Rachid al-Ghannouchi
„Gerade von Deutschland hätte ich Solidarität während unserer Diktaturzeit erwartet.“
Anfang Januar 2012 reiste eine Gruppe von vier Studenten der Islamwissenschaft von der Christian-Albrechts-Universität Kiel nach Tunesien, um die politische Lage des Landes ein Jahr nach der Revolution zu analysieren. Höhepunkt der Exkursion war ein Treffen mit Rachid al-Ghannouchi, Vorsitzender der Ennahda Partei - Wahlsieger der ersten demokratischen Wahl in Tunesien nach dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali.
Von Tahir Chaudhry Freitag, 17.02.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.02.2012, 7:44 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Unser Dozent versucht sich über die mäßig organisierte Webpräsenz der Ennahda Partei nach der Adresse ihrer Parteizentrale zu erkundigen. Wir Studenten erstellen gleichzeitig die Fragen, die wir gerne einem Parteimitglied der Ennahda Partei stellen möchten.
Die Partei Ennahda: (arab. Renaissance, Wiedererwachen), ist die Partei, die mit 41 Prozent der Stimmen als deutlicher Wahlsieger der ersten demokratischen Wahl in Tunesien nach dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali hervorging. Und nun bildet sie zusammen mit der sozialliberalen CPR (13,8 %) und der sozialdemokratischen Ettakatol (9,7 %) die neue Regierung der tunesischen Republik.
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Ohne jeglichen Termin und mit einer ungefähren Kenntnis über den Standort, verlassen wir unser Hotel in Karthago. Nun fragen wir uns durch die Gassen eines recht noblen Viertels und finden endlich die Parteizentrale, die ein ziemlich ansehnlicher und repräsentativer Neubau ist, der erstaunlicherweise ein äußerst modernes Bild liefert. Als wir eintreten ist allen Studenten ein gewisses Unbehagen anzumerken. Wir melden uns beim Empfang und werden für eine Weile in ein Wartezimmer geleitet. Dort sehen wir zu unserem erstaunen auf einerseits vollverschleierte Frauen und andererseits auch Frauen, die freizügiger gekleidet sind. Wir lassen unsere Blicke schweifen und alles, was wir entgegen unserer Erwartungen entdecken ist eine ganz „normale“ Zentrale einer politischen Partei.
Bald darauf werden wir in das Büro des Pressesprechers geleitet. Ein älterer Mann mit einem traditionellen tunesischen Gewand und einer roten Gebetsmütze betritt in Begleitung einer verschleierten Sekretärin das Büro. Während sie für ihn im Internet recherchiert, serviert er uns einige Bruchstücke auf Deutsch. Sie lächeln, wir lachen, wir fühlen uns Wohl. Wir erhalten wir eindringlichen Hinweis: „We are not terrorists!“ Wir lächeln und nicken stumm. Plötzlich ertönt der Gebetsruf aus dem Computer, worauf die Sekretärin ihre Arbeit unterbricht und dem Gebetsruf horcht. Auch der Mann ist darin vertieft bis sein Mobiltelefon klingelt; es wird moderne arabische Popmusik abgespielt. Er entschuldigt sich und spricht in üblicherweise hoher Lautstärke ins Telefon.
Nach einer Weile werden wir durch Zied Boumekhla, dem Präsidenten des studentischen Flügels der Ennahda in sein Büro geführt. Zied ist ein junger charismatischer Mann, der eine gewisse Eleganz und Gelassenheit ausstrahlt. Seine Körperhaltung ist stets aufrecht, was wahrscheinlich daran liegt, dass er den schwarzen Gürtel in Karate besitzt. Sofort wird uns deutlich, dass dieser Mann es in den nächsten Jahren in die höchste Liga der tunesischen Politik schaffen würde. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug und dazu einen Schal, der eine Sympathie mit Palästina ausdrücken soll. Uns wird Saft und Tee in das noch unvollständig eingerichtete Büro Zieds gebracht.
Zied beginnt uns etwas über das Engagement der studentischen Organisation in den tunesischen Universitäten und ihrer Rolle während der Revolution. Er sagt uns, dass die Musik bei der Revolution und dem Sturz Ben Alis eine besondere Rolle gespielt habe; insbesondere die Rap Musik. Er teile nicht die Meinung mit anderen islamischen Strömungen, die die Musik als Sünde betrachtend ablehnen. Natürlich weise er jedoch daraufhin, dass Lieder eine moralische Botschaft haben sollten. Musik sei außerdem eine bedeutende Komponente in der islamischen Kultur. So werde die Musik beispielsweise im Sufismus als wichtig angesehen. Zied möchte in unserem Gespräch besonders herausstreichen, dass schon lange vor dem Sturz Ben Alis die Religiosität in den Universitäten zu spüren war und dies insbesondere in studentischen Bewegungen. Ben Alis RCD schickte Milizen, um die Studenten einzuschüchtern, damit sie nicht für das Universitätsparlament kandidierten. Trotzdessen spielte der studentische Flügel eine sehr große Rolle während der Revolution, so Zied.
Bevor es dann zu den tief reichenden Fragen kommt, bittet unser Dozent um ein Treffen mit Rachid al-Ghannouchi, dem Parteichef der Ennahda-Bewegung. Zied erkundigt sich per Mobiltelefon direkt bei der Spitze, die im 5. Stock untergebracht ist. Der 71-jährige Ghannouchi – den wir treffen möchten, wurde bereits von Habib Bourgiba, dem ersten Präsidenten der Tunesischen Republik zu Haft, Zwangsarbeit und zum Tode verurteilt. Als Oppositioneller und Führer der erst am 1. März 2011 legalisierten Nahda-Bewegung in Tunesien vertritt er nach eigenen Angaben einen gemäßigten Islam. Er plädiert für Demokratie und die Anwendung der Menschenrechte und sieht die Türkei als Vorbild in der Staatsführung Tunesiens.
Kurze Zeit später trifft die Bestätigung für ein 15-minütiges Interview mit Rachid al-Ghannouchi ein. Hierzu soll nun es ins oberste Stockwerk der Parteizentrale gehen. Jedes Stockwerk, das wir durch die Treppen begehen, weist volle Büros auf, in denen ein reger Betrieb herrscht. Stolz zeigt uns Zied diese neuen Büros der seiner Partei. Wir alle sind angespannt und riskieren einen letzten Blick auf unsere Fragen, die in dieser begrenzten Zeit gestellt werden müssen. Während der Sheikh Ghannouchi betet, warten wir in einem Vorzimmer. Hätten wir ihn auf das Gebet angesprochen, hätte er uns gewisse mitgeteilt – wie er es allen anderen Journalisten mitzuteilen pflegt, dass er gerade Allah für die Revolution gedankt habe, die einen Segen für ihn und sein Land war.
Dann ist es soweit. Wir betreten erstaunlicher Weise ohne jegliche Sicherheitschecks das Büro des Sheikhs. Seine Bodyguards mustern uns kurz mit ernsten Blicken und verschwinden rasch aus dem Büro. Vor uns sitzt nun der mächtigste Mann Tunesiens in seinem ziemlich bescheiden eingerichteten Büro. Er erhebt sich von seinem ziemlich gemütlichen Ledersessel, um uns lächelnd zu begrüßen. Wir geben ihm die Hand und uns wird gestattet Platz zu nehmen. Herr Toumi stellt uns vor und fordert uns bald darauf auf, unsere Fragen auf Deutsch zu stellen, damit er sie für den Sheikh übersetzen kann. Aktuell Interview
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Hätte Deutschland sich noch vor 2 Jahren gegen die tunesische Regierung engagiert, hätte der Autor doch von „Neokolonialismus“, „westlichem Überlegenheitsgetue“, „Mißachtung“ der dortigen, speziell muslimischen Verhältnisse geschrieben. Der Westen solle doch nicht so ignorant sein, sein eigenes Gesellschaftsmodell fremden Gesellschaften aufzuoktroyieren. Etc…
Sehe ich genauso, vorallem da niemand wirklich weiß welche Leute die Revolutionen in der muslimischen Welt an die Macht spülen werden.
Bin zwar der Meinung daß DE sich in dieser Region stärker einmischen sollte, aber man hat gerde mit einer nicht unbedeutenden EU-Krise zu kämpfen!!!
Sie können doch gar nicht wissen, worüber ich geschrieben hätte.
Ich vertrete schon immer die Meinung, dass z.B. die „Scharia“ nicht ein in allen Einzelheiten feststehendes Gesetz ist, sondern schon seit ihrer Entstehung von Gelehrten kontrovers diskutiert wurde.
Daher kann man nicht von DER Scharia sprechen. Man könnte fast sagen: Es gibt so viele Scharias, wie es Gelehrte gibt!
Die Scharia kann in Einzelheiten einer Weiterführung und einer modernen Interpretation unterliegen, denn der Islam erhebt den Anspruch für alle Völker und alle Zeiten zu gelten. Diese Forderung von einigen Mullahs kann man nicht ernstnehmen, dass das religiöse Gesetz in ihren Einzelheiten feststeht und genauso in unsere heutige Zeit übernommen werden soll, denn Recht und Rechtsprechung müssen immer weiter entwickelt werden, allein der Heilige Koran ist unveränderlich.
Der Islam spricht von Gerechtigkeit. Ob ein Staat nun demokratisch ist oder nicht. Ich beurteile nach dem Maßstab der Gerechtigkeit. Für mich heißt Gerechtigkeit, dass ein Staat neutral gegenüber jeder Art von Weltanschauung ist. Das ist Säkularismus. Es etwas, was der Prophet Muhammad (saw) während seiner Zeit als politisches Oberhaupt ausübte. Wo er beispielsweise Juden, die um eine Entscheidung baten fragte: „Wollt ihr, dass euer Streit nach dem jüdischen Gesetz oder nach dem islamischen Gesetz oder durch Schiedsspruch gelöst wird?“ In keinem Fall hat er eine Partei, die sich nicht zum Islam bekannte, das islamische Gesetz aufgezwungen, wenn sie damit nicht einverstanden war. Vor der heutigen Pluralität in der Gesellschaft ist jedoch nicht möglich dies exakt so auszuführen. Somit sich ein Mehrheitlich „islamischer“ Staat zwangsläufig als säkular bezeichnen, um gerecht handeln zu können.
Ich leugne nicht die Scharia, verweise aber darauf, dass der moralische Standard solcher Gesellschaften nicht so hoch ist (wo Betrug, Diebstahl, Korruption usw. Alltag ist) , wie zu Zeiten des Propheten selbst, damit eine solche Gesetzgebung ihre Wirkung zeigen könnte. Ich bin also dagegen, dass man zwangshaft versucht einen Baum in eine Wüste zu pflanzen, um dann von ihm zu verlangen, dass er Früchte trägt. Unsinn.
Klar bin zudem dagegen, dass man versucht fremden Gesellschaften das eigene Gesellschaftsmodell aufzuzwingen und bestätige: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“
@Tahir
Aber ist es nicht auch wenig zweckdienlich, immer den Islam für dieses und jenes zu rechtfertigen und auf seine „Staatsvorstellungen“ hin zu untersuchen ? Damit politisiert man ihn ja schon wieder.
Demokratie beinhaltet die Trennung von Religion und Staat. Das reicht doch eigentlich. Jeder kann beten, zu wem er will und überhaupt tun, was er will, solange er andere nicht behindert. Sobald eine Religion, egal welche, einen Dominanzanspruch im Staat innehat, ist es vorbei mit Freiheit und Gleichheit.
Den Islam als eine Demokratie fördernde Religion auszulegen kann man tun, muss man aber doch gar nicht, wenn man sich einfach auf Demokratie einigt. Man muss die Macht der Orthodoxie schon irgendwie brechen, die Religion politisch entmachten, sonst ist Demokratie aussichtlos.
Was ist das Problem in muslimischen Gesellschaften?
Es wird laufend versucht den Islam irgendwie auszulegen oder anzupassen, frei nach dem Motto, der Islam is das Glück per se.
Genau das ist der Trugschluss!!!
Der Islam macht nicht frei und auch nicht glücklich.
Er kann höchstens ein Fundament der Sicherheit und Ordnung sein…mehr nicht!
Erst wenn die muslimischen Gesellschaften anfangen wirklich darüber nachzudenken was eigtl. die Menschen wollen, was sie glücklich macht, wie man die Probleme lösen kann…und das ohne das immerwiederkehrende, …“was sagt denn der Islam dazu“….wird es Fortschritte in den dortigen Gesellschaften geben.
Ich weiß es sagt sich aus der westlichen Perspektive leicht, aber es ist nunmal die Lösung!!!
Und das der Islam für alle Menschen gelten will, empfinde ich als Atheist als Angriff auf meine Individualität!
Übrigens, Gerechtigkeit muss immer wieder ausgehandelt werden.
ps: trotzdem nett daß sich der Autor hier persönlich zu Wort meldet!
@ Couperinist
gerade das möchte ich ja nicht „den Islam politisieren“. Die Religion ist Privatsache. Das ist die Entscheidung des Individuums. Ich wollte nur betonen, dass der Islam nicht über ein konkretes politisches System spricht. Er gibt nur Maßstäbe für die Führung eines „Staates“ (Bundes).
Dass es Muslime gibt, die beide Institutionen vermischen liegt daran, dass sie nicht verstehen, dass es vor 1400 Jahre keine Staaten gab. Es waren Stammesverbände, wobei es heute Staaten sind, die viel größer sind, ihr Volk viel verschiedener ist. Heutzutage gibt es innerhalb der sogenannten Ummah eine solche Pluralität, dass man nicht von der Installierung eines rein „islamischen“ Staat sprechen könnte.
Ich unterstütze deinen These: „Man muss die Macht der Orthodoxie schon irgendwie brechen, die Religion politisch entmachten, sonst ist Demokratie aussichtlos.“ und ergänze, dass weder die Religion sich in den Staat einmischen darf, noch der Staat in die Religion.
@ Andres
Ein ganz wichtigen Punkt, den Sie ansprichen ist, dass man aus diesem starren Denken herausbrechen muss. Wissenschaft und Forschung müssen säkular sein. Bildung muss säkular sein. Der Blick auf die eigene Geschichte sollte ein wissenschaftlicher sein und nicht von Verklärungen und Ideologien gefärbt.
In dieser Hinsicht habe ich ein großes Vorbild: Dr. Abdus Salam (erste muslimischer Nobelpreisträger)
Sie schreiben: „Und das der Islam für alle Menschen gelten will, empfinde ich als Atheist als Angriff auf meine Individualität!“
Es soll aber kein Angriff sein. Er gilt für jeden Menschen, der ihn für sich annimmt. Der Islam schließt keine Region, keinen Menschen aus.
@Tahir
Dann hatte ich das wohl irgendwie missverstanden. Ich halte es jedenfalls geradezu für die Ehrenrettung des Islam, ihn politisch zu entmachten, so wie die Ehre der Kirche gerettet wurde, als sie um 1800 von ihrem Thron gestoßen wurde, auch wenn das erstmal paradox klingt. Der Platz der Religion liegt im metaphysischen Bereich, nicht in der Gesetzgebung, geschweige denn der Exekutive. Politisch kann eine Religion logischerweise nur zur Diktatur werden, weil sie ewige Wahrheiten zu vertreten beansprucht. Und das zieht zusätzlich IMMER Machtmenschen an. Gott kümmert sich nicht um die Müllabfuhr, sondern ist transzendent.
Bin übrigens auch an der CAU ;)