Kısmet
Pech im Spiel, Glück in der Liebe
Eine unglaubliche Geschichte. Hätte ich nicht (wie immer) auf der Couch gesessen, wäre ich wohl vom Stuhl gefallen. Wir waren wieder einmal in geselliger Runde im Wohnzimmer meiner Schwiegereltern beisammen gekommen.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 15.08.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.08.2012, 22:22 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Entspannte Unterhaltung bei Börek und Tee. Ab und an kann es allerdings hektisch werden. Wortgefechte erhitzen plötzlich die Gemüter. Besonders wenn mein Schwiegervater seinem Lieblingshobby frönt. Lotto. Er versucht immer wieder klammheimlich jemanden aus der Runde beiseite zu nehmen und seine EC-Karte sowie seine Spielscheine mit einem Augenzwinkern zuzustecken. Das tat er schon so oft, dass seine Pin-Nummer innerhalb der Familie ein offenes Geheimnis ist.
Während seine Zahlen sich von Woche zu Woche ändern, ist das Resultat seiner Aktionen im Grunde stets dasselbe. Ein Klaps auf dem Hinterkopf seitens der durchsetzungsstarken Hand meiner Anne samt anschließendem Streitgespräch der beiden. Früher hatte er wohl hunderte von Mark pro Monat in Scheine verpulvert. Sehr zum Leidwesen meiner Schwiegermutter, einer durch und durch rationalen Frau mit Abneigung gegen Glücksspiele. Als ich amüsiert anmerkte, dass man ohnehin nie den Jackpot knacken würde, wurde es stumm im Raum. Hätten mir nicht alle Anwesenden mit Schwüren jeglicher Art die Geschichte beglaubigt, ich würde sie nicht glauben.
Es war an einem Freitagabend. Meine Freundin war zehn Jahre alt. Sie wollte unbedingt einen Lottoschein mit ihrem Vater ausfüllen. Erwachsenendinge stellen eben einen besonders großen Reiz für Kinder dar. Also ließ mein Schwiegervater sie zehn Kästchen ausfüllen und schrieb ihrer beider Namen auf den Schein. Mein Schwiegervater konnte seinen Kindern noch nie einen Wunsch ausschlagen. Aber was wäre die Freude über die Teilnahme an Erwachsenendingen wert, wenn man sie nicht teilen könnte. So schlich sich meine Freundin zur Lottodose in der Küche, wo noch heute alle Scheine aufbewahrt werden und nahm ihn mit zu einer Freundin. Derweil machte mein Schwiegervater sich auf zur Lottobude und gab seine Scheine ab – außer einem.
Am nächsten Tag stand besagte Freundin meiner Freundin vor der Tür und gratulierte meinem Schwiegervater. Den Schein seiner Tochter hatte er nicht kontrolliert, da er nicht abgegeben wurde. Als er doch einen Blick auf den Schein warf, wäre er sicherlich vom Stuhl gefallen, wenn er nicht schon auf der Couch gesessen(oder besser gekauert) hätte. Zwei Sechser, vier Fünfer. In ihrer kindlichen Naivität freute sich meine Freundin ob ihres sagenhaften Gespürs. Ihr Vater eher weniger. Die beiden folgenden Tage waren wohl die einzigen im Leben meines Schwiegervaters, an denen er nicht die Geselligkeit der Familie suchte, sondern die Abende lieber mit brennenden Kopfschmerzen teilte. Würde ich nicht die Hand meiner Schwiegermutter kennen, würde ich vermuten, dass manch kahle Stelle auf seinen Kopf dem Haare raufen dieser Tage geschuldet war.
In die Haare bekommen sich meine Schwiegereltern ganz gerne auch beim Thema Eigenheim. Seit über 30 Jahren wohnen sie in ihrer Wohnung in einer beschaulichen Kleinstadt. Mein Schwiegervater lässt ab und an die vielzähligen Möglichkeiten Revue passieren, die er seiner Meinung nach gehabt hätte, ein stolzer Hausbesitzer zu werden. Mehrfach war ihm vor einigen Jahrzehnten günstiger Bauplatz angeboten worden. Baba hatte schon immer guten Kontakt zum Bankdirektor seines Instituts und zum Bürgermeister. Der frühere Bankdirektor war seinerzeit des Öfteren in den Genuss von Couchplatz und Cay gekommen, seine Nachfolger nehmen diese Gepflogenheit nicht mehr wahr. Besser ist der Draht von meinem Schwiegervater nach wie vor zum Bürgermeister. Dies ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass er direkt neben der Stadtverwaltung wohnt und trotz seines schlechten Gesundheitszustandes die paar Meter mit einigen Verschnaufpausen zurücklegen kann. Noch heute überreicht er dem Stadtvorsteher eine Flasche Wein zu festlichen Anlässen. Ein Lottogewinn hätte den Traum meines Schwiegervaters vom Haus mit Garten sicher beflügelt. Ich wette, er wäre trotzdem alljährlich mit einer Flasche zum Bürgermeister gegangen. Baba hat es zwar nicht zum familiären Traumhaus gebracht (mit Platz für alle Familienmitglieder!), aber dafür ein zu Hause geschaffen, das von Wärme von Zusammenhalt geprägt ist. Der verpasste Lottogewinn ist gerade deshalb nunmehr eine gelegentliche Anekdote unter vielen. Familiäres Glück ist eben nicht mit einem Lottogewinn zu bezahlen und obendrein auch keine Selbstverständlichkeit. Eine Alternative zu dieser Wohnung ist insbesondere für meine Schwiegermutter ohnehin unvorstellbar geworden.
Als meine Schwiegereltern noch regelmäßig im Urlaub in der Türkei weilten, ergriff meine Anne schon nach einigen Tagen das Heimweh. Sie wollte nach Hause! Für alle Familienmitglieder war die Wohnung, in der vier Kinder aufgewachsen sind, stets ein zu Hause geblieben. Manchmal auch unverhofft, wie bei meiner Freundin, als sie vor einigen Jahren auf akuter Wohnungssuche war. Eigentlich war sie sich schon mit den Vermietern einig und wollte ihr neues Heim bei der Vertragsunterschrift ihren Eltern präsentieren, als die Frau des Vermieters einen misstrauischen Gesichtsausdruck aufsetzte. „Sind sie etwa Türken?“, fragte sie. „Nein, da habe ich ja immer gleich eine schreiende Horde hier, das will ich nicht“, war ihre Reaktion.
Ähnliche Situationen häuften sich, weshalb meine Freundin einige Zeit Unterkunft bei ihren Eltern fand. Auch andere Gäste waren hier willkommen und finden sich in zahlreichen Erzählungen wieder. Mitunter noch unverhoffter als meine Freundin. Eines Abends war ein frisch verheiratetes und vollkommen unbekanntes Ehepaar mit ihrem Auto in der Nähe der Wohnung meiner Schwiegereltern liegen geblieben. Pragmatisch und hilfsbereit wie Baba ist, bot er gleich an, den Wagen zu reparieren. Er hat eine Begabung für handwerkliche Dinge. Als er nun dem Ehepaar mitteilen musste, dass die Reparatur ihres Wagens noch einen weiteren Tag dauern würde, ließ er keine Wiederrede gelten und sorgte dafür, dass die frisch Vermählten bei seiner Frau und ihm übernachten konnten. Auch sie saßen also schon hier im Wohnzimmer und genossen Gastfreundschaft, Tee und andere Köstlichkeiten. So wie wir neulich wieder, als mein Schwiegervater aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Die Erleichterung war spürbar. Meine Freundin machte der Anspannung der vergangenen Tage Luft, indem sie ihren Vater innig umarmte und gar nicht mehr loslassen wollte. Dabei konnte sie nicht oft genug betonen, wie unglaublich stolz sie auf ihren Vater sei.
Das liegt sicher nicht nur an seiner Bereitschaft, für die Familie zu schuften, sondern umso mehr an der Bereitschaft, seine Familie zum Mittelpunkt seines Lebens zu machen. Und an diesem Glück auch andere teilhaben zu lassen. Als Baba nach zwei Tagen Abstinenz auf seinem angestammten Sessel Platz genommen hatte, lehnte er sich zurück, schaute etwas wehmütig und ließ die um ihn stattfindende Diskussion an sich vorüberziehen. Meine Schwiegermutter hatte meine Freundin in Beschlag genommen und echauffierte sich gerade, dass ihr Mann schon wieder Lotto gespielt hatte. Er hatte einen Pfleger im Krankenhaus dazu bewegen können, für ihn einen Schein auszufüllen. Ob er ihm dafür Bargeld oder vielleicht doch seine EC-Karte samt Pin gegeben hatte, wollte er nicht offenbaren. Wahrscheinlich aus gutem Grund. Der Alltag hatte ihn wieder. Baba nahm mich beiseite und flüsterte mir ins Ohr, dass er sehr froh sei, eine solche Familie zu haben. Wir lachten verschmitzt, machten es uns gemütlich und nahmen einen Schluck Tee. Warum sich über Lotto ärgern. Alles ist Kısmet. Aktuell Meinung
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