Rechtsextremismus
Gesellschaftliche Selbstentlastung
Die Untersuchungen der NSU-Morde fokussieren vorwiegend auf Ermittlungspannen und Verfahrensfehler. Der Blick auf gesellschaftliche Reproduktionsprozesse von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wird dabei vernachlässigt - von Prof. Wilhelm Heitmeyer.
Von Prof. Wilhelm Heitmeyer Donnerstag, 14.06.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.06.2012, 14:59 Uhr Lesedauer: 13 Minuten |
Die öffentliche Debatte und die Auseinandersetzung in den politischen Institutionen hat sich anlässlich der Aufdeckung der Morde durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) der sogenannten Zwickauer Zelle aufschlussreich entwickelt. Es sollte daher auch die Frage aufgeworfen werden, ob es sich um einen selbsttäuschenden Duktus handelt, der statt auf Selbstaufklärung eher auf gesellschaftliche Selbstentlastung hinausläuft. Diese wäre etwa gegeben, wenn im öffentlichen und politischen Diskurs eine Abtrennung der verbrecherischen Terrorzelle von einer ansonsten als „intakt“ dargestellten Gesellschaft betrieben würde.
Die erste Frage lautet also: Wird eine solche Abtrennung durch die Betonung eines Kontrollparadigmas betrieben? Eine heute viel gehörte Meinung lautet nämlich: Wären nur die Kontrollen effizienter gewesen, hätten die dramatischen Probleme vermieden werden können. Meine These lautet, dass es in den Diskursen und agierenden Institutionen die Ausrichtung auf ein dominierendes Kontrollparadigma gibt.
Die zweite Frage geht dahin, ob damit eine Vernachlässigung des gesellschaftlichen Entstehungs- und Radikalisierungsparadigmas einhergeht. Meine These lautet, dass es eine solche Vernachlässigung gibt. Die dritte Frage richtet sich auf die Konsequenzen und darauf, wie diese Fehlentwicklungen mithilfe wissenschaftlicher Ansätze verhindert werden können. Meine These lautet, dass dies durch öffentliche Debatten unter anderem mit Ergebnissen einer soziologischen Rechtsextremismusforschung gefördert werden kann.
Soziologische Rechtsextremismusforschung
Klassisch im Bereich der Rechtsextremismusforschung ist die politikwissenschaftliche Fundierung entlang von Parteiprogrammen, Wahlerfolgen, politischen Symboliken, historisch-politischen Anknüpfungen und anderem mehr. Angesichts der These des dominierenden Kontrollparadigmas und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Selbstentlastung ist jedoch eine Erweiterung durch die Intensivierung einer soziologischen Rechtsextremismusforschung unbedingt notwendig.
Soziologische Rechtsextremismusforschung 1 stellt unter anderem die Interaktions- und Erfahrungsprozesse von sozialer Integration bzw. Desintegration, die subjektiven Verarbeitungen in Richtung politischer Einstellungen und die Prozesse von Radikalisierung in Gruppen in den Vordergrund. Sie thematisiert damit sowohl Einstellungsmuster in der Bevölkerung wie etwa die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) 2 im Verhältnis zu rechtspopulistischen Gruppen und radikalisierten Milieus wie Autonome Nationalisten oder NPD-Teilgruppen, Freie Kameradschaften sowie Terrorzellen. Es geht um ein Kontinuum der Radikalisierung durch soziale Beeinflussungsprozesse mit politischem Inhalt wie vor allem der Ideologie der Ungleichwertigkeit als Legitimation, die – je nach Radikalisierungsgrad – beginnend bei Gewaltbilligung bis zur tödlichen Gewalt reichen kann. Welche gesellschaftlichen Prozesse machen die Ideologie der Ungleichwertigkeit und ihre Ausbreitung erst möglich?
Die Behauptung, dass dies auf erfolgreiche Propaganda der Rechtsextremisten zurückzuführen ist, ist bisher nirgends nachgewiesen worden. So wird soziologische Rechtsextremismusforschung prozessorientiert im gesellschaftlichen Alltag positioniert, ist auf Interaktionsprozesse und weniger auf die Innenausstattung zum Beispiel von rechtsextremen Freien Kameradschaften oder der NPD ausgerichtet.
Analyse von Interaktionsprozessen
Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Vorrates an Gewalt legitimierender Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind es die Interaktionsprozesse zwischen solchen Akteuren bzw. Akteursgruppen und dem sozialen Umfeld und ihren Wirkungen, seien es Angst erzeugende Drohungen, Anwerbungen oder andere Dinge, die dann unter Umständen Radikalisierungen ermöglichen. Immer geht es darum, die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Prozessen und politischen Aktivitäten zuvorderst in den Blick zu nehmen und die schon kritisierte Abtrennung zu verhindern.
Um den Blick zu schärfen und um die Interventionschancen bei vorhandenem politischen Willen bzw. Interventionsinteressen in der Bevölkerung zu verbessern, ist es notwendig, die wechselseitigen Prozesse zu analysieren. Dabei werden in diesem Modell anhand von sechs Prozessen die Zusammenhänge beleuchtet. 3
Prozess 1: Politische Entscheidungen, die soziale Desintegration für Gruppen in der Gesellschaft erzeugen, verstärken Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung. 4
Prozess 2: Menschenfeindliche Mentalitäten verändern negativ das soziale Klima und die demokratische politische Kultur in den Sozialräumen von Städten und Gemeinden. 5
Prozess 3: Menschenfeindliche Mentalitäten schaffen Legitimationen für den organisierten oder subkulturellen Rechtsextremismus und rechtspopulistische Aktivitäten.
Prozess 4: Organisierter Rechtsextremismus bietet ein Wahlangebot und knüpft an den Zusammenhang von Desintegration und Demokratieentleerung an. Von besonderer Bedeutung ist das rechtspopulistische Mobilisierungspotenzial. 6
Prozess 5: Organisierter Rechtsextremismus skandalisiert gesellschaftliche Entwicklungen der Desintegration und der Effekte eines autoritären Kapitalismus. 7 Lokale wie regionale Wahlerfolge führen zu einer „Normalisierung“ rechtsextremistischer Parteien in Teilen der Bevölkerung. 8
Prozess 6: Gegenreaktionen: Staatliche Repression und zivilgesellschaftliche Intervention müssen statt in mechanistischer Einwirkung in komplexerer Dynamik der Interaktionen gedacht werden als dies bisher geschieht. 9
Bei allen wechselseitigen Interaktionen stellt sich im Sinne des Entstehungs- und Radikalisierungsparadigmas immer die Frage, welches die Ursachen sind und welche Akteursgruppen in welche dieser Prozesse mit welcher Erklärungs- und Handlungskompetenz eingreifen können. Ein solches Paradigma nimmt alle drei Eckpunkte in den Blick, während das Kontrollparadigma nur auf einen Komplex fokussiert und anderes wie etwa Mentalitäten in der Bevölkerung unbeachtet lässt.
- Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim-München 1987; ders., Von ökonomisch-sozialen Alltagserfahrungen zur rechtsextremistisch motivierten Gewalt-Eskalation, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Hitlers Schatten verblaßt. Die Normalisierung des Rechtsextremismus, Bonn 1989, S. 101-133.
- Vgl. ders., Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 1, Frankfurt/M. 2002, S. 15-34.
- Vgl. ders., Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Interaktionsprozesse im gesellschaftlichen Raum, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Rechts außen – Rechts ‚Mitte‘?, Baden-Baden 2011, S. 21-38, hier: S. 24.
- Vgl. Jürgen Mansel/Oliver Christ/Wilhelm Heitmeyer, Der Effekt von Prekarisierung auf fremdenfeindliche Einstellungen. Ergebnisse aus einem Drei-Wellen-Panel und zehn jährlichen Surveys, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012, S. 105-128.
- Vgl. Martin Petzke/Kirsten Endrikat/Steffen Kühnel, Risikofaktor Konformität. Soziale Gruppenprozesse im kommunalen Kontext, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt/M. 2007, S. 52-76; Julia Marth/Andreas Grau/Sandra Legge, Fremdenfeindlichkeit: Warum der lokale Kontext einen Unterschied macht, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010, S. 61-81; Andreas Grau/Eva-Maria Groß/Jost Reinecke, Abgehängte Sozialräume. Die Bedeutung der Jugendarbeitslosigkeit für Orientierungslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit, in: W. Heitmeyer (Anm. 4), S. 129-149.
- Vgl. Dagmar Schaefer/Jürgen Mansel/Wilhelm Heitmeyer, Rechtspopulistisches Potential. Die „saubere Mitte“ als Problem, in: W. Heitmeyer (Anm. 2), S. 123-135; Wilhelm Heitmeyer/Jürgen Mansel, Entleerung der Demokratie. Die unübersichtlichen Folgen sind weitreichend, in: Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt/M. 2003, S. 35-60; Anna Klein/Wilhelm Heitmeyer, Demokratie auf dem rechten Weg? Entwicklungen rechtspopulistischer Orientierungen und politischen Verhaltens in den letzten zehn Jahren, in: W. Heitmeyer (Anm. 4), S. 87-104.
- Vgl. Bernd Wagner, Neuer Rechtsextremismus und „kulturelle Subversion“, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (2008) 4, S. 6-16; Dierk Borstel, „Braun gehört zu bunt dazu!“, Rechtsextremismus und Demokratie am Beispiel Ostvorpommern, Münster 2011.
- Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Sandra Legge, Nichts sehen, nichts merken, nichts tun oder: Couragiertes Eintreten gegen Rechtsextremismus in Ost und West, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 7, Frankfurt/M. 2009, S. 168-189.
- Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Unthematisierte Reproduktionsprozesse. Zur Selbststabilisierung eines feindseligen Klimas, in: ders. (Anm. 5, 2007), S. 281-293.
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„Die Untersuchungen der NSU-Morde fokussieren vorwiegend auf Ermittlungspannen und Verfahrensfehler. “
Hallo? Das waren weder „Pannen“ noch „Fehler“, sondern Vertuschung im wahrsten Sinne des Wortes. Wie sonst kann man die jahrelange Blindheit des VS erklären? Was war nochmal mit dem Verfassungsschutzbeamten, der an dem Mordtag „zufällig“ im Internet-Cafe war? Hat eventuell Bilkay Öney mit dem Begriff „Tiefer Staat“ etwa doch recht?
die Frage ist auch, ob das Individuum nicht in einen Prozess gestossen ist, der ihn dazu veranlasst, permanent Situationen zu konstruieren, die sagen: Ihr hättet in dieser Situationen auch nicht anders gehandelt. ??
„Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. (…) Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
Aus der Rede Carlo Schmids am 8. September 1948 im Parlamentarischen Rat
Die Position von Wilhelm Heitmeyer ist überzeugend. Mir scheint es aber wichtig, bei aller nötigen Kritik am ‚Rechtsextremismus‘ auch der Kritik am Antiislamismus (‚Der Islam ist nicht integrierbar‘) hinreichend eigenen Raum zu geben. Wenn wir uns ganz auf den Rechtsextremismus konzentrieren, verlieren wir u.U. die islamophobe bzw. islamophage Agitation aus aus dem Auge und keineswegs alle Antiislamisten sind auch Rechtsextremisten, selbst wenn sie ihnen unbeabsichtigt Futter schneiden. Klaus J. Bade