Alexander Bürgin
Von der Türkei nach Deutschland – und umgekehrt
Eine internationale Tagung in Istanbul hat das Thema "Transnationale Migration" zwischen den beiden Ländern untersucht - Assist. Prof. Dr. Alexander Bürgin erklärt, welche Faktoren die Wanderung begünstigen.
Von Margret Karsch Dienstag, 10.01.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.01.2012, 7:44 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland – das Jubiläum am 30.10.2011 beschäftigt immer noch Politik und Medien, wie schon seit Wochen. Das gilt für Deutschland wie für die Türkei. In Istanbul hat aus diesem Anlass das Goethe-Institut gemeinsam mit unterschiedlichen Partnern eine Vielzahl von Veranstaltungen organisiert: etwa die Filmreihe „Der andere Blick“, die deutsche und türkische Filme zu den durch Migration entstandenen Bindungen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zeigte, die Ausstellung „Fiktion Okzident“, die den künstlerischen Austausch beleuchtete, sowie – gemeinsam mit dem Orient-Institut und der Bilgi Universität – die Tagungen „Transnationale Migration“ und „Migration und Literatur“.
Bereits in den späten 1950er Jahren hatte die Bundesrepublik Deutschland mit verschiedenen Ländern Anwerbeabkommen geschlossen, um Arbeitskräfte ins Land zu holen. 1973 endeten die Abkommen vor dem Hintergrund der Ölkrise. Heute leben dem Statistischen Bundesamt zufolge rund 2,8 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, sind also selbst aus der Türkei zugewandert oder haben mindestens ein Elternteil, das zugewandert ist. 1,1 Millionen von ihnen tragen den deutschen Pass in der Tasche. In manchen Stadtteilen im Ruhrgebiet haben 80 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.
Lange interessierten sich Forschung und Medien nur für Deutschland als Migrationsziel, inzwischen ist auch die Türkei ins Blickfeld gerückt. Das lässt sich auch damit erklären, dass durch den demografischen Wandel insbesondere der Bedarf an Fachkräften wächst und gleichzeitig von diesen bereits einige Türkischstämmige Deutschland Richtung Türkei verlassen haben. Rund 160.000 EU-Bürger leben in der Türkei, etwa 80.000 von ihnen sind Deutsche, so Ege Erkoçak vom Türkischen Ministerium für EU-Angelegenheiten. In Istanbul gibt es einen Rückkehrerstammtisch und verschiedene Treffpunkte von gut qualifizierten Deutschtürkinnen und -türken. Yaşar Aydın vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut spricht in diesem Zusammenhang von einer „jungen Almancı-Szene“, deren Angehörige sich als Weltbürger verstehen.
Die Forschung in den 1980er Jahren hat viel darüber diskutiert, ob Migrantenselbstorganisationen, von denen es laut Hadan Aksünger von der Universität Münster ungefähr 11.000 mit türkischem Hintergrund in Deutschland gibt, eher integrationsfördernd oder -hemmend wirken. Bei der sogenannten Esser-Elwert-Kontroverse stritten die Forscher darüber, ob solche Zusammenschlüsse in eine „ethnische Mobilitätsfalle“ führten oder die Integration, verstanden als Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern, durch Binnenintegration gefördert werde. Und zwar indem die Mitglieder Selbstbewusstsein entwickeln, Alltagswissen austauschen und auch als „pressure group“ auftreten könnten.
Die Tagung reflektierte die vergangene Forschung, konzentrierte sich aber auf den neueren Forschungsansatz der „transnationalen Migration“, den Ludger Pries von der Ruhr-Universität Bochum und Thomas Faist von der Universität Bielefeld vorstellten. Thomas Faist betonte die Bedeutung der Transnationalität als Unterscheidungsmerkmal: Menschen mit grenzübergreifenden Bindungen in verschiedene Staaten, und sei es nur mental, leben in spezifischen Lebenswelten. Aber sie sind nicht nur verschiedenen Kulturen oder einigen ihrer Elemente verhaftet und besitzen spezifische Kompetenzen, sondern unterliegen auch den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen. So entstehen transnationale soziale Räume. Transnationalisierung ist ein Staatsgrenzen übergreifender Prozess, der in Familien, Sozialstrukturen und Netzwerken abläuft sowie diese beeinflusst.
Interview
Margret Karsch: Bislang weiß die Forschung wenig darüber, wie viele hoch Qualifizierte mit türkischem Migrationshintergrund Deutschland verlassen und in die Türkei gehen – und warum sie dies tun. Was genau ist das Problem bei der Datenlage?
Alexander Bürgin ist Junior-Professor an der Izmir University of Economics, Türkei. Lesen Sie auch „Visumspflicht für Türken – Befürworter in der Defensive“ von Alexander Bürgin.
Alexander Bürgin: Die Daten werden schlicht und einfach weder in Deutschland noch in der Türkei genau nach diesen Kriterien erhoben. Hinzu kommt: Wer Deutschland verlässt, meldet sich nicht immer beim Einwohnermeldeamt ab, viele Fortzüge werden also nicht registriert. Und es melden sich auch nicht alle in der Türkei an, die dort hinziehen.
Was sagen denn die offiziellen Zahlen?
Bürgin: Dem Migrationsbericht zufolge gibt es rund 40.000 gemeldete Abwanderungen pro Jahr aus Deutschland in die Türkei. Die Zahl ist seit 2000 ziemlich konstant geblieben. Daraus ist aber weder ersichtlich, wie viele türkischer Herkunft oder Deutsche sind, noch ob es sich um hoch oder niedrig Qualifizierte handelt, oder um Rentner oder um Menschen, die in der Türkei arbeiten wollen. Der Bevölkerungstatistik der Türkei zufolge wanderten im Jahr 2000 knapp 74.000 Personen aus Deutschland in die Türkei aus. Die Diskrepanz zu den deutschen Zahlen könnte an den erwähnten nicht gemeldeten Fortzügen liegen.
Von Seiten der Politik besteht doch bestimmt ein Interesse daran, das zu erfahren. Gibt es Bestrebungen, diese Merkmale und Motive in Zukunft genauer zu erfassen?
Bürgin: Über solche Pläne des Statistischen Bundesamts ist mir nichts bekannt. Eine Umfrage von Future.org hat festgestellt, dass sich 38 Prozent der hoch Qualifizierten mit türkischem Migrationshintergrund vorstellen können auszuwandern. Sich etwas vorstellen zu können, heißt nun noch nicht, es auch in die Tat umzusetzen. Allerdings: Die Abwanderungsneigung auch unter deutschen Akademikern hat zugenommen. Seit 1970 hat sich die Zahl der ausgewanderten Personen pro Jahr verdreifacht. Gründe dafür sind die gestiegene Internationalisierung, Mobilität und Flexibilität sowie die Tatsache, dass in Deutschland die Löhne stagnieren. Zu dem Thema laufen gegenwärtig einige Forschungsprojekte.
Was sind denn die Gründe, die Menschen mit Migrationshintergrund dafür angeben, dass sie in die Türkei gehen?
„Es ging nicht vorrangig darum, Deutschland zu verlassen, sondern es sprachen einfach mehr persönliche Gründe dafür, die Türkei als neuen Lebensmittelpunkt zu wählen.“
Bürgin: Ein wichtiger Grund, der vor allem in den deutschen Medien immer wieder genannt wird, ist die Benachteiligung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Viele Statistiken deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund diskriminiert werden. So liegt die Arbeitslosigkeit laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2007 bei Akademikern mit Migrationshintergrund bei 12,5 Prozent während sie bei Akademikern ohne Migrationshintergrund nur 4,4 Prozent beträgt. Die OECD ist auch zu dem Ergebnis gekommen, dass Migranten bei gleicher Qualifikation 30 Prozent weniger Einladungen zu Vorstellungsgesprächen erhalten und nur ein Drittel der geringeren Erwerbsbeteiligung durch niedrigere Schulbildung erklärt werden kann.
Sie forschen gegenwärtig ja selbst zu den Motiven. Was haben Sie herausgefunden?
Bürgin: Meine Befragung, die ich online durchführe, läuft noch, ich habe erst 68 Antworten vorliegen. Aber daraus geht bislang hervor, dass sich etwa die Hälfte der Befragten im Arbeitsleben schon einmal diskriminiert gefühlt hat, diese Erfahrungen für die große Mehrheit aber keine Rolle gespielt haben bei der Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Vielmehr waren private oder berufliche Gründe ausschlaggebend, etwa Partnerschaft und Familie. Es ging nicht vorrangig darum, Deutschland zu verlassen, sondern es sprachen einfach mehr persönliche Gründe dafür, die Türkei als neuen Lebensmittelpunkt zu wählen.
Was macht die Türkei so attraktiv – abgesehen davon, dass dort die Partnerin oder der Partner lebt und das Wetter besser ist?
Bürgin: Die Türkei verzeichnet seit zehn Jahren nach China die höchsten Wachstumsraten weltweit. Die Zahl der in der Türkei tätigen deutschen Unternehmen steigt rasant und liegt nun bei knapp 4.000. Insbesondere für solche Unternehmen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interessant, die sich kulturell in beiden Ländern bewegen können und beide Sprachen beherrschen.
So wie diese Bikulturellen sich hinsichtlich ihrer Eigenschaften wie zum Beispiel ihrer Ausbildung unterscheiden, so unterscheiden sich auch ihre Lebensumstände in der Türkei. Lassen sich dennoch allgemeine Aussagen treffen, wenn man nun einmal nur die – immer noch heterogene – Gruppe der hoch Qualifizierten betrachtet?
„Es verwundert schon, wenn die Bundesregierung einerseits verkündet, die Potenziale von Jugendlichen aus Migrantenfamilien besser fördern zu wollen und die kulturelle Viefalt als eine Chance für Deutschland darstellt, aber andererseits verlangt, dass Kinder ausländischer Eltern, die hier in Deutschland geboren wurden, sich mit Erwerb der Volljährigkeit entscheiden müssen, welche Nationalität sie wählen.“
Bürgin: Meine Umfrage hat ergeben, dass es da Licht und Schatten gibt. Zum Teil bestehen große Anpassungsschwierigkeiten, mir wurde von erheblichen Mentalitätsunterschieden zu den einheimischen Türken berichtet. Oft bewegen sich die Zuwanderer deshalb in einem internationalen Umfeld. Aber viele meistern ihr neues Leben ganz gut. Eine Interviewpartnerin hat mir gesagt: „Es gibt in jedem Land positive und negative Aspekte. Man muss eben die negativen beiseite schieben und sich auf die positiven Dinge konzentrieren.“ Ich denke, mit einer solchen optimistischen Einstellung kommt man in einem zunächst fremden Umfeld leichter klar. Insgesamt ist eine deutliche Mehrheit meiner Befragten zufrieden mit der Entscheidung, in die Türkei zu gehen. Zwar hat die Mehrheit angegeben, in Deutschland glücklich gewesen zu sein, aber viele sagen, auch in der Türkei glücklich zu sein.
In Deutschland gibt es für Türken nicht die Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich anzunehmen, sie müssen sich also entscheiden. Wie sieht denn die Rechtslage aus von Türkischstämmigen, die nicht den türkischen, sondern den deutschen Pass in der Tasche tragen und nun in der Türkei leben wollen?
Bürgin: Für die gibt es eine Sonderregelung, die sogenannte Marvi-Card. Damit erhalten sie eine Art türkische Staatsbürgerschaft „light“. Inhaber der Karte dürfen zwar weder wählen noch gewählt werden, verfügen ansonsten aber über vergleichbare Rechte wie türkische Staatsbürger. Diese Regelung dürfte dazu führen, dass türkischstämmige Ausländer es leichter haben als andere, in der Türkei Fuß zu fassen.
Ist diese Regelung umstritten, diskutiert die türkische Öffentlichkeit darüber?
Bürgin: Gestritten wird eher über die deutsche Gesetzgebung, die nur in Ausnahmefällen eine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt, etwa für Menschen aus Ländern wie dem Iran, deren Regelungen es nicht vorsehen, die Staatsbürgerschaft abzulegen. Die Türkei würde den türkischstämmigen Deutschen gerne zusätzlich die türkische Staatsbürgerschaft geben.
Wie bewerten Sie diese Politik?
Bürgin: Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre ein sehr gutes Mittel, um Integration in Deutschland zu fördern. Es wäre ein symbolischer Akt, der die beiden Identitäten dieser Leute anerkennt. Integrationspolitisch wäre die doppelte Staatsbürgerschaft daher ein wichtiger und dringender Schritt. Es verwundert schon, wenn die Bundesregierung einerseits verkündet, die Potenziale von Jugendlichen aus Migrantenfamilien besser fördern zu wollen und die kulturelle Viefalt als eine Chance für Deutschland darstellt, aber andererseits verlangt, dass Kinder ausländischer Eltern, die hier in Deutschland geboren wurden, sich mit Erwerb der Volljährigkeit entscheiden müssen, welche Nationalität sie wählen. Das bringt junge Menschen unnötig in Identitäts- und Loyalitätskonflikte. Dieses Optionsmodell sollte abgeschafft werden. Aktuell Interview
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