Wahlen in der Türkei
Alles bleibt beim Alten!
Die religiös-konservative Regierungspartei AKP gewinnt haushoch - mit etwa 50 Prozent der Stimmen - die türkischen Parlamentswahlen. Jedoch verpasst sie damit gleichzeitig die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit.
Von Hakan Demir Montag, 13.06.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.06.2011, 10:59 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierungspartei AKP gewinnen die Parlamentswahlen mit etwa 50 Prozent der Stimmen und können damit ihr Ergebnis von 2007 merklich verbessern. Dennoch verliert die Partei Sitze im 550 Abgeordnete umfassenden türkischen Parlament. Denn während sie 2007 noch mit über 46 Prozent 341 Sitze innehatte, erhält die AKP nunmehr mit rund 50 Prozent 326.
Weitere Wahlergebnisse
Dies ist mit dem Wahlergebnis der übrigen Parteien zu erklären: So kann die sozialdemokratische CHP mit ihrem charismatischen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu an Stimmen dazugewinnen. Sie erhält etwa 26 Prozent, was einen Zuwachs von fünf Prozent im Vergleich zu 2007 bedeutet. Im Parlament spiegelt sich das in der Anzahl von 135 Abgeordneten wider, zuvor waren es noch 112 gewesen.
Darüber hinaus hat Erdoğan in seiner ersten Ansprache vor jubelnden AKP-Anhängern deutlich gemacht, dass er Ministerpräsident von allen 74 Millionen Bürgern sein wolle und sagte überdies: „Ob jemand der AKP seine Stimme gegeben haben mag oder nicht […] der Gewinner der Wahlen vom 12 Juni ist, ohne jeden Zweifel, die Türkei“.
Versöhnliche Worte waren am späten Abend auch vom Oppositionsführer der CHP Kılıçdaroğlu zu vernehmen: „Wir wünschen der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt [AKP] Erfolg, aber sie sollen eines nicht vergessen, es gibt eine stärkere CHP“.
Unterdessen hatten zwar Beobachter am Einzug der nationalistischen MHP in das Parlament wegen den kurz vor den Wahlen erschienen kompromittierenden Videos von hohen Parteifunktionären gezweifelt. Doch nun kam es anders. Die MHP gewinnt etwa 13 Prozent der Stimmen und stellt nun 53 Abgeordnete – 18 weniger als bei den Wahlen von 2007.
Die kurdische BDP – die unabhängige Kandidaten ins Wahlrennen geschickt hatte, um die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen – kann dagegen mit über 6 Prozent der Stimmen 35 Abgeordnete in das neue Parlament senden. Das stellt ein Plus von 10 Abgeordneten dar.
Sieg der Demokratie?
Das künftige Parlament umfasst damit, wie gehabt, vier Parteien und die AKP besitzt weiterhin keine Zwei-Drittel-Mehrheit, um Verfassungsänderungen im Alleingang durchzusetzen. Beispielsweise steht das ambitionierte Ziel Erdoğans im Raum, einen Systemwandel von einem parlamentarischen zu einem präsidentiellen Regierungstyp nach französischer Lesart durchzuführen.
Zu diesem Zweck besitzt die AKP die Möglichkeit, ein Referendum auf den Weg zu bringen oder mit einem der Oppositionsparteien zusammen zu arbeiten. Letzteres hat sie vor vier Jahren unter Beweis gestellt, als sie mit der MHP gemeinsam versuchte, das Kopftuchverbot aufzuheben. Allerdings erklärte das Verfassungsgericht unmittelbar darauf das Gesetz wieder für nichtig.
Eine Zusammenarbeit mit der CHP und BDP ist indessen ausgeschlossen. Denn weder die eine noch die andere Partei trauen der AKP über den Weg. Während die CHP am säkularen Charakter der AKP-Politik zweifelt, negiert die BDP völlig die Ernsthaftigkeit, womit die Lösung der Kurdenfrage angepackt wird. Grundsätzlich ist die AKP weiterhin gezwungen andere politische Kräfte am Entscheidungsprozess zu beteiligen, wenn sie essentielle Strukturen der türkischen Verfassung ändert. Das ist im Hinblick auf die demokratische Konsolidierung der Türkei positiv zu bewerten.
Auwirkungen auf den EU-Beitrittsprozess
Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei werden wohl weiterhin angespannt bleiben. Der größte Stolperstein, so wird oft vergessen, ist die Zypernfrage. Denn nicht wegen der Presse- und Meinungsfreiheit oder der Situation der Minderheiten in der Türkei liegt der Beitrittsprozess seit Ende 2006 weitestgehend auf Eis, sondern aufgrund der offenkundigen Diskriminierung der Türkei eines EU-Mitglieds.
Eine Lösung der Zypernfrage steht jedoch nicht in Aussicht. Denn Erdoğan möchte nicht als derjenige Ministerpräsident in die Geschichtsbücher eingehen, der ein sensibles Thema von Souveränität und Identität dem EU-Beitritt opferte. Ferner lehnt die Mehrheit der Türken ohnehin einen EU-Beitritt ihres Landes ab. Daher gibt es für die AKP wenig Anlass, auf die EU-Forderungen einzugehen, vor allem nicht in einer Zeit, in der die EU eine existenzielle Herausforderung durchlebt. Aktuell Meinung
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Danke Herr Demir, für ihre hoffnungsvollen Prognosen. Wichtig ist der letzte Absatz, “ lehnt die Mehrheit der Türken ohnehin einen EU-Beitritt ihres Landes ab“.
Damit sind Deutschland und die Türkei endlich wieder einig in diesem Punkt!
Die Türken, mit ihrem interessanten wirtschaftlichen Aufschwung, erkennen die Realitäten an- es gibt für sie keinen Platz in der europäischen Völkergemeinschaft, sie geht ihren religiös-islamischen Weg, als Führer einer IU(Islamischen Union).
Vielleicht bewirkt dieser Erfolg auch endlich viele Türken der deutschen Diaspora in ihre Heimat zurückzukehren, um den Aufbau der IU, unter turkoislamischer Führung, zu unterstützen.
Und, wer weiß? Vielleicht wird in gar nicht ferner Zukunft die IU zu einem angemessenen Partner der EU..
Alles bleibt beim Alten? Das glaube ich nicht! Wäre ja auch schlimm.
Herr Erdogan hat jetzt ein neues Mandat und das wird er nutzen. Er wird eine neue Verfassung ausarbeiten lassen und damit eine weitere Forderung der EU (und nicht nur der EU!!!) erfüllen.
Und Zypern: die Türkei ist doch nur einer von 5 Playern. Herr Demir tut so, als liege alles in der Hand der Türkei. Und gibt damit allerdings vielen griechischen, griechisch-zypriotischen und auch türkisch-zypriotischen Kritikern Recht.
Ich finde, der ganze Artikel sagt mehr über die Befindlichkeiten Herrn Demirs aus als über die Türkei (und die EU!)
Erdogan hat nicht ganz so hoch gewonnen, wie er vermutlich gerne gewonnen hätte, aber er hat eine komfortable Position. Die vier oder fünf Abgeordneten, die er noch braucht, kann er sich möglicherweise „kaufen“, zum Beispiel bei der MHP. Er kann aber auch über die Bande spielen und mit der BDP die Kurdenfrage regeln, sich dafür sein Präsidialregime in die Verfassung schreiben lassen. Es gibt schon noch ein paar checks and balances in der Türkei – aber die sind nicht sehr stark. Ich erwarte mir darum ein ziemlich autoritäres Regime von der AKP in den kommenden Jahren.
Als das größte Problem, mit dem es Erdogan zu tun bekommen wird, sehe ich die voraussichtlich nächstes oder übernächstes Jahr kommenden Wirtschaftskrise. Sollte der unvermeidliche Einbruch tief werden, wird Erdogan ins Trudeln kommen. Immerhin sind 50 Prozent der Bevölkerung ziemlich entschieden gegen ihn – und warten nur darauf, dass sich eine Schwäche zeigt.
Auch möglich, dass es nicht so schlimm kommt. Dann frage ich mich, wer oder was Erdogan irgend einen Widerstand entgegensetzen sollte? Er hat dann FAST ALLE Macht – denn die Gewaltenteilung in der Türkei fehlt bisher weitgehend.
Was nicht zu befürchten steht, ist das, was DENSUS phantasiert: eine Islamisierung. Gegen eine solche dürften die Türken als Volk ziemlich immun sein, auch wenn es Kräfte in der AKP geben sollte, die das Volk gern ein wenig islamisch bevormunden würden.
WERNERs naiven Optimismus kann ich allerdings ebenfalls nicht teilen. Unter Erdogan wird sich die Türkei Europa voraussichtlich nicht weiter annähern. Nicht aus religiösen Gründen, wie DENSUS glaubt, sondern weil Erdogan es nicht so sehr mit der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat und die diesbezüglichen Forderungen der EU nicht erfüllen will.
> WERNERs naiven Optimismus kann ich allerdings ebenfalls nicht teilen.
Herr Brux, ich weiß nicht, wo Sie jetzt naiven Optimismus sehen. Ich würde nur denken, dass die Türkei sich zu einer Annäherung an EU-Standards verpflichtet hat. Die Türkei hat um Aufnahme in die EU ersucht und den Beitrittsverhandlungen zugestimmt.
Die EU läßt es sich jedes Jahr viel Geld kosten, die Türkei bei der Übernahme des sog. „Aquis communitaire“ (sp?) zu unterstützen. Herr Erdogan hat erst kürzlich Herrn Barroso zugesichert, dass er nach der Wahl den Beitrittsprozeß beschleunigen werde.
Aber man eiß es natürlich nie.
PS:
Finden Sie es übrigens in Ordnung, dass Sie hier sowohl als Mitdiskutant und Administrator/Moderator auftreten? Es kann m.E. nicht sein, dass Sie einerseits mitdiskutieren und dann die Debatte moderieren. Zumindest hat es ein Geschmäckle!
Werner,
ich fände es auch bei den anderen Artikeln gut, wenn die Autoren sich den Lesern in der Diskussion stellen würden.
Das macht die Sache doch interessanter! Legitim ist es ohnehin.
Sie sollten außerdem beachten, dass ich mit offenem Visier auftrete und mich nicht hinter einer Maske bzw. hinter der Burka der Anonymität verstecke.
Zu Ihrem Einwand:
Ich hoffe eigentlich, dass Sie recht behalten. Aber ich habe Gründe genannt, warum ich pessimistisch bin. Ich traue Erdogan nicht. – Aber schauen wir mal, wie sich die Dinge weiter entwickeln, und falls SIE recht behalten sollten, werde ich meinen Irrtum offen eingestehen.
Etwas, das sich bald ändern könnte: Vielleicht steigt aufgrund der Entwicklungen im Nahen Osten die Neigung der EU, die Türkei doch etwas stärker an Europa zu binden – im europäischen Interesse. Das könnte in die Richtung wirken, die wir beide befürworten.
@Werner
ich muss ihnen recht geben. mit jeder zeile in herrn demirs artikel erkennt man, dass herrn demir lieber jemand anderes als die AKP/erdogan auf dem siegertreppschen gesehen hätte. vielleicht die kemalisten?
who knows!?
@ Leo Brux
Werner schrieb:
PS:
Finden Sie es übrigens in Ordnung, dass Sie hier sowohl als Mitdiskutant und Administrator/Moderator auftreten? Es kann m.E. nicht sein, dass Sie einerseits mitdiskutieren und dann die Debatte moderieren. Zumindest hat es ein Geschmäckle!
Sie bestehen doch sonst immer darauf, Antworten zu bekommen. Warum weichen Sie diesem Punkt aus ? Unbequem, was ?
An den Wahlen sieht man eindeutig; Auch das türkische Volk ist, wie ganz EU(ausnahme Grichenland) gehirngewaschen. Kein Wunder bei einem Fernsehkonsum von täglich fünf Stunden. Ein simpler Vergleich: Grichenland (11 mio) Ausgaben der Bevö. für Bücher = 1,8 Milliarden vorwiegend Geschichte dann Philosophie. Fazit; eine gesunde normale Entwicklung.
Türkei (74 mio) Ausgaben der Bevö. für Bücher = lächerliche 500 mio vorwiegend Moderne Romane, Modezeitschriften, Biographien.
So. Wenn so etwas der Fall ist, ist nicht die Bevölkerung verantwortlich. Hier läuft gewaltig etwas aus dem Ruder. Das System die Politik die Bildung ganz gleich welche von wem oder wessen Partei. Es ist völlig Gescheitert!
Wachstum ohne Barnachfrage ist Krebs!(85%der Bevölkerung hat mehrere Kreditkarten in der Tasche das ist verrückt und einzigartig auf der Welt!) Gleichzeitig ist der Aussenhandeldefizit seit Jahren enorm gestiegen. Warum sie beim Kreditrating positiv bewertet wird liegt an den enormen Bodenschãtzen. Nebenher wird aber zügig und fleisig an Auslånder Privatisiert.
Die Türkei geht ganz unruhigen Zeiten entgegen.
Zurück zum Artikel;
Wenn ich so etwas schon lese wie,“religiöse“. Herr Hakan Demir..Wo Leben Sie hinter dem Mond?
AKP Errungenschaften:
Ehebruch straffrei.
Schweinefleisch Pflichtverkauf.
Keine Islamkurse unter 12Jahren. Tora oder Bibelkurse aber frei.
AKP ist Alles. Religiös? nicht dass ich lache!
Die Türkei geht ganz unruhigen Zeiten entgegen.
ardenmus,
schauen Sie einfach mal etwas nach oben. Da steht die Antwort. Sind Sie nicht zufrieden damit? Dann sagen Sie uns, inwiefern.
Balthazar,
Hakan Demir geht es wir mir auch. Eigentlich haben wir beträchtliche Sympathien für die Leistung der AKP-Regierung und Erdogans. Aber wir haben angefangen, ihm zu misstrauen. Dafür gibt es Gründe, die Hakan Demir ebenso wie ich und eine ganze Reihe von deutschen Kommentatoren vorgebracht haben.
Wenn Ihnen diese Gründe nicht einleuchten – nun, wenigstens könnten Sie sie ernst nehmen. Sie kommen nicht aus der grundsätzlich türkenfeindlichen Ecke, auch nicht aus der kemalistischen Ecke. Oder wollen Sie jemand wie mich zum Kemalisten stempeln?
Die Wirklichkeit ist nicht schwarz-weiß – weder bei Atatürk noch bei Erdogan. Da gibt es Gutes und Schlechtes. Hakan Demir und ich sind zwei Leute, die mit sowas umgehen können.