Rechtstreu sollen immer nur die Anderen sein
Regierung bleibt beim Assoziationsrecht rechtsbrüchig und untätig
"In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen." - ein Kommentar von Sevim Dağdelen
Von Sevim Dağdelen Mittwoch, 30.05.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 14.06.2015, 20:23 Uhr Lesedauer: 11 Minuten |
Am 16. September 2011 erhob meine Fraktion Organklage beim Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des parlamentarischen Fragerechts. Anlass war, dass die Bundesregierung auf Kleine Anfragen zu sogenannten Unterstützungseinsätzen der Bundespolizei am 19. Februar 2011 in Dresden und am 1. Mai 2011 in Berlin und anderen Städten unzureichend geantwortet hatte. In der Presseerklärung des Justiziars der Linksfraktion, Wolfgang Neskovic, hieß es: „Gerade in sensiblen Politikbereichen (Terrorbekämpfung, Waffenexport, Lobbyismus etc.) macht es sich die Bundesregierung offenbar zur Aufgabe, parlamentarische Anfragen nur so restriktiv wie irgend möglich zu beantworten, oder, anders formuliert, eine klare, umfassende Antwort im Rahmen des rechtlich Möglichen zu vermeiden. Hierdurch entsteht häufig der Eindruck, als investierten die Ministerien mehr Energie dafür, Anfragen nicht zu beantworten, anstatt Parlament und Öffentlichkeit so sorgfältig und wahrheitsgetreu wie möglich zu informieren.“ Genau dieser Eindruck verfestigt sich angesichts des Antwortverhaltens der Bundesregierung bezüglich zweier Kleiner Anfragen zum EWG-Türkei-Assoziationsrecht.
Zwar erhielt ich von der Bundesregierung unaufgefordert eine Aufzählung und Auflistung aller von mir zu diesem Thema bisher gestellten Anfragen 1. Doch Antworten auf die konkreten Fragen erhielt ich nicht wirklich, auch wenn die Bundesregierung meint, sie habe „die meisten der mit der neuerlichen Kleinen Anfrage gestellten Fragen“ in den von ihr gezählten zwölf Kleinen Anfragen in den letzten 28 Monaten „bereits beantwortet“. Wäre dem so, hätte ich nicht stets erneut nachfragen müssen. Genau so, wie die Bundesregierung gezielt europäisches Recht aus politischem Kalkül missachtet 2, höhlt sie auch das parlamentarische Fragerecht durch gezielte Nichtbeantwortung aus. Der Grund ist klar: Würde die Bundesregierung die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Assoziationsrecht umsetzen, wäre dies das Eingeständnis, mit allen maßgeblichen aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen der letzten Jahre faktisch gescheitert zu sein. So ist zum Beispiel die diskriminierende Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug, auf die vor allem die CDU/CSU-Fraktion so stolz ist, wegen des Assoziationsrechts auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar, obwohl sie gerade in Hinblick auf diese Gruppe geschaffen wurde. Wenn aber Regeln im Aufenthaltsrecht für die größte MigrantInnen-Gruppe in Deutschland nicht gelten – für Unionsangehörige gelten sie ohnehin nicht –, dann drängt sich die Frage nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Bezug auf alle anderen Migrantinnen und Migranten geradezu auf. In letzter Konsequenz bedeutet das, im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik einen grundlegenden Politikwechsel zu vollziehen, der nicht auf Gesetzesverschärfungen, Zwang und Ausgrenzung setzt, sondern auf gleiche Rechte, aktive und inklusive Förderung und soziale Gerechtigkeit.
Worum geht es genau? Bekanntlich ignoriert bzw. hintertreibt die Bundesregierung seit Jahren die Rechtsprechung des EuGH und die entsprechende Kommentierung in der Fachliteratur insbesondere zu den Verschlechterungsverboten des Assoziationsrechts. Nicht zuletzt aus der von mir in Auftrag gegebenen Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom Juni 2011 ergeben sich detailliert die eigentlich erforderlichen umfangreichen Änderungen für das deutsche Aufenthaltsrecht 3. Nachdem dann selbst die nicht gerade als liberal bekannte Regierung der Niederlande im September 2011 auf Sprachanforderungen im In- und Ausland bei türkischen Staatsangehörigen verzichtete (Österreich zog vor kurzem nach), hätte selbst ein juristischer Laie erkennen können, dass die Rechtsauffassung der Bundesregierung unhaltbar und ihre Verweigerungshaltung ein übles Spiel auf Zeit zu Lasten der Betroffenen ist. Staatssekretär Dr. Ole Schröder räumte auf mein Nachfragen im Parlament unumwunden ein, dass dies „letztlich … auch eine politische Frage“ sei: „Solange es rechtlich möglich ist, einen solchen Sprachnachweis zu verlangen, werden wir das auch tun“ 4.
Die Regierung leistet in anderen Worten so lange hinhaltenden Widerstand gegen die europäischen Rechtsprechungsvorgaben, wie sie nur irgend kann – in Kenntnis dessen, dass sie längst verloren hat. Auf eine kritische Frage zu dieser Hinhaltetaktik erhielt ich zur Antwort: „Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, dass der EuGH ‚zu jeder nur vorstellbaren Detailverschärfung der bestehenden Gesetzeslage seine gefestigte Rechtsprechung immer wieder erneut wiederholen muss‘. Die Bundesregierung ist allerdings auch nicht der Auffassung, dass jede Detailfrage im Bereich des Assoziationsrechts bereits eindeutig vom EuGH entschieden ist“ 5. Angesichts der sehr klaren allgemeinen Vorgaben des EuGH zum Assoziationsrecht, die auf alle Detailfragen nur „runtergebrochen“ werden müssten, belegt genau dies die unverschämte und im Kern europarechtswidrige Haltung der Bundesregierung.
Die Absurdität der Lage wird vor allem im europäischen Vergleich deutlich: Das niederländische Gericht, das im August 2011 letztinstanzlich entschied, dass von türkischen Staatsangehörigen keine Sprach- oder Integrationsnachweise verlangt werden dürfen, hielt diese Konsequenz aus dem Assoziationsrecht für so klar und eindeutig, dass es die Frage nicht einmal dem EuGH zur Entscheidung vorlegte! In Deutschland hingegen wird regierungsoffiziell das genaue Gegenteil für offenkundig zutreffend gehalten. An dieser Stelle muss an die unrühmliche Rolle des Bundesverwaltungsgerichts erinnert werden, das bei seiner Grundsatzentscheidung zum Ehegattennachzug vom 30. März 2010 eine „Prüfung“ des EWG-Türkei-Assoziationsrechts vernahm, die diesen Namen kaum verdiente und sogar noch dürftiger ausfiel als die Prüfung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie, hinsichtlich derer sich das Bundesverwaltungsgericht inzwischen immerhin korrigieren musste. Das höchste deutsche Fachgericht hätte die Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug auch wegen des Assoziationsrechts zwingend dem EuGH vorlegen müssen, und vermutlich sieht es dies inzwischen genauso, nachdem die EU-Kommission in einer Stellungnahme an den EuGH der diesbezüglichen Rechtsauffassung der Bundesregierung (und des Bundesverwaltungsgerichts) klar widersprochen hat. Die Bundesregierung erklärte hierzu lapidar, dass „Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommission und Bundesregierung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nichts Ungewöhnliches sind“ 6.
- vgl. Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 17/9719
- vgl. hierzu den Antrag meiner Fraktion zur wirksamen Umsetzung des Assoziationsrechts, Bundestagsdrucksache 17/7373
- „Anwendungsbereiche und Auswirkungen der Stillhalteklausel im Assoziationsrecht der EU mit der Türkei“, WD 3 – 3000 – 188/11
- Plenarprotokoll vom 30. November 2011, 17/145, S. 17265
- Bundestagsdrucksache 17/9719, Frage 12
- Plenarprotokoll 17/129, S. 15192
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Rechtstreue in einem „Rechtsstaat“ sollte mehr als „nur“ eine zu erwartende Selbstverständlichkeit sein!
Im Zweifel helfen „unabhängige“ Dritte.
Das nun deren „Urteil“ von der Bundesregierung nicht gehört werden will ist schon mehr als fragwürdig!
Denn, ist es nicht die selbe Regierung, die das gemeinsame Europa so hochlobt, Milliarden in desen Erhalt pumpt, wie auch mehr an verbindlichem regelwerk fordert …
Jedoch scheint es, eben dieser Regierung auch darum zu gehen nicht alle vor dem recht gleich zu sehen, geschweige zu behandeln …
Da lob ich mir Bundestagsabgeordnete wie Frau Sevim Dağdelen, die in einer storischen Ruhe und unnachgibig darauf aufmerksam machen!
Es ist längst bekannt, dass in Deutschland für jede Unmenschlichkeit eine juristische Begründung gibt.
Erstaunlich ist aber, dass wg wirtschaftlicher Stärke, dass man bei diesen juristischen Begründungen sowie Irrtümmern weiterhin festhält.
Pingback: Assoziationsrecht EWG-Türkei: Bundesregierung ignoriert gezielt Rechtsprechung des EuGH | MiGAZIN