Kısmet
Der Familienmotor läuft trotz leeren Akkus
Die Akkus sind leer. Aufstehen, arbeiten, essen, schlafen. Aufstehen, arbeiten, essen, schlafen. Zum Jahresende sind die Arbeitswochen besonders schwer und zäh. Da kam die Entspannung auf der Couch der Schwiegereltern wie ein Segen.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 05.12.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.12.2012, 7:57 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Zudem nagen die Außentemperaturen an der körperlichen Verfassung. Der warme Tee wird somit zu einer besonderen Wohltat. Fast halbschlafen wandern meine Augen durch das schwiegerelterliche Wohnzimmer und bleiben an den Bildern hängen, die wie Fenster in vergangene Zeiten Einblick in den Werdegang der Familie geben.
Während ich über den Alltag lamentiere, erzählt Baba davon, wie er seinerzeit einen ähnlichen Tagesablauf hatte wie ich zuletzt. Mit dem Unterschied, dass die Rahmenbedingungen ganz andere waren. Um nach Deutschland zu kommen, hatte er die meisten seiner Habseligkeiten verkauft, die nicht vom Erdbeben zerstört worden waren. Das in Deutschland verdiente Geld hatte er nach Hause zur Familie geschickt. Als seine Frau zu ihm gestoßen war, legten sie zur feierabendlichen Entspannung nicht die Beine auf die Couch, sondern breiteten zum Abendessen Zeitungen auf dem Boden aus, um ihre gemeinsame Mahlzeit zu sich zu nehmen. Das nennt man wohl materiellen Aufbau von Grund auf. Damit hatte er uns schon das nächste Stichwort gegeben. Denn neue Möbel standen auch bei meiner Freundin und mir auf dem Programm, sodass wir uns verabschiedeten, um am nächsten Morgen das Wohnzimmer renovieren zu können. Mit einigermaßen aufgeladenen Batterien.
Am nächsten Mittag zeigt sich dann, dass unsere Leistungsfähigkeit endlich ist, sodass wir spontan meinen Schwager alarmieren, um uns zu unterstützen. Er kam gerade aus der Dusche, da auch er eine sechs Tage Woche beendet hatte, war dennoch nach 15 Minuten bei uns, damit das Projekt „neues Wohnzimmer“ nicht auf halber Strecke versandet. Ich kann nicht oft genug den Hut vor dieser Familie ziehen, die sich jederzeit gegenseitig hilft und zusammensteht. Das ist sicherlich auch das Vermächtnis meiner Schwiegereltern, die das Wohl der Familie jederzeit in den Mittelpunkt ihres Tuns stellten.
Woher sie dafür die Energie nahmen, ist für mich sehr fraglich. Lange Zeit sah das Leben meines Schwiegervaters so aus, dass er in der Nacht aufstand, um zur Nachtschicht zu gehen, vormittags nach Hause kam, um kurz zu essen und sich mit seinen Kindern zu unterhalten, wenige Stunden zu schlafen, aufzustehen und dann gleich die nächste Schicht anzugehen. Doppelschicht als Dauerprogramm. Für Anne ähnlich, die den Haushalt schmiss, die Kinder versorgte und über Jahre hinweg auch noch arbeiten ging. Ich kann mich da nur wiederholen: eine familiäre Symbiose.
Wir sind nach der ganzen Renoviererei fürs erste stehend k.o. Aber wir haben es dank tatkräftiger Unterstützung geschafft. Da trifft es sich gut, dass meine Schwägerin, Anne und Baba mit einer stärkenden Mahlzeit vor der Tür stehen, nachdem sie sich schon mehrfach telefonisch über den aktuellen Sachstand der Arbeiten informiert haben. Es gibt Dolma. Zünftig und stilecht wird es, als meine Mutter die gleiche Idee offenbart und uns spontan mit Eintopf versorgt. „Samstags gibt es dicke Suppe“, war schon immer der Schlachtruf meiner Großmutter gewesen. Die können wir auch noch verkraften. Das familiäre Zahnrad der permanenten Abstimmung ist erstmals in Stocken geraten, aber zu unserem Vorteil, weil es bei der Schufterei gar nicht genug zu essen geben kann. Schade nur, dass wir dabei nicht wie üblich gemütlich Platz nehmen können, sondern Babas Idee der Zeitungen auf dem Boden adaptieren müssen, weil das neue Sofa noch nicht geliefert ist und die verbliebenen Plätze als Abstellort vielzähliger Accessoires des ausgeräumten Wohnzimmers dienen. Abgesehen von zwei Stühlen, die wir für meine Schwiegereltern freiräumen konnten. Meine Mutter musste terminlich weiter, sonst wäre es mit Sitzgelegenheiten auch eng geworden.
Gut gestärkt starten wir einen letzten Durchgang beim Streichen. Meine Schwiegereltern werden mit ihren Sitzgelegenheiten in den Flur ausgelagert, wo es Anne und meiner Schwägerin nicht lange hält. Sie machen es sich zur Aufgabe, unser ausgeräumtes Inventar händisch vom Staub zu befreien.
Währenddessen unterhält uns Baba mit seinen kühnen Familienurlaubsvorschlägen, die wir uns doch verdient hätten. Ob die sich in die Tat umsetzen lassen, ist leider bei seinem Gesundheitszustand fraglich, sodass er auch eher ins Sinnieren über vergangene Ausflüge gerät. Um seine Familie einen jährlichen Urlaub zu gönnen, hat er nicht nur in der Schicht geschuftet, sondern auch mal einen Kredit aufgenommen, den es dann in den kommenden Monaten abzurackern galt. Dann hat er seinen Wagen voll mit Geschenken gepackt und ist zum Teil ohne Schlaf durchgefahren in die Türkei. Plötzlich grinst er mit verlorener Miene vor sich hin, als würde er ganz tief in der Kiste des Erlebten wühlen.
Ein Urlaub ist ihm in besonderer Erinnerung geblieben, als er einmal an der österreichischen Grenze von einem Beamten fortwährend gefragt wurde: „Du Haschich?“ Da er das Wort nicht kannte, antwortete er immerzu: „Nein, ich Türke.“ Und wieder von vorn. Bis er vor Wut dem Beamten seinen Pass durchs Fenster warf und sagte: „Schauen sie selbst, ich Türke.“ Statt einer Verhaftung bekam er freie Fahrt, der Beamte hatte offenbar aufgegeben und der Familie im Wagen nicht mehr zumuten wollen.
Aufklärung erhielten sie erst zufällig Monate später, als sie einen Krimi im Fernsehen sahen, wo es um ein Drogendelikt ging. Babas Gelächter darüber ist noch immer schallend. Haschisch hatte er gewiss nicht im Wagen, stattdessen eine Vielzahl an Süßigkeiten, deren Ausmaß auch sicherlich die Grenzbeamten verwundert hätte. In der Türkei wurde er von ganzen Kinderscharen empfangen, weil bekannt war, dass er gerne seine Mitbringsel an alle verteilte. Er hat nie gespart, um kleine Freuden zu bereiten. Und dabei auch immer an andere gedacht. Bei Schulausflügen hat er der gesamten Klasse seiner Kinder kistenweise Limonade in den jeweiligen Ferienort gefahren. Ich frage mich, wann der Mann überhaupt geschlafen hat zwischen Arbeit und Familienprogramm.
An mir nagt mittlerweile die Erschöpfung. Als ich mich gerade zu einer Zigarette nach draußen verdrücke, will mich Baba spaßeshalber dazu animieren, ihm auch eine anzubieten. Anne hat dies aus den Augenwinkeln erfasst und ihm sogleich einen zornigen Blick zugeworfen. Er habe seine Lunge doch schon genug geschädigt durch seine jahrelange Raucherei, die er vor zehn Jahren aufgegeben hat – und durch das Lackieren von Autos. Ja, das hat er auch noch gemacht. Bis er sich einen ersten Wagen leisten konnte, hat er reparaturbedürftige Wagen selbst zusammengeflickt, auch für Freunde und Bekannte. Diese gönnerhafte Art löst auch heute noch ab und an den Missmut meiner Schwiegermutter aus. An seiner Seite stand sie trotzdem immer. Mitunter auch beim Instandhalten der Wagen. Wen verwundert es, dass Baba auch hierfür eine Anekdote parat hat. So wollte er einmal eine Tür austauschen, die Anne festhalten sollte, ihm dabei aber hat auf den Kopf fallen lassen. Gebracht habe es trotzdem nichts, erwidert Anne, er könne ja immer noch nicht richtig denken. Er habe dafür beim Einsetzen einer Schiebetür beinahe ihren Finger abgetrennt. Und so liegen sie wieder einmal im liebevollen Zank miteinander.
Als ich vom Rauchen zurückkomme, leuchten Babas Augen vor Schalk. Junge, wie er mich immer fürsorglich nennt, wenn ihm Florian zu schwer auszusprechen ist, eins habe ich gelernt: Mit Frauen ist das Leben eine Qual, aber ohne Frauen ist das Leben nichts. Anne sieht das eher als Steilvorlage statt als Hommage und sie kabbeln sich wieder.
Inzwischen haben wir abseits dieses Unterhaltungsprogramms das Streichen beendet. Mittlerweile ist auch noch unsere Nichte hinzugestoßen, die meine Schwägerin vom Ballett abgeholt hat. Unsere Unterhaltungen langweilen sie, weshalb sie vorschlägt, stille Post zu spielen. Anne und Baba lassen sich trotz zurückhaltender Begeisterung umstimmen. Ihnen ist das Spiel unangenehm, weil sie sowohl ihre Sinnesorgane als auch ihre Sprachkenntnisse für zu schwach halten. Beides führt zu großem Amüsement. Denn die beiden sind die Letzen in der Reihe. Aus dem anfänglichen „Ich tanze Ballett“ meiner Nichte wird so bei Baba ein „Mit Frau im Bett“. Wie er darauf kommt, bleibt wohl sein Geheimnis, Anne nimmt dies mit hocherrötetem Kopf wahr, da sie wohl etwas Anstößiges hineininterpretiert. Nach langem Weigern spricht sie den Satz doch aus. Sie unterstellt Baba eine ausschweifende Fantasie, dabei sei er doch eher ein alter Mann. Baba schmiegt seinen Kopf zärtlich an sie und versucht die Situation mit einem Witz zu deeskalieren.
Neben Nasreddin Hodscha gehört vor allem Temel 1 zu seinen Favoriten. Dieser liegt krank im Bett und bittet seine Frau zu sich. Sie solle sich ein letztes Mal schick machen. Die Frau will ihm diesen Wunsch nicht abschlagen, es könnte immerhin sein Letzter sein. Als sie herausgeputzt vor ihm steht, will sie wissen, warum. Temel antwortet: Wenn der Tod dich so hübsch sieht, nimmt er vielleicht dich statt meiner mit.
Baba grinst. Statt eines üblichen Protests umarmt Anne ihren Mann und streicht ihm durch das schüttere Haar. Und als ich meinen erschöpften, aber mit dem Tagwerk zufriedenen Blick durch die Runde schweifen lasse, wird mir nochmals bewusst, dass diese Familie wundervoll ist. Wie eine gut laufende Maschine, deren Treibstoff die Liebe füreinander ist. Maşallah!
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