Assoziationsrecht - EWG-Türkei
Bundesregierung ignoriert gezielt Rechtsprechung des EuGH
In mehreren Fällen hat die Bundesregierung vor dem EuGH mit ihren Argumenten zum Assoziationsrecht Schiffbruch erlitten. Dennoch sollen türkischen Migranten ihre Rechte weiter vorenthalten werden - der Fall „Dülger“. Ein Kommentar von Sevim Dağdelen
Von Sevim Dağdelen Donnerstag, 13.09.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 14.06.2015, 20:24 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) genervt sein muss vom Widerwillen der Bundesregierung, türkischen Staatsangehörigen die ihnen nach dem EWG-Türkei-Assoziationsabkommen zustehenden Rechte zu gewähren, ist nicht erst seit der öffentlichen Klage der EuGH-Richterin Maria Berger zu vermuten. Diese hatte es im Interview mit Die Presse als „auffällig“ bezeichnet, wie oft der EuGH über das Assoziationsrecht entscheiden müsse: „In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen“.
Immer wieder muss der EuGH also Urteile zur Auslegung des Assoziationsrechts treffen, die bei verständiger Würdigung seiner bisherigen Rechtsprechung absolut entbehrlich wären. Denn die Bundesregierung hält (neben anderen Mitgliedstaaten) aus politischen Gründen an Rechtsauffassungen fest, von denen sie längst weiß, dass sie rechtlich nicht haltbar sind und dass der EuGH sie früher oder später kippen wird. Das Problem für die Betroffenen dieser Verweigerungshaltung ist, dass der EuGH nach meist langjährigen Verfahren erst einmal die Gelegenheit dazu bekommen muss, über entsprechende Einzelfälle zu entscheiden.
In mehreren Fällen hat die Bundesregierung vor dem EuGH mit ihren Argumenten zum Assoziationsrecht Schiffbruch erlitten. Aber sie spielt auf Zeit, um so lange wie möglich an ihrer restriktiven Politik festhalten zu können. Deshalb weigert sie sich auch, „ihre Rechtsauffassung fortlaufend zum Anlass von Detailstellungnahmen zu machen und in einen juristischen Fachdisput einzutreten“, wie sie mir gegenüber auf parlamentarische Anfragen mehrfach erklärte. Denn würde die Bundesregierung die Rechtsprechung des EuGH zum Assoziationsrecht tatsächlich umsetzen, käme dies dem Eingeständnis gleich, mit den maßgeblichen aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen der letzten Jahre faktisch gescheitert zu sein. Und es würde bedeuten, dass die Bundesregierung künftig ihre rechtspopulistische Stimmungsmache nicht mehr durch gesetzliche Verschärfungen untersetzen kann.
Stattdessen wird es aber wohl noch eine Zeitlang dabei bleiben, dass der EuGH in Urteilen zum Assoziationsrecht das Vorbringen der Bundesregierung immer wieder zurückweisen muss. So zuletzt geschehen in dem nachfolgend näher zu betrachtenden Verfahren „Dülger“. Deshalb kann und will ich der Bundesregierung auch in Zukunft den für sie offenbar peinlichen „Fachdisput“ nicht ersparen. Denn hinter den mitunter sehr aufwändig betriebenen juristischen Spitzfindigkeiten verbergen sich aus meiner Sicht eine klare Ablehnung vor allem gegenüber türkischen Migrantinnen und Migranten und eine rechtsstaatlich inakzeptable Missachtung des Europäischen Gerichtshofs.
Worum ging es im „Dülger-Urteil“ des EuGH? Zu entscheiden war, ob die Rechte von Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer/innen – auf Beschäftigung und Aufenthalt (nach Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses ARB 1/80) – davon abhängig sind, dass die Familienangehörigen selbst die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Im konkreten Fall ging es um die eigenständigen Aufenthaltsrechte einer geschiedenen thailändischen Ehefrau eines türkischen Staatsangehörigen nach langjährigem legalem Aufenthalt. Die maßgebliche Vorschrift nach Art. 7 enthält im Wortlaut keine Einschränkung auf türkische Familienangehörige, und eine solche Einengung würde auch dem Ziel der Vorschrift widersprechen, zu „einer besseren Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und ihren Familienangehörigen“ zu kommen (Präambel von ARB 1/80). Zudem ist es ständige Rechtsprechung des EuGH, dass die in den EU-Verträgen verbürgten Grundsätze zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen so weit wie möglich auf das Assoziationsrecht zu übertragen sind – selbstredend genießen die Familienangehörigen von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern grundlegende Freizügigkeitsrechte unabhängig davon, ob sie selbst Unionsangehörige sind oder nicht.
Eine klare Sache also, sollte man meinen. Die deutsche Bundesregierung aber sah es mal wieder anders. Sie argumentierte in einem aufwändigen Schriftsatz vor allem mit einem Urteil des EuGH vom 8. Dezember 2011 („Ziebell“). In diesem Verfahren war es darum gegangen, ob der besonders starke Ausweisungsschutz für Unionsbürgerinnen und -bürger auf türkische Staatsangehörige übertragen werden muss. Diese Frage verneinte der EuGH und wies darauf hin, dass das Konzept der Unionsbürgerschaft mit seinen besonders starken Rechten ein anderes Ziel verfolge als das Assoziationsabkommen, das einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck habe. Der EuGH selbst verwies im „Ziebell“-Urteil allerdings mehrfach darauf, dass dieses wirtschaftliche Ziel unter anderem durch die schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit erreicht werden soll und hierzu auch soziale Regelungen „zugunsten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ gehören (Randnr. 65). Das aber musste im Ziebell-Urteil nicht weiter vertieft werden, weil es dem EuGH bei der Frage der Nicht-Übertragbarkeit der Regelungen zum Schutz vor Ausweisung darauf ankam, die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Konzept der Unionsbürgerschaft und dem Assoziationsrecht, das die künftige EU-Mitgliedschaft der Türkei vorbereiten und erleichtern soll, herauszuarbeiten. Keinesfalls wurde mit dem Urteil die bisherige liberale Rechtsprechung des EuGH zu den Rechten türkischer Staatsangehöriger und ihrer Familienangehörigen in Frage gestellt.
Die Bundesregierung aber pickte sich in bekannter Manier diejenigen Passagen des Ziebell-Urteils heraus, die ihr politisch in den Kram zu passen schienen. Weil das Assoziationsabkommen vor allem wirtschaftliche Ziele verfolge, so argumentierte sie im Dülger-Verfahren, könne der Familienbegriff des Assoziationsrechts nicht unter Heranziehung unionsrechtlicher Bestimmungen ausgelegt werden. Nicht-türkische Ehegatten von türkischen Staatsangehörigen könnten sich deshalb nicht auf die Rechte für Familienangehörige nach dem Assoziationsrecht berufen, trug sie vor. Eine andere Auslegung würde in der Praxis „unübersehbare“, in Deutschland „besonders spürbare“ und auch in anderen Mitgliedstaaten der EU „beachtliche Folgen“ haben, warnte sie in rechtspopulistischer Manier. Angesichts der äußerst überschaubaren Zahl von Eheleuten mit gemischter Staatsangehörigkeit (Türkei-Drittstaat), für die das Urteil überhaupt Auswirkungen hat, muss dieses von der Bundesregierung gegenüber dem EuGH entworfene Bedrohungsszenarium als absurd bezeichnet werden – günstigstenfalls, denn neben einer gestörten Realitätswahrnehmung käme auch eine tief verinnerlichte Abwehrhaltung als Ursache in Betracht. Der EuGH jedenfalls konterte im Urteil kühl mit dem Hinweis, dass die strittigen Rechte ohnehin erst dann zur Anwendung kommen, wenn der Aufnahmemitgliedstaat zuvor die Familienzusammenführung nach nationalem Recht erlaubt hat – von „unübersehbaren Auswirkungen“ mithin keine Spur.
Bereits der Generalanwalt des EuGH Yves Bot hatte in seinem Schlussantrag im „Dülger“-Verfahren die Haltung und Argumentation der Bundesregierung mit deutlichen Worten kommentiert: „Mir ist nicht ersichtlich, wie die Ansicht vertreten werden könnte“, hieß es gleich zwei Mal in seinem Plädoyer in Erwiderung des deutschen Vorbringens (Randnummern 33 und 49). Er fühlte sich genötigt auszuführen, dass „Familie“ sich nicht definiert „durch den Besitz derselben Staatsangehörigkeit“ (Randnr. 32). Art. 7 sei mit dem Ziel erlassen worden, „die familiäre Einheit zu wahren“, und diese Bestimmung sei „aus menschlicher Sicht von ganz besonderer Bedeutung“ (Randnr. 31). Die „menschliche Sicht“ ist allerdings ganz offenkundig keine, die die Bundesregierung im Umgang mit nicht-deutschen Staatsangehörigen einzunehmen bereit ist.
Letztlich kam es, wie es kommen musste: Die Bundesregierung holte sich im Dülger-Urteil erneut eine Abfuhr. „Dieses Argument“, das Assoziationsabkommen verfolge in erster Linie wirtschaftliche Zwecke, „greift nicht durch“, hieß es im Urteil unmissverständlich (Randnr. 44). Der EuGH verwies mehrmals auf seine bisherige Rechtsprechung und stellte klar, dass die Gründe für die Regelungen der Rechte Familienangehhöriger in Art. 7 ARB 1/80 „eindeutig über rein wirtschaftliche Erwägungen hinausgehen“. Die Familienzusammenführung spiele dabei „eine zentrale Rolle“ (Randnr. 41); Hauptzweck sei die Stärkung der Stellung der Familienangehörigen (Randnr. 40). Eine restriktive Auslegung dieser Vorschrift sei auch nicht mit Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta (Recht auf Privat- und Familienleben) vereinbar.
Ich fragte die Bundesregierung daraufhin in einer Schriftlichen Frage, welche Konsequenzen sie aus dem „Dülger“-Urteil ziehe, zumal ihr Argument mit den angeblich ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken des Assoziationsrechts vom EuGH eindeutig zurückgewiesen worden war.
Und was antwortete die Bundesregierung?
Als hätte es das Dülger-Urteil nicht gegeben, zitierte sie erneut die Passagen aus dem Ziebell-Urteil, die ihr so passend und nützlich erschienen waren – und die sie aber vergeblich bereits im Dülger-Verfahren vorgebracht hatte! Zwar erkannte sie (gezwungenermaßen) an, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch eine soziale Dimension besitze, die der EuGH im Dülger-Urteil in den Blick genommen habe. „Das ändert aber nichts daran, dass sich assoziationsrechtliche Auslegungsfragen auch weiterhin davon leiten lassen müssen, dass es Ziel des Assoziierungsabkommens (AssAbk) ist, ‚eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien‘ zu fördern.“ Was kontextlos noch als Plattitüde durchgehen könnte, ist angesichts der im Kern genau anders gelagerten Feststellungen im Dülger-Urteil eine Unverschämtheit und geeignet, den anfangs beschriebenen mutmaßlichen Zorn der Richterinnen und Richter des EuGH auf die Bundesregierung weiter anwachsen zu lassen.
Man stelle sich einmal vor, die Bundesregierung würde ungerührt an einer Rechtsauffassung festhalten, die gerade erst vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde! Was wäre da los? Die Auslegung und Anwendung des Assoziationsrechts darf deshalb keine exklusive Angelegenheit des halsstarrigen Bundesinnenministeriums bleiben! Ich fordere die Bundesjustizministerin und die Bundeskanzlerin dazu auf, bei der anstehenden Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Assoziationsrecht und bei der Überarbeitung der seit 10 Jahren nicht mehr der Rechtsprechung des EuGH angepassten Anwendungshinweise zum Assoziationsrecht dem Innenministerium im Kabinett genau auf die Finger zu schauen und auf eine respektvolle und umfassende Beachtung der Rechtsprechung des EuGH zum EWG-Türkei-Assoziationsrecht hinzuwirken – selbstverständlich im Sinne der Betroffenen. Aktuell Meinung
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