Im Gespräch mit Prof. Merz-Atalik
Überrepräsentanz von Migrantenkindern auf Förderschulen
Die Debatte über problematische Migrantenkinder verstärkt die stereotype Vorstellung, dass diese Kinder schwieriger zu fördern sind. Entsprechend landen sie eher in Förderschulen, sagt Prof. Merz-Atalik im Gespräch – Teil 3/6 des MiGAZIN Dossiers: Inklusion.
Von Donja Amirpur Montag, 12.12.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 22.12.2011, 14:15 Uhr Lesedauer: 11 Minuten |
Donja Amirpur: Frau Professorin Merz-Atalik, Sie arbeiten schon länger zu der Frage, inwiefern Schulen, die integrativ bzw. inklusiv arbeiten, sich mit den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Migrationshintergrund befassen. Was sind Ihre Erkenntnisse?
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Kerstin Merz-Atalik: Bei meiner Forschung in Berlin war meine Ausgangsthese: Arbeiten Schulen inklusiv oder integrativ, fördern sie also alle Kinder aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse, dann müssten sie auch bei Kindern mit Migrationshintergrund diese besonderen Bedürfnisse erkennen und für die Planung und Gestaltung von Lernprozesses berücksichtigen. Ich habe dann mit einer Studie feststellen müssen, dass das nicht unbedingt so ist. Viele Lehrkräfte sagen, wir machen einen integrativen Unterricht. Integrativ, weil ich besondere Lernbedürfnisse berücksichtige. Aber sie haben sich gar nicht intensiv mit der Frage befasst, welche besonderen Lernbedürfnisse denn Kinder mit Migrationshintergrund haben könnten.
Amirpur: Und so sind Sie dann auf die Überrepräsentanz von Kindern mit Migrationshintergrund an Förder- bzw. Sonderschulen gestoßen?
Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik hat Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt „Rehabilitationspädagogik“ studiert. Nach dem Studium hat sie fünf Jahre an Berliner Grundschulen als sozialpädagogische Einzelfallhilfe die Integration von Kindern mit einem Förderbedarf im Bereich „Lernen“ oder „soziale und emotionale Entwicklung“ unterstützt. Seit 2004 ist sie Professorin für Allgemeine und Rehabilitationspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen auf der Entwicklung inklusiver Schulen, der Teamarbeit und Kooperation von PädagogInnen im inklusiven Unterricht und der Inter/Transkulturellen Pädagogik/Kommunikation. Im Rahmen dieser Schwerpunkte hat sie vielfältige Modellprojekte wissenschaftlich begleitet und geforscht.
Merz-Atalik: Genau, ich konnte die schon von anderen beschriebene große Überrepräsentanz insbesondere an Förderschulen mit dem Schwerpunkt ‚Lernen‘ auch für Berlin bestätigen, habe dann aber auch festgestellt, dass es da noch mal sehr stark zwischen den Herkunftsgruppen variiert. Es gibt Herkunftsgruppen aus Albanien oder Bosnien, die besonders stark von einer Benachteiligung betroffen sind, und es gibt welche, bei denen man eine geringe Benachteiligung feststellt. Es hat also nicht nur generell mit dem Migrationshintergrund zu tun, sondern bei Kindern aus bestimmten Herkunftsländern ist die Tendenz, sie an Förderschulen zu überweisen, noch größer als bei anderen. Insbesondere bei Kindern aus muslimischen Herkunftsländern und bei Jungs. Seit 2007 gibt es eine ganz interessante Studie aus der Schweiz, die das für die Schweiz auch belegt: Lehrerinnen und Lehrer tendieren bei Kindern mit einem bestimmten Migrationshintergrund eher dazu zu sagen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Kinder an Regelschulen entsprechend zu fördern. Diese Kinder werden dann dementsprechend an Förderschulen überwiesen.
Amirpur: Was für eine Studie war das genau in der Schweiz?
Merz-Atalik: Der Forscher Lanfranchi hat fiktive Gutachten über Kinder geschrieben, hat sie nur variiert nach Geschlecht, Herkunftsland der Familien sowie nach dem Beruf des Vaters. Das Gutachten über die Lernschwierigkeiten bzw. die Probleme im emotionalen und sozialen Bereich blieb aber das gleiche. Diese Gutachten hat er einer großen Zahl von Sonderpädagogen gegeben und sie nach einer Empfehlung zur weiteren Beschulung des Kindes gefragt. Es kam heraus, dass albanische Jungs zu 80 Prozent in Sonderschulen überwiesen worden wären, das gleiche Gutachten aber über ein schweizerisches Mädchen mit einem Vater in einer Leitungsposition führte oftmals zur Empfehlung einer zusätzlichen außerschulischen Unterstützung und keiner Zuweisung zu einer sonderpädagogischen Maßnahme oder Schule. Das hat meine Erfahrungen bestätigt: Kinder, die eine Behinderung oder Lernbeeinträchtigung haben und zusätzlich einen Migrationshintergrund, die sind besonders benachteiligt in unserem Bildungssystem.
Amirpur: Das heißt, dass die ethnische Herkunft als Behinderung angesehen wird?
Merz-Atalik: Das ist die eine Interpretation. Meine Interpretation ist eher, dass Lehrer, wie in jedem anderen Beruf auch, dazu neigen, die Komplexität in ihrem Berufsalltag zu reduzieren. Und um so mehr wir über Migrantenkinder schreiben und hören, wie problematisch sie sind, vor allem bei Kindern aus bestimmten Herkunftsländern, um so stärker wächst die stereotype Vorstellung davon, dass diese Kinder schlecht und schwieriger zu fördern sind. Letztendlich entscheiden ja Lehrkräfte darüber, ob das Kind in ihrem Unterricht gefördert wird oder in einer Förderschule beschult wird.
Amirpur: Wie gestaltet sich denn eigentlich der Weg auf eine Förderschule?
Merz-Atalik: In der Grundschule wird festgestellt, dass ein Kind Lernschwierigkeiten hat. Dann gibt es in den meisten Bundesländern eine sonderpädagogische Beratung, die hinzugezogen werden kann zur Diagnose und der Beratung bei der Frage nach dem Förderansatz bzw. Förderort. Oftmals ist es aber so, dass die Kinder zu dem Zeitpunkt schon solche Lücken haben, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass sie versetzt werden können. Dann entscheiden eben viele Kollegen, das Kind auf eine Förderschule für Lernbehinderte zu überweisen, weil dort das Curriculum ja ein anderes ist. Denn dort müssen die Kinder nach dem zweiten Schuljahr noch nicht die gleichen Leistungen erbringen wie an der Regelschule. Das ist aber auch gleichzeitig das Problem unseres Bildungssystems. Kinder mit Migrationshintergrund sind systematisch von einer strukturellen Diskriminierung betroffen, weil sie nämlich im ersten Schuljahr eingeschult werden und dann gleichzeitig mehrere Lernherausforderungen haben: Einmal die akademischen Lernziele gemäß dem Bildungsplan im Unterricht, aber häufig gleichzeitig den Spracherwerb in der Zweitsprache Deutsch und die Fortsetzung des Spracherwerbs in der Erst – bzw. Muttersprache. Man sieht einfach nicht, dass die Kinder oft doppelte Leistungen erbringen müssen.
Amirpur: Sie werden aber an den deutschsprachigen Kindern gemessen in ihren Leistungen.
Merz-Atalik: Das ist das Problem. Daher gibt es dann eben diesen Schnitt: Wenn die Kinder bis zum Zeitpunkt der Versetzungsentscheidung bestimmte Leistungen nicht erreicht haben, bleiben sie oftmals auch dann erstmal sitzen. Und schließlich kommt dann – manchmal z.B. wegen einer sogenannten „Überalterung“ in der Primarstufe – die Überweisung auf die Förderschule. Aktuell Gesellschaft Interview
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Wenn mehrsprachige Kinder mit vier Jahren in einen monolingualen deutschsprachigen oder auch in einen bilingualen Kindergarten kommen, in dem neben handlungsbegleitendem Sprechen auch Kinderliteratur zur Förderung ihrer Sprachfähigkeit beiträgt, so zeigen sie bis zum Schuleintritt keine sprachlichen Defizite gegenüber monolingualen Kindern.
Sehr gut dokumentierte Testverfahren an der Universität Hamburg haben gezeigt, dass sich eine Sprachbehinderung nicht nur in der Primärsprache, sondern auch in der Sekundärsprache zeigt. Insofern ist nichts gegen monolinguale deutschsprachige Testverfahren einzuwenden, unter der Voraussetzung, dass sie, wie der aktuell bei Hogrefe erschiene Test LiSe-DaZ. (Schulz, P & Tracy, R.) auch für mehrsprachige Kinder geeicht ist.
Sollten sich jedoch bei diesem Verfahren Auffälligkeiten zeigen, so gibt es mehrere Verfahren, die zusätzlich Auskunft über die Sprachfähigkeit der Kinder in ihrer Primärsprache geben, wie das mehrsprachige-Esgraf-Verfahren, das Professor Motsch aktuell an der Universität Köln entwickelt hat..
Wichtig ist jedoch, worauf Prof. H.H. Reich von der Universität Landau hinweist, dass Diagnostik nicht zur Aussonderung von Kindern eingesetzt werden sollte, sondern die Basis zu ihrer Förderung darstellt.
Und die sollte, in welcher Sprache auch immer, bereits so früh wie möglich im Elternhaus beginnen.
Rita Zellerhoff
Nicht Mehrsprachigkeit führt zu Lernversagern, sondern fehlende Sprachkenntnisse bei Schuleintritt.
Die Lösungen dafür müssen in der Phase vor Schuleintritt greifen.
Wenn ich bedenke das Ausländer in den 70 er generell nach der Grundschule zu meist die Empfehlung zur Sonderschule bekamen.In vielen fällen war es nicht die Lernschwierigkeit der Kinder sondern das fehlen der Deutschen Sprache als solches.
Zu meinem damaligen Freund meinte die Lehrerin,du wirst sowieso in deine Heimat zurückkehren.Sie hatte Unrecht heute ist mein alter Schulfreund Bauunternehmer mit 300 Mitarbeitern.
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Man kann getrost davon ausgehen, dass jede Maßnahme, die als Förderung daher kommt, in Wahrheit Aussonderung bedeutet. Etwas anderes zu glauben, wäre naiv. Distanz durch Nähe ist das Motto. Man schaut den Kindern so lange auf die Finger, bis ein Makel erkennbar wird. Dann fördert man die Kinder platt. Nur wer beste Voraussetzungen mitbringt, übersteht diesen Test-Marathon.
Es bleibt zur Zeit nichts anderes übrig, als dieses Spiel mitzumachen und alle Hürden, die der Deutsche aufstellt, zu überspringen. So lange, bis die Gruppe der Entscheidungsträger wirklich repräsentativ ist und den Interessen aller Bevölkerungsgruppen gerecht wird.
Bis dahin gilt im Umgang mit Schulvertretern die Faustregel: Je breiter das Lächeln der Pädagogin, desto mehr hat sie noch auf der Pfanne. Vorsicht! Keine Zusagen machen! Immer erst mit Vertrauenspersonen beraten!
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