Brückenbauer
„Quo vadis, Europa?“
Die Euro-Krise hat Europa fest im Griff. Rechtspopulistische Parteien gewinnen an Zulauf. Doch das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen: Gefahr und Gelegenheit - von Amiran Gabunia.
Von Amiran Gabunia Freitag, 08.06.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 11.06.2012, 23:33 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Begriff hat einen europäischen Ursprung, er wird laut- und sinnbildlich in fast allen 23 EU-Amtssprachen ohne Weiteres verstanden und wie kein anderer verkörpert er heutzutage die europäische Identität. Auch wenn er zeitweilig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden schien, ist der Begriff „Krisis“ – Zuspitzung einer gefährlichen Lage – seit seinem Wiederaufkommen in Europa in aller Munde. Nach Zeiten der Immobilienblase in den USA erfährt der Terminus „Euro-Krise“ eine beispiellose Konjunktur im Sprachrepertoire aller europäischen Staaten, am deutlichsten in seiner „Heimat“ Griechenland.
Die Wirtschaftskrise 2008, die Europa mit voller Wucht traf, hat die EU als ökonomischen Organismus vollkommen paralysiert. Wie einst vor dem atomaren Super-GAU, der mit Fukushima längst eingetreten ist, warnen die prominenten Wirtschafts- und Politikexperten diesmal vor einem möglichen Kollaps Griechenlands, auch wenn sich der eigentliche Staatsbankrott bereits vollzogen hat. Inzwischen gibt es erste Opfer der fatalen Folgen des griechischen „Schwarzen Donnerstags“. Bilder von kriegszustandsähnlichen Ausschreitungen, wie in Brand gesetzten Läden, gehören inzwischen zum Standardrepertoire der großen Nachrichtensendungen bei Berichten aus dem Land.
Trotz eigener hoher Verschuldung werden Deutschland und Frankreich nicht müde, gegen die Griechen und ihre hohen Schulden zu wettern.
Dabei sind beide Staaten selbst vielfach krisenerprobt und kennen die damit verbundenen Nöte und Einschränkungen zur Genüge. Verständlicherweise erinnert man sich solcher Zeiten nur ungern, aber eine derartige Ignoranz der Misere, in der sich die griechische Bevölkerung befindet, ist mehr als vermessen. Auch wenn die Expertenkreise von der erfolgsversprechenden Wirkung der Austeritätspolitik überzeugt sind, bleibt die Frage offen, ob all die auferlegten Sparpakete die erwünschten Effekte erzielen.
Was noch schwerer wiegt, ist, dass dem verarmten Land zudem der Ausschluss aus dem Euro-Raum droht. Fragwürdig ist zudem die Reichweite des zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal „aufgespannten“ Euro-Rettungsschirms, der Spanien, Portugal, Italien und einige weitere Wackelkandidaten der Ratingagenturen auffangen soll.
Fakt ist also, dass die Krise Europa im Moment fest im Griff hat. Es geht wieder mit dem Gerangel der Nationalstaaten los, die mit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags eigentlich als überwunden galt. Rechtspopulistische Parteien gewinnen an Zulauf und gefährden damit die mühsam erarbeitete europäische Toleranzkultur. Rassistisches Gedankengut keimt im Alltag und tritt in Form des Massakers von Utøya auf grausame, menschenverachtende Art und Weise zum Vorschein.
Aus der gedämpften Volksstimmung Kapital zu schlagen und dieses von der Krise geprägte Zeitfenster für sich zu nutzen, haben viele Akteure aus Politik- und Medienwelt schnell verstanden. Aus verschiedenen Kreisen der Gesellschaft erheben Meinungsführer die Stimme für Leitkultur und Dominanz nationaler Werte anstelle von Multikulturalismus und Vielfalt.
Aus Parteimitgliedern und Beamten werden Schriftsteller und Wissenschaftler, die ihre Vorstellungen in Form von neuen wissenschaftlichen Befunden in Volkssprache kundtun und ihre Pamphlete millionenfach verkaufen. Nachdem Thilo Sarrazin dank seines „akribisch recherchierten“ Werkes „Deutschland schafft sich ab“ solcherart in atemberaubender Geschwindigkeit vom öffentlichen Dienst in den Olymp der Schwergewichtsdenker der Republik katapultiert wurde, lässt seine Popularität erschreckende Erkenntnisse über die Manipulation der Volksstimmung zu. Das Bildungsbürgertum? Es hat sich einfach mitreißen lassen: Viele Herausgeber intellektueller Zeitungen und Magazine mussten eine besorgniserregend hohe Konsumrate des Werkes unter ihrer eigenen Leserschaft feststellen.
Die derzeitige Euro-Krise kommt dem neuen Volkshelden freilich sehr gelegen, spült ihm die neu geschürte finanzielle Besorgnis der Bevölkerung doch noch mehr eben jenen Euros in die eigene Tasche. Verantwortlich sind die Leser seines neuen Werkes „Europa braucht den Euro nicht“, die von dem Autor – diesmal in Gestalt des Euro-Kenners – aufgeklärt werden möchten.
Angstschürende Propagandawerke wie dieses sind wie auch die bis vor Kurzem kaum für möglich gehaltenen Einschränkungen der Medienrechte in Ungarn, die Wiedereinrichtungsversuche der Grenzkontrollen in Dänemark oder die hohe Arbeitslosigkeit in Spanien ein herber Rückschlag für die europäische Integration und all die liberalen Intellektuellen, die sich jetzt in der Defensive wiederfinden.
Gleichzeitig macht diese Entwicklung deutlich, dass Europa angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen noch mehr Visionäre und leidenschaftliche Politiker braucht als je zuvor. Europa braucht Menschen, die den europäischen Gedanken in attraktivem Licht erscheinen lassen, ihm also ein gewisses Sex-Appeal verleihen und eine klare Richtung für die Zukunft vorgeben und nicht solche, die ihre anti-europäischen Wahlprogramme je nach Volksstimmung zusammenbasteln.
Die Abwahl von Sarkozy weist vor allem darauf hin, dass es mit seiner halbherzigen EU-Politik nicht gelungen ist, die Wählerschaft von der Notwendigkeit eines starken Europas zu überzeugen. Ob François Hollande mit seiner Anti-Euro-Politik im Präsidentenamt ebenso profitieren wird wie während seines Wahlkampfes, bleibt abzuwarten.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass der europäische Integrationsprozess ein Selbstläufer ist. In seinem Plädoyer in der „Welt am Sonntag“ bringt Sebastian Schnoy es metaphorisch auf den Punkt: „Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“
Für ein gemeinsames Europa einzustehen und andere davon zu überzeugen sollte das Motto jedes einzelnen Bürgers sein. Sich entsprechend zu informieren und nicht der Propaganda der Anti-Europa-Politiker wie Sarrazin und seinesgleichen zum Opfer zu fallen, sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, das Spielfeld Europa den Anti-Europäern zu überlassen. Es bedarf mehr Ansätzen für die Stärkung der europäischen Wertegemeinschaft und einer stärkeren Einheit. Es muss wieder eine Aufbruchstimmung herrschen.
Die Voraussetzungen dafür sind gegeben: Wie schon John F. Kennedy bemerkte, setzt sich „das Wort Krise im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen. Das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit.“ Die heutige Krise ist für uns eine Chance, aus all den Fehlern zu lernen und kühn den Weg in eine gemeinsame europäische Zukunft zu beschreiten. Aktuell Meinung
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