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Frühe Förderung

Ein Küken sucht seine Mama

Mit bunten Bildkarten, zweisprachigen Hausaufgaben und Geschichten zum Mitmachen die Deutschkenntnisse von Migrantenkindern verbessern: Ein Ansbacher Kindergarten setzt auf die Kikus-Methode, die auch die Eltern mit einbezieht.

Von Katharina Bill Freitag, 09.03.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.03.2012, 8:27 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Katja Mayerhofer sitzt in einem Stuhlkreis mit Jan, Sema, Natascha, Amelie, Alexander, Cemile, Mustafa und Sinan (Namen geändert). Sie hält ein Ringbuch, auf dem einem Bild von einem Küken und einem Schaf zu sehen ist. „Bist du meine Mama?“ fragt sie anstelle des Kükens. „Nein!“ rufen die Kinder im Chor. „Weil das Schaf weiß ist und Wolle hat, das Küken nicht.“ Auf dem nächsten Bild steht das Küken vor einem Dackel. „Bist du meine Mama?“ fragt Katja Mayerhofer. Ein Mädchen mit dunklen Haaren ruft: „Nein, weil der Hund so lang ist und das Küken so klein!“ Das Küken begegnet noch anderen Tieren wie einem Pferd und einer Kuh, doch seine Mama ist nicht dabei.

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Katja Mayerhofer ist Diplompädagogin nach Maria Montessori und stellvertretende Leiterin des Kinderhaus Kunterbunt, einer Kindertagesstätte im mittelfränkischen Ansbach. Sie hat lange, blonde Haare und trägt gerne schwarz. Seit vier Jahren ist ihr Schwerpunkt das Thema Sprache. Bei einer Fortbildung erfuhr sie von der Kikus-Methode, die extra für Kinder entwickelt wurde, die Deutsch als Zweitsprache lernen. Kikus, das heißt „Kinder in Kulturen und Sprachen“. Einmal pro Woche haben die Drei- bis Sechsjährigen in einem Extraraum 60 Minuten Sprachförderung.

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Die Kinder befinden sich somit in einer „Situation der gelenkten Sprachsituation“, sagt Mayerhofer. Dazu gehören bunte Bildkarten, Rollenspiele mit Fingerpuppen, das Beschreiben von Gegenständen wie Bällen, die Verbesserung des Wortschatzes und das Wiederholen von sprachlichen Handlungsmustern. Die Idee stammt von Edgardis Garlin vom Zentrum für kindliche Mehrsprachigkeit, die Kikus 1998 in München konzipierte, nachdem sie ihre Doktorarbeit über bilingualen Erstspracherwerb im Kindesalter schrieb. Die Kikus-Begründerin zog ihre Kinder ebenfalls zweisprachig auf. Ihr Lernkonzept gibt es mittlerweile auch für andere Sprachen, wie zum Beispiel Englisch.

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32 Kinder im Alter aus Russland, der Türkei, China, Island, Kasachstan und Mexiko werden zurzeit in Ansbach nach dieser Methode gefördert. Dabei greifen drei „Zahnräder“ ineinander: Zum einen gibt es die Sprachförderung im Kindergarten, die regelmäßig einmal in der Woche stattfindet. Dann gibt es die Zusammenarbeit mit den anderen Erzieherinnen, die das Kikus-Thema der Woche beispielsweise im Stuhlkreis wieder aufgreifen. Zuletzt helfen auch die Eltern mit, die mit den Kindern zusammen die Hausaufgaben erledigen.

Die einzelnen Kindergärten können das Kikus-Siegel beantragen, das eine hochwertige Sprachförderung sicherstellt. Auch das Ministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend äußerte sich wohlwollend. 2003 schrieb es über das Kikus-Programm: „Mit großem Interesse wurde Ihr Rahmenkonzept für das genannte Projekt gelesen, das in seiner Zielsetzung uneingeschränkt zu begrüßen ist.“

Die Muttersprache wertschätzen
„Das Besondere an Kikus ist, dass die Eltern integriert sind. Die Kinder sollen lernen, dass ihre Muttersprache kein Makel, sondern eine Chance ist. Es ist etwas Tolles, wenn man zwei Sprachen beherrscht“, erklärt Katja Mayerhofer. Deshalb ist bei Kikus die Muttersprache immer präsent. In der ersten Lerneinheit gibt es zum Beispiel das Bild eines Teddybären, mit dem die Kinder die Körperteile lernen. „Der Fuß“ oder „Der Arm“ steht da. Unter dem deutschen Wort befindet sich ein leeres Kästchen, in das die Eltern zu Hause die Wörter in ihrer Muttersprache eintragen können. Somit lernen Eltern und ihre Sprösslinge beide Sprachen.

Oft befinden sich Eltern, die aus einem anderen Land nach Deutschland gezogen sind, in einem Zwiespalt. Einerseits wollen sie den Kindern die eigene Sprache und Kultur vermitteln, andererseits wollen sie auch, dass ihre Kinder gut Deutsch sprechen. Die meisten Eltern haben das Ziel, ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen „und zur Bildung gehört eben auch Sprache“, sagt Katja Mayerhofer.

Links: Weitere Informationen zu Zielen des Kikus-Programms, Fort- und Weiterbildungen und Lernmaterialien; Hueber Verlag, der Verleger von Kikus über das Lernkonzept; Interview mit der Kikus-Gründerin Dr. Edgardis Garlin vom Zentrum für kindliche Mehrsprachigkeit e.V. (zkm); Sprachwissenschaftlerin Eva Breindl im Gespräch mit dem MiGAZIN über das Deutschlernen.

Wenn Mama und Papa selber schlecht Deutsch sprechen, dann sei es empfehlenswert, zu Hause hauptsächlich in der Muttersprache zu kommunizieren, den Kindern aber im Alltag einen „sprachlichen Ausgleich“ zu ermöglichen. Beispielsweise durch die Mitgliedschaft im Sportverein oder das Erlernen eines Instruments. Auf jeden Fall eine Aktivität, bei der nur Deutsch gesprochen wird. Eltern, die gut Deutsch sprechen oder ihr Deutsch selber verbessern wollen, können etwa zwei verschiedene Methoden anwenden. Die eine nennt sich „Eine Person – Eine Sprache“. Dabei spricht entweder die Mutter nur Deutsch und der Vater nur in der Muttersprache, oder umgekehrt. Die zweite Methode heißt „Eine Situation – Eine Sprache“. Die Familie einigt sich darauf, sich zum Beispiel beim Abendessen ausschließlich in der Muttersprache zu unterhalten und beim Einkaufen nur auf Deutsch.

Zweitspracherwerb funktioniert wie Erstspracherwerb
Kinder brauchen feste Rituale, deshalb beginnt jede Kikus-Stunde ähnlich. Zuerst zählen alle gemeinsam auf Deutsch, danach darf jedes Kind in seiner Muttersprache zählen. „Die Kinder sind stolz, wenn sie das vor den anderen machen“, sagt Mayerhofer. Ein weiteres Ritual ist das Wiederholen von sprachlichen Handlungsmustern, wie das Beschreiben von Erlebnissen oder Situationen, Frage-Antwort-Übungen oder Begrüßungs- und Verabschiedungssituationen. Die blonde Pädagogin mit dem freundlichen Gesicht bereitet sich intensiv auf jede Unterrichtseinheit vor. Welche sprachlichen Handlungsmuster werden mit welchem Wortschatz gefüllt? Mit welchem Ritual beginnen? Wie neuen Wortschatz anschaulich gestalten? Sprache lernt sich am besten mit vielen Spielen, Bewegung und allen Sinnen. Katja Mayerhofer ist überzeugt: „Wenn ich den Kindern nur Bildkarten zeige und ihnen sage, das Abgebildete sei weich oder sauer, dann bringt das wenig.“ Lieber fühlen oder schmecken die Kinder selber.

„Neueste Untersuchungen zeigen, dass der Zweitspracherwerb genauso abläuft, wie der Erstspracherwerb“, erläutert Mayerhofer. Man geht davon aus, dass alle Kinder, wenn sie mit drei Jahren in den Kindergarten kommen, in ihrer Muttersprache auf dem gleichen Stand sind. Egal, ob es sich dabei um Türkisch, Russisch oder Chinesisch handelt. Deswegen werden die Kinder auch in den Lerngruppen nicht nach ihrer Sprache aufgeteilt, sondern nach ihrem Alter. Die Kikus-Stunden finden dann in Kleingruppen statt, was den Vorteil hat, dass die Drei- bis Sechsjährigen oft in die Sprecherrolle kommen und sich mehr trauen als in größeren Gruppen. „Jedes Kind hat meine vollste Aufmerksamkeit“, sagt Katja Mayerhofer und lächelt. „Sprache lernt man nur über gute Beziehung. Die Kinder vertrauen mir und freuen sich auf mich! Wenn ich in der Früh komme, dann stehen sie schon da und fragen: Haben wir heute wieder Kikus?“

Katja Mayerhofer wirft einen Blick in den Stuhlkreis und blättert die letzte Seite ihres Ringbuchs um. Das Küken steht jetzt neben einer Henne. „Bist du meine Mama?“ fragt die Pädagogin Jan, Sema, Natascha, Amelie, Alexander, Cemile, Mustafa und Sinan. Einige Kinder scheinen kurz zu überlegen. Schließlich ist das Küken gelb und die Henne weiß. Dann rufen sie plötzlich durcheinander. „Doch! Das ist die Mama! Ja, das ist sie!“ Gesellschaft Leitartikel

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  1. Alpay sagt:

    Das ist sicherlich ein lobenswerter Ansatz, wenn ich allerdings Bücher wie Patrick Bauers: Parallelklasse lese, dann frag ich mich, auf welche Gesellschaft diese Kinder vorbereitet werden?