Türkei
Erdoğan: „Von diesem Zeitpunkt an wird nur noch gehandelt!“
Nach dem Anschlag in der südöstlichen Stadt Hakkari vor zwei Tagen, bei dem acht türkische Soldaten getötet und 15 verletzt wurden, bewegt sich die Türkei auf eine interne Krise zu.
Von Hakan Demir Freitag, 19.08.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 23.08.2011, 4:56 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
In diesem Monat ist der Blutzoll, den die Türkei im Kampf gegen die PKK zu verzeichnen hat, auf 30 Soldaten gestiegen. Diese Zahl lässt leichthin auf die Intensität des Konflikts schließen, dem in den vergangenen 30 Jahren über 40 000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
Entsprechend reagierte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan: „Wir werden die Terroristen vom Volk trennen und die Macht des Staates aufzeigen“. Diesen Worten folgten am Mittwochabend massive Luftangriffe, die 168 Stellungen um das Kandil-Gebirge zum Ziel hatten. Zuvor hatte die Türkei die ausdrückliche Erlaubnis der iranischen Regierung eingeholt, um den iranischen Luftraum zu überfliegen.
Reaktionen
Die politische Elite in der Türkei reagierte auf den Anschlag mit Bestürzung: Erdoğan machte deutlich, dass die Türkei nun handeln werde. Rückendeckung bekommt er von der nationalistischen Partei MHP und ihrem Vorsitzenden Devlet Bahçeli: Die MHP sei bereit alle Aufgaben, die ihr zukommen, zu erledigen, um die Wurzel des Terrorismus auszugraben.
Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, kritisierte die AKP-Regierung, die es seit acht Jahren nicht schaffe, einen gesellschaftlichen Kompromiss und keine notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um den Terror in Griff zu bekommen. Darüber hinaus rief Kılıçdaroğlu zu einer Dringlichkeitssitzung des Parlaments auf.
Unterdessen forderte der Fraktionsvorsitzende der pro-kurdischen Partei Selahattin Demirtaş die Parteien auf, miteinander in Verhandlungen zu treten. „Sowohl mit Öcalan als auch mit der BDP können offene Verhandlungen geführt werden“, sagte Demirtaş.
Bereits im November 2007 hatte die Türkei die Grenze zum Irak auch mit Bodentruppen überquert, da terroristische Anschläge sich gehäuft hatten. Diese Möglichkeit besteht nunmehr auch. Ob dies allerdings hilft, die Anschläge der PKK einzudämmen, ist fraglich.
Fakt ist jedoch, dass in Zeiten der Waffenruhe, beispielsweise von 1999 – von der Gefangennahme des PKK-Führers, Abdullah Öcalan, bis Juni 2004 – die Türkei beträchtliche Schritte in der Minderheitenpolitik und insbesondere in der Kurdenproblematik machte. So wurden bereits im Oktober 2001 Artikel 26 zur Meinungsfreiheit und Artikel 28 zur Pressefreiheit der Türkischen Verfassung geändert, die nun den Gebrauch anderer Sprachen als Türkisch nicht mehr generell strafbar machten.
Überdies trat im Dezember die Verordnung über den Unterricht in verschiedenen Sprachen und traditionell von türkischen Bürgern in ihrem Alltag gesprochener Dialekte in Kraft. Somit konnte Kurdisch auch in Privatschulen gelehrt werden. In den folgenden Jahren wurden weitere Gesetze verabschiedet und seit Juni 2004 können – zwar hier noch zeitlichen Restriktionen ausgesetzt – Fernseh- und Radiosendungen in kurdischer Sprache ausgestrahlt werden. Seit Januar 2009 besteht überdies mit dem Namen TRT 6 ein staatlicher Sender, der ausschließlich auf Kurdisch sendet.
Sozioökonomische Probleme
Wirtschaftlich hinkt die Ost- und Südost-Türkei der westlichen Türkei aber weiter stark hinterher. Im Übrigen schwankt die Zahl der Binnenvertriebenen nach Einschätzungen der UN zwischen 378 000 und 1 000 000 Menschen.
Das System der Dorfschützer bleibt weiterhin bestehen, das nach EU-Einschätzungen verhindert, dass Vertriebene wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Das System der Dorfschützer war zum Kampf gegen die PKK vorgesehen, geriet jedoch zunehmend in Kritik, als bekannt wurde, dass im Mai 2009 auch Dorfschützer an dem Massenmord gegen eine Hochzeitsgesellschaft im Südosten des Landes, bei dem 44 Menschen starben, beteiligt waren.
Die Türkei hat außerdem das Übereinkommen zum Schutz von nationalen Minderheiten des Europarats nicht ratifiziert und bietet nicht zuletzt auch dadurch Angriffsfläche für diejenigen, die der AKP-Regierung ihre wohlwollende Politik gegenüber der kurdischen „Minderheit“ nicht abnehmen wollen.
Die Fortschritte in der Kurdenfrage zwischen 1999 bis 2004 zeigen jedoch, dass die Türkei bereit ist, das Problem zu lösen. Doch der Reformwille stockte wieder, nachdem die PKK am 1. Juni 2004 ihre einseitige Waffenruhe auslaufen ließ. So scheint die Vermutung richtig zu sein, dass der Terror eine Lösung der Kurdenfrage verhindert. Allein eine Waffenruhe könnte den Reformwillen der AKP-Regierung neu beflügeln. Doch diese Möglichkeit ist nun in weite Ferne gerückt. Aktuell Ausland
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Die Überschrift klingt nach: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“
Für dich vieleicht, für mich nicht.
Das klingt eher nach enough is enough.