Europaangelegenheiten Egemen Bagis – der türkischen Nachrichtenagentur „AA“ – dass bis zum heutigen Zeitpunkt kein Bericht des Europäischen Parlaments ausgewogen und wahrheitsgetreu gewesen sei.

Zypernproblem. Der Türkei sind innenpolitisch die Hände gebunden
Diese Unausgewogenheit stellt sich am Beispiel des Zypernproblems am deutlichsten dar. Es stimmt zwar, dass die Türkei verpflichtet ist, ihre See- und Flughäfen seit 2005 für zypriotische Waren zu öffnen, unterschlagen wird jedoch das Versprechen der EU von 2004 – im Gegenzug – die politische und wirtschaftliche Isolation des von Türken bewohnten Nordens aufzuheben. Folglich befinden sich beide Seiten in einem Dilemma, welches durchaus erst mit der Aufnahme der Republik Zypern (2004) in die EU begonnen hat – die seitdem das Versprechen der EU durch ein Veto unterminiert und die Isolation des türkischen Teils der Insel aufrechterhält.

„Zwischen den Fronten bleiben die türkischen Zyprer, deren Unmut sich zunehmend in den vergangenen Wochen gegen ihr Mutterland die Türkei richtet „

Dabei hatte sich die Türkei – im Zuge des vom ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan und dem nach ihm benannten Annan Plan – für eine Wiedervereinigung der Insel nach dem Schweizer Kantone Modell stark gemacht. In einem Referendum auf beiden Seiten der Insel stimmten die Türken mit großer Mehrheit für diesen Plan und die griechischen Zyprer indes gegen ihn. Eine große Chance war vertan! Kurz vor den Wahlen in der Türkei am 12. Juni 2011, wird es ferner die Regierung unter Erdogan nicht wagen können, Konzessionen einzugehen, ohne große Stimmenverluste bei den Parlamentswahlen zu provozieren.

Denn Zypern stellt in den Augen vieler Türken eine Frage der nationalen Souveränität dar, sodass der Türkei hier weitestgehend die Hände gebunden sind. Unterdessen werden zwischen den beiden Fronten die türkischen Zyprer zerrieben, deren Unmut sich zunehmend in den vergangenen Wochen gegen ihr türkisches Mutterland richtet. Denn ihre wirtschaftliche Situation bleibt wegen der anhaltenden Isolation durch die EU um meilenweit schlechter als die der Südzyprer, obwohl die Türkei den Norden mit ca. 800 Mio. Dollar pro Jahr unterstützt.

Menschen- und Minderheitenrechte, Repressionen, Ehrenmorde, Zwangsheiraten
Die Kritiken des Fortschrittsberichts finden sich auch wieder in denen der EU-Kommission, die jährlich seit 1998 veröffentlicht werden. Sie sind dort jedoch ausgewogener dargestellt und verzerren nicht das Bild der Türkei. Der jüngste Bericht der EU-Kommission beanstandete die Lage – vor allem der christlichen und der alevitischen Minderheit in der Türkei – und die Presse- und Meinungsfreiheit. Sie ließ jedoch nicht außer Acht, dass die Türkei ebenfalls Fortschritte in den genannten Feldern vorwies.

Unterdessen bietet die aktuelle politische Lage in der Türkei tatsächlich Grund zur Besorgnis. Die Inhaftierung von Journalisten – beispielsweise beim Sender ODATV – im Verlauf des zweiten Ergenekonprozesses – scheint ein Angriff auf die Pressefreiheit zu sein, welche den EU-Beitrittsprozess der Türkei erheblich gefährden könnte. Daher täte die Türkei zuallererst für ihre eigene demokratische Entwicklung gut daran, kein weiteres Wasser mehr auf die Mühlen der EU zu gießen. Denn die Türkei braucht eine glaubwürdige EU-Perspektive für die Durchsetzung ihrer eigenen demokratischen Reformen und das ist nur möglich, wenn sie vollends im Einklang mit europäischen Werten steht. Die Türkei darf zudem nicht vergessen, dass sie am Ende der Beitrittsverhandlungen auch das Europäische Parlament auf ihre Seite ziehen muss, welches über die Aufnahme eines Kandidaten – mit der absoluten Mehrheit – mitentscheidet. Aktuell Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. gedanke sagt:

    In meinen Augen macht sich eher die EU lächerlich.
    Die EU ist nicht in der Lage irgendwem die Leviten zu lesen,was für eine Sprachauswahl als ob der gegenüber sitzende ein Balg wäre.

    Die EU ist out,die türkei solte die finger von diesem maroden Club lassen.

  2. gedanke sagt:

    Zitat:
    Menschen- und Minderheitenrechte, Repressionen, Ehrenmorde, Zwangsheiraten

    Menschenrechte und Minderheitenrechte Stichwort Roma,die Ausländerpolitik,Rechte Gewalttaten in Europa.
    Repression in Deustchland selbst oft erlebt unter verbaler und Körperlicher androhung seitens obrigkeit.
    Ehrenmorde,in Deustchland werden diese unter Familientragödie abgeheftet.
    Zwangsheirat ,ich wäre nach diesem Begriff 40 Jahre glücklich Zwangsverheiratet.
    Mißbrauch von Schutzbefohlenen durch Priester,durch die Lehrerschaft/Odenwald Schule,Kinderprostutition.

    Nach meiner Meinung von der Medialen Welt hochgepuschte Begriffe die nur allein für eine erhöhung der Gewinnspanne abziehlt.
    Alles was Türkisch,Araber,Islamist sein könnte verkauft sich wie geschnitten Brot

  3. EX-Türke sagt:

    „[…] wenn sie vollends im Einklang mit europäischen Werten steht.“

    Bedeutet!

    Rechtsstaatlichkeit in allen Ebenen und Bereichen und gegenüber allen Gruppen (Menschen) in der Türkei!

  4. Realist sagt:

    Ab und zu sollte man Kritik einfach mal annehmen und nicht einfach nur behaupten, es gäbe keine Probleme in der Türkei, die Probleme wären irgendwelche Rechtspopulistische Parteien.
    Das ist doch die billigste Ausrede überhaupt. Aber jetzt mal ganz im ernst: gegen die Vorwürfe hatten die Türken ncihts entgegen zu setzen. Das sind Tatsachen, die akzeptiert werden müssen. Das türkische Volk muss sich halt mehr anstrengen, ganz einfach.

  5. Thomas sagt:

    Die Türken suchen an der falschen Stelle. Die besten Verbündeten der Beitriitsgegner sind die Türken selbst!

    Immer sind die anderen Schuld, suchen Vorwände, bauen neue Hürden auf, wollen ein „christlicher Club“ bleiben usw, usw.

    Da die notorische Unfähigkeit zur Selbstkritik auf immer und ewig ein unabänderliches Wesensmerkmal der Türken sein wird, brauchen sich die (zahlreichen!) Gegner eines EU-Beitritts der Türkei wirklich keine Sorgen zu machen!

  6. gedanke sagt:

    Sehr viele Türken Kritisieren die Türkei selbst nur wen etwas Kritisches aus Europa kommt fühlen wir uns beschmutzt..
    Allein die Wortwahl sagt alles,der Mensch sollte seine Körperöffnungen nach realistischen Prinzip bedienen.

    Es stände der EU ehrenhaftig zu sein und die Türken vehement abzuweisen,nur das ständige gequake drängt den schluß zu Chronisch Debil zu sein.

  7. Dönermann sagt:

    Im grundegenommen geht es meisten darum wie mann die anderen politisch unter druck setzen und demoralisien kann.
    Ich finde natürlich die politik der Türkei nicht besonders stabil und menchenrechts orientiert aber auf die anderer seite das vas die EU macht auch nicht gerade viel besser.

    Die versprechungen der EU werden nicht eingehalten es kommt drauf an welche Regierung in welches EU land gerade regiert kann gesammte Reformervartungen ändern.Es gibt keine bestimmte linie der EU länder.
    Es kann nicht sein das Schröder Regierung für ung Merkel Regierung gegen mitgliedschaft der türkei in die EU sein kann.

  8. Jos. Blatter sagt:

    Hakan Demirs Artikel beginnen sich vom Migazin-Mainstream deutlich zu unterscheiden. Surft Migazin auf der turkoislamischen Welle, gleichsam als islamische Nachfolgeorganisation der alten Prawda, so muß man Demir eine durchaus eigenständige Sichtweise türkisch-orientalischer Politikstrategien assistieren. So kommen im obigen Artikel immer noch verwegene Haudegen wie Ismael Ertug oder gar Egemen Bagis zu Wort, immerhin Garanten, dass ein EU-Beitritt der Türkei, durch Abschreckung selbst der größten EP-Türkei-unterstützer, niemals stattfinden wird. Aber Hakan Demir selbst ist ein Mann der Vernunft., benennt klugerweise einzelne Demokratiedefizite türkischer Politik. Ich hoffe natürlich, dass sich die national-islamischen Politiker durchsetzen. Das ist die Garantie, dass selbst die hilfswilligsten Politiker in Deutschland und der EU, die Bevölkerung wird ja sowieso nicht gefragt, eine türkische EU-Mitgliedschaft ablehnen. Von den dümmlichen oder böswilligen Ausnahmen mal abgesehen. Je eher klar ist, die Türkei wird nie Mitglied der EU, desto früher wird eine Rückkehr in die Heimat stattfinden.

  9. Der Türke sagt:

    Natürlich gibt es immer noch Defizite in der Wahrung der Menschenrechte in meiner Heimat. Jedoch muss Hakan abi mir eine Sache näher erläutern. Gehört es zu einer Demokratie, dass einige Berufsgruppen wie z.B. Journalisten, Straffreiheit in jeder Instanz besitzen? Oder, lässt sich die Tat mit Strafbestand eines Journalisten mit der Pressefreiheit legitimieren?
    Ich, als Integrationsverweigerer bin nicht belesen genug um ein Urteil darüber zu fällen also sagen Sie es mir.

  10. Bierbaron sagt:

    @ Dönermann
    Sie schreiben: „Es kann nicht sein das Schröder Regierung für ung Merkel Regierung gegen mitgliedschaft der türkei in die EU sein kann.“

    Warum sollte das nicht sein können? Frau Merkel richtet sich (ausnahmsweise) in ihrer Haltung zu einem etwaigen Türkei-Beitritt nach der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes, welches immerhin (noch) Souverän dieses (noch ;-) ) wunderbaren Landes ist.
    Freilich ist Merkel in ihrem Verhalten wenig aufrichtig: Statt den Türken ganz klar zu sagen, dass deren Beitritt den Europäern nicht zu vermitteln ist und dementsprechend die Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden müssen laviert sie um einen Status Quo herum. Mit dieser, insbesondere den Türken unzumutbaren und beleidigenden Taktiererei wird die Stimmung in einem ohnehin schon äußerst xenophoben Land weiter aufgeheizt. Die Lage ist für beide Seiten katastrophal: Die Verhandlungen stagnieren während sich beide Seiten mehr und mehr voneinander abwenden. Die „neue Ostpolitik“ von Erdogan und Davutoğlu muss in meinen Augen in diesem Kontext verstanden werden.

    @ Der Türke

    Natürlich haben Journalisten keine Narren- und Straffreiheit – nicht in der Türkei und auch nicht in Europa. Wenn allerdings Journalisten, die ganz entschieden bei der Aufdeckung des Ergenekon-Skandals durch investigativen Journalismus mitgeholfen haben, nun wegen einer mutmaßlichen Verwicklung in ebendiesen Skandal belangt werden, dann schrillen nicht nur bei mir als freiheitsliebenden Demokraten die Alarmglocken….

    Grüße
    Bierbaron