Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Vielfalt und Interkulturalität im deutschen Bibliothekswesen
Die interkulturelle Bibliotheksarbeit steckt in Deutschland tief in den Kinderschuhen. Was sind die Ursachen, was die Folgen und wo gibt es gute Vorbilder? Ein Plädoyer für eine stärkere Bibliotheksarbeit, die Migranten gezielt ins Visier nimmt.
Von Wolfgang Kaiser Mittwoch, 05.10.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 11.10.2011, 11:01 Uhr Lesedauer: 14 Minuten |
„Bibliotheken arbeiten interkulturell oder sie sind nicht professionell.“
Das aus den 1970er Jahren stammende Zitat von Hubertus Schroer, dem ehemaligen Leiter des Stadtjugendamtes München 1, bezog sich ursprünglich auf die öffentliche Verwaltung und wurde hier auf Bibliotheken umformuliert. Bibliotheks- und Informationseinrichtungen sind sehr häufig öffentliche Einrichtungen und die Querschnittaufgabe interkulturelle Öffnung ist dabei noch relativ neu, da mit deren Umsetzung entweder noch nicht oder zu spät begonnen wurde.
Ulucan definierte 2008 interkulturelle Bibliotheksarbeit unter anderem als „eine tiefgreifende und grundlegende Veränderung im Selbstbild, Management und Personal der Bibliothek.“ 2 Doch bisher scheint dieser postulierte und geforderte Wandel in den allermeisten öffentlichen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum (noch) nicht Einzug gehalten zu haben. Fällt das Stichwort der interkulturellen Bibliotheksarbeit, scheinen Identitäten und Ethnien eine viel zu große Rolle einzunehmen, was eine statische Vorstellung suggeriert und der Entwicklung des Individuums hinderlich ist. 1
Würde der Versuch unternommen die stets geforderte Interkultureller Öffnung für Bibliotheken zu verwirklichen, sollte viel stärker und als bisher „das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Lebensformen und Unterschiede des Geschlechtes, des Alters, der Religion, der sexuellen Orientierung, der körperlichen Ausstattung, der sozioökonomischen Lage, aber auch der Unterschiede zwischen verschiedenen Betriebs- oder Verwaltungskulturen“ 3 innerhalb der Organisationskultur der eigenen Einrichtung berücksichtigt werden. Bislang ist dieser Zustand mitnichten erreicht.
Vom Erwerb Interkultureller Kompetenzen bei BibliothekarInnen an wissenschaftlichen Bibliotheken
Bei Themenpanels und Tagungen zur Interkulturellen Bibliotheksarbeit wurden durch den Autor bisher kaum HochschulbibliothekarInnen gesichtet. Warum eigentlich dieses vermeintliche Desinteresse für die Interkulturalitäts- und Diversitätsthematik?
Die derzeit hochaktuellen Debatten, um die Anwerbung durch Fachkräfte aus dem Ausland und die Bedingungen eines Arbeitsaufenthaltes ausländischer Absolventen nach ihrem Studium zu verbessern machen deutlich, dass die „Politik“ sich zunehmend über ihr 4 sogenanntes Brain Gain- Potenzial bzw. ihre bereits entgangenen „Brain-Drain“ Fachkräfte ernsthaft Gedanken macht. Viele Hochschulen unterhalten Büros zur Internationalisierung ihrer Einrichtung und werben gezielt in den Partnerländern um neue Studenten. Dies wirkt sich auch auf die NutzerInnen von wissenschaftlichen Bibliotheken aus, deren Vielfalt nach wie vor unterschätzt wird. Doch inwieweit erwerben BibliothekarInnen an wissenschaftlichen Bibliotheks- und Informationseinrichtungen interkulturelle Kompetenzen? Bisher sind dem Autor trotz intensiver Nachfragen kaum Universitäten und Fachhochschulen bekannt, die ihre BibliotheksmitarbeiterInnen dahingehend weiterbilden. Laut Yasemin Karakaşoğlu fehlt es an einer Willkommenskultur an deutschen Hochschulen 5 und somit an deren Bibliotheken. Universitäts- und Fachhochschulbibliotheken sind heute aufgrund der Attraktivität der Lernumgebung und eines veränderten Lernverhaltens interkulturelle Orte.
Plädoyer für mehr Vielfalt an bibliotheks- und informationswissenschaftliche Ausbildungseinrichtungen:
Bei einer näheren Betrachtung von Leitbildern vieler Fachstellen und Bibliotheken ist der Begriff Interkulturalität bzw. interkulturelles Handeln bisher viel zu selten verankert 6 bzw. auf den Bibliothekskontext hin konkreter definiert. Der imagebildenden Außenwirkung sollte mehr Beachtung geschenkt werden, da die Heterogenität der pluralistischen Gesellschaft oftmals in monokulturellen Organisationen wie etwa Bibliotheken noch zu wenig Wertschätzung erfährt. Eine imagefördernde Außenwirkung würde zu einer stärkeren Betonung der Offenheit und Aufgeschlossenheit der Institution Bibliothek gegenüber Allen führen.
Viele BibliothekarInnen entdecken nun mehr und mehr das Vorhandensein von KollegInnen mit Zuwanderungsgeschichte und mehrsprachigem Hintergrund. Die Stadtbibliothek Köln hatte vor kurzem ihr schlummerndes Potential an MitarbeiterInnen mit mehrsprachigem Hintergrund zum Leben 7 erweckt. Wie viele Menschen mit Zuwanderungshintergrund ergreifen Jahr für Jahr den Beruf des Bibliothekars? Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien ist es für Quereinsteiger schwer eine Arbeit an Bibliotheken zu bekommen, wenn sie nicht im Nachhinein eine Ausbildung oder ein Masterstudium aufnehmen. Bislang gibt es an den Hochschulen eine noch viel zu geringe Anzahl an jungen Leuten mit mehrsprachigem Zuwanderungshintergrund, die diesen Beruf durch ein Studium ergreifen wollen. Nicht nur bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gibt es Bedenken, was das Ergreifen des Berufs Bibliothekar betrifft. Es ist nicht zuletzt der mangelnden Attraktivität des Berufes Bibliothekar geschuldet.
Die im Juni veröffentlichte repräsentative Ver.di-Umfrage 8 hat deutlich gezeigt, dass die Vertreter des Berufsstandes alles andere als zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind. Zufriedenheit, Begeisterung, Anerkennung und Verbundenheit waren bei den meisten teilnehmenden BibliothekarInnen mit ihrem Arbeitsplatz nur schwach ausgeprägt. Deren Arbeitssituation liegt nahe an “Schlechter Arbeit“. Solange sich diese Bedingungen nicht verbessern, wird es schwer werden Menschen mit Zuwanderungshintergrund für einen Beruf zu gewinnen, der im Vergleich zu anderen Studienberufen nicht besonders gut bezahlt ist, zweitens eine Deprofessionalisierung 9 aufweist und drittens äußerst geringe Aufstiegschancen 10 bietet. Außerdem mangelt es bislang an Ausbildungseinrichtungen und an Hochschulen für angehende BibliothekarInnen an Initiativen, die darauf abzielen die Öffentlichkeitsarbeit so auszurichten, dass tatsächlich die kulturelle Vielfalt erhöht wird. Welche Chancen für ein stärkeres Marketing zur Rekrutierung solcher StudentInnen und Auszubildenden ergeben sich daraus für Hochschulen und Bibliotheken?
In Dänemark wurde 2006 eine speziell an Migranten gerichtete Kampagne ins Leben gerufen, welche darauf abzielte junge Dänen mit mehrsprachigem Zuwanderungshintergrund zu ermutigen Bibliothekswesen bzw. Bibliotheks- und Informationsmanagement zu studieren. Das dänische Ministerium für Flüchtlings-, Zuwanderungs- und Integrationsangelegenheiten hatte diese Kampagne in Zusammenarbeit mit der Royal School of Library and Information Science, der dänischen Gewerkschaft für BibliothekarInnen und deren Abteilung Cross-Cultural-Librarianship (BITA) ins Leben gerufen. Die Verbreitung dieser Kampagne geschah vor allem in Bibliotheken, in der der Anteil der Bevölkerung mit Zuwanderungshintergrund überdurchschnittlich ist. Vor dem Lancieren dieser Rekrutierungskampagne gab es jährlich nur etwa ein bis zwei Studenten, welche einen sogenannten Migrationshintergrund hatten. Ab 2006 erhöhte sich der Anteil auf etwa 9 BewerberInnen 11.
Das folgende Imagebild war Teil der Kampagne und sollte speziell junge Menschen mit Zuwanderungshintergrund ansprechen:
- w3-mediapool (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- Ulucan (2008): Interkulturelle Bibliotheksarbeit in Öffentlichen Bibliotheken: Plädoyer für einen Mentalitätswandel am Beispiel Berlins, S. 15
- content-zwh.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- igad.rwth-aachen.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- dradio.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- fachstellen.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- opus-bayern.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- verdi-gute-arbeit.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- Strzolka, Rainer (2008): »Wir deprofessionalisieren uns selbst!«. Befristete Stellen, Niedriglohn, Ehrenamt: Rainer Strzolka prangert die Prekarisierung bibliothekarischer Arbeit, S. 148 (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- biwifo.verdi.de (letzter Zugriff: 12.08.2011)
- Kaiser, Wolfgang (2008): Diversity Management. Eine neue Managementkultur der Vielfalt – für ein neues Image der Bibliotheken, S. 91 f.
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In unserer Institutsbibliothek in einer baden-württembergischen Großstadt sind wir von 14 Mitarbeitern 3 mit Migrationshintergrund. :-)
Mir ist aber in letzter Zeit häufiger der Gedanke gekommen, dass bei uns einiges anders (ähm, besser!) zu sein scheint, als im deutschen Durchschnitt. So sind wir ebenfalls gut durchmischt was Alter, Ausbildung und Milieus angeht und legen Wert auf flache Hierarchien. Ich glaube, wir profitieren ungemein davon: Nicht nur persönlich, sondern auch fachlich was unsere Dienstleistungsqualität und die Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen betrifft.
Danke für ihr Feedback. Beim genaueren Nachdenken würde ich künftig den Begriff Migrationshintergrund oder Zuwanderungshintergrund etwas genauer definieren. Er ist ja an sich auch sehr schwammig und im Prinzip haben sehr viele Menschen einen solchen Hintergrund. Mir geht es vor allem um Menschen mit mehrsprachigem Hintergrund und dazu zählen auch Sorben und Sinto u. Roma, die schon seit vielen Jahrhunderten hier leben: „Ein Migrationshintergrund liegt vor, wenn 1. die Person nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder 2. der Geburtsort der Person außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt und eine Zuwanderung in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte oder 3. der Geburtsort mindestens eines Elternteiles der Person außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt sowie eine Zuwanderung dieses Elternteiles in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte. Somit gehören auch Spätaussiedler und deren Kinder zu den Personen mit Migrationshintergrund.“ So haben hier geborene Familienmitglieder von mir einen solchen Hintergrund, obwohl ihnen das kaum bewußt ist, aber die Statistik macht sie zu Bindestrichdeutschen. M.Terkessidis schrieb in seinem Buch „Interkultur“, dass die Stadt Amsterdam nicht zwischen den Allochthonen und Autochthonen eine Unterscheidung in den Statistiken auf kommunaler Eben vornimmt. Dies wäre ein Schritt zur „Normalität“, die es leider bei uns noch nicht gibt. Es würde mich fast einmal interessieren, in welcher Einrichtung sie arbeiten, ob diese vielleicht eher privat und weniger öffentlich ist. Oftmals kommt es natürlich darauf an, ob die Chefetage aufgeschlossen genug ist ein solches Arbeitsumfeld zu fördern, dass nicht nur aus Frauen im etwa gleichen Alter besteht, sondern so ist, wie Sie es eben beschrieben haben. In der Verbandspolitik in den USA, GB und anderswo wird eine gezielte Förderung betrieben und es gibt ein „Intercultural Mainstreaming“.
“Intercultural Mainstreaming”. Welch grauenhafte Wortschöpfung.
@ Naja: was wäre Ihr Gegenvorschlag? Kulturelle Segregation?
„Intercultural Mainstreaming“ ist eben der Fachausdruck, aber kulturelle Segregation war vermutlich ein Scherz von Ihnen, denn es handelt sich um das krasse Gegenteil, wie es (gelegentlich) in Bibliotheken (nicht nur) hierzulande indirekt und vermutlich unbeabsichtigt der Fall ist bzw. es hat indirekt Konsequenzen, die aus der Ignoranz gegenüber Mitbürgern erwachsen, die von vielen „Biodeutschen“ oftmals nicht als gleichwertige Partner und Nachbarn wahrgenommen und behandelt werden. Denn viele der alteingeßenen und „alten“ BibliothekarInnen sehen, um es mit den Worten Heinz von Foersters zu sagen: „Wir sehen nur, was wir sehen. Wir sehen nicht, was wir nicht sehen.“
Es fehlt eine positive Kultur des Vertrauens und des gegenseitigen Respekts, der auch gelegentlich in Bibliotheken noch nicht ausreichend gefördert und gewürdigt wird. Was die Verbreitung und Förderung einer plurikulturellen und interkulturellen Mitarbeiterschaft und ebenso der Nutzerschaft von Bibliotheken angeht, gibt es insbesondere in diesem Bereich des öffentlichen Dienstes noch erheblichen Nachholbedarf. Nicht überall wo „interkulturell“ als Slogan oder als Programm einer Bibliothek verwendet wird, ist auch „interkulturell“ drin bzw. wird Interkulturalität und Transkulturalität tatsächlich gelebt und wirklich ausgeübt. Jeder Bürger hat das Recht an seine öffentlichen Bibliothek vor Ort Verbesserungsvorschläge zu richten, sich ehrenamtlich in einem Bibliotheksförderverein zu engagieren und seine Umsetzungswünsche tagtäglich zu formulieren und eine ausgewogenen Bestand zu fordern, da Bibliotheken steuerfinanzierte Einrichtungen sind, die allen offen stehen sollten, die hier leben. Aus diesem Grund hat jeder das Recht die Bibliothek an seinem Wohnort nutzerorientierter und gerechter zu gestalten und an seinen BibliothekarInnen und Stadträte heranzutreten und Vorschläge und Wünsche anzubringen, sofern er mit der bisherigen Situation nicht zufrieden war bzw. ist.