Ein Fremdwoerterbuch
Blind vor lauter Ärger
Nicht mehr wütend zu sein, das habe ich irgendwann beschlossen. Nicht mehr wütend über die bis in den Himmel stinkenden Ungerechtigkeiten von Menschen und auf ihre Macht. Denn die Wut ändert nichts an der Ungerechtigkeit, aber mich. Sie macht den Wütenden kaputt, verbittert. So will ich nicht werden.
Von Kübra Gümüşay Montag, 10.12.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 14.12.2012, 7:38 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Und dann ist es passiert: Die Wut war weg. Die Wut ist langsam und vorsichtig gegangen und hat eine seltsame Gelassenheit in mir hinterlassen. Eine, die mich manchmal selbst überrascht. Ich spüre kein dringendes Verlangen mehr, alles und jeden zu überzeugen, mich zu verteidigen. In Menschen, die mich aufgrund von Äußerlichkeiten nicht mögen oder gar hassen, sehe ich eine spannende Herausforderung. Ich will sie verstehen.
Im Zug zwischen Davis und Berkeley an der Westküste der USA schreit mich eine Frau an. Sie schimpft über die Muslime, die den Westen ruinierten. Dann schaut sie mir in die Augen. „Nichts gegen dich“, sagt sie. „Aber die Muslime sollten endlich zurück in ihre Länder. Und ihr Öl können sie mitnehmen!“
Ich schaue aus dem Zugfenster auf die Landschaft, an der wir vorbeirasen. Es ist ein anderes Amerika, das ich bei dieser Reise erlebe. Nicht mehr nur Großstädte mit Glitzer, hellen Nächten und beschäftigten Menschen, sondern auch Natur, Grün, ruhige, kaputte Menschen, Armut und Einsamkeit.
Ich beobachte, wie sie aus dem Fenster schaut, schmerzvoll lächelnd und zitternd. „Weißt du“, flüstert sie, „ich bin gekommen, um zu sterben.“ Sie habe Krebs, keine Versicherung, einen Sohn im Gefängnis, eine Mutter, die sie hasst, und bald werde es einen Tsunami geben. Sie werde ihn stoppen. Weil ihr Sohn im Gefängnis nicht weglaufen und sich schützen könne.
Terror, Unterdrückung und Kopftuch
Ein paar Wochen später bin ich im konservativen US-Staat Texas. Meine Freundin Macarena ist dort Professorin an einer kleinen Universität. Letzte Woche hätten sie im Unterricht über Muslime diskutiert, hitzig und schwierig sei die Debatte gewesen. „Die haben noch nie Muslime getroffen“, erklärt Macarena. Heute sitze ich mit ihr vor den Studenten. Einige vermeiden Augenkontakt. Ich erzähle drauflos, die Stimmung löst sich. „Fragt ruhig“, sage ich anschließend. „Egal, was ihr wollt.“
Es kommen die klassischen Fragen zu Terror, Unterdrückung und Kopftuch. Dann meldet sich eine Studentin. Sie möchte gerne etwas gestehen, sagt sie. Das erste Mal habe sie von Muslimen aus dem Fernsehen erfahren, der 11. September war es gewesen. Später habe sie ein Buch über eine unterdrückte Frau in Saudi-Arabien gelesen. „Jedes Wort habe ich aufgesaugt“, sagt sie.
„Und dann hatten wir eine muslimische Nachbarin. Ich habe sie nicht sehr oft gesehen.“ Sie wird rot, ihre Augen gläsern. „Eines Tages stand ein Krankenwagen vor ihrem Haus. Ihr Mann hatte sie die Treppen heruntergestoßen.“ Sie lächelt mich an. „Es ist das erste Mal, dass ich eine Muslimin wie Sie kennen lerne.“
Macarena schickt mir später einen Text, den die Studentin über unsere Begegnung geschrieben hat. Er endet mit den Worten: „Ich möchte meine Welt neu ordnen, verstehen und mögliche Missverständnisse beheben. Ich weiß, es wird lange dauern. Aber ich kann mir keinen besseren Weg mehr vorstellen, als mein Leben mit der Suche nach der Wahrheit zu verbringen, statt mit Lügen zu leben.“
Das möchte ich auch. Denn die Wut macht blind. Aktuell Meinung
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Anfangs habe ich Sie aus Neugier gelesen. Mittlerweile schaue ich da nur weg da Sie ständig das selbe Thema sogar mit wiederkehrenden Argumenten und Denkweisen behandeln. Es tut leider der heterogenen Medienlandschaft nicht unbedingt gut, Ihre Meinung – wahrscheinlich nur aufgrund Ihrer Kopfbedeckung – zu Wort kommen zu lassen.
@Nalan
Hallo, was meinen Sie damit genau? Ich finde Kübras Gedanken eigentlich immer ganz interessant.
Liebe Frau Özay,
Ihre Ausdrucksweise –jemand nicht zu Wort kommen zu lassen—finde ich sehr traurig. Ich glaube, Sie sollten sich dafür entschuldigen. Vielleicht haben sie es ja nicht „so gemeint“. Aber wie sie sich in diesem Zusammenhang ausgedrückt haben, ist nicht akzeptabel.
Ich finde die Perspektive der Frau Gümüşay sehr interessant. Ich muss nicht mit ihr immer übereinstimmen, aber „hören“ möchte ich sie. Besonders in den Fällen wo sie etwas anders sieht als ich. –Das ist für mich Diversity/Vielfalt!
„Das ist für mich Diversity/Vielfalt!“
… auf die ich gerne verzichten kann und mich Nalan Özays Meinung anschließe.
Frau Gümüşay bietet nur ein undifferenziertes Schwarz-Weiß-Bild, ist allerdings geschickt genug, es hinter altklugen Phrasen zu verstecken. Auf der einen Seite sind immer „die Anderen“, die Nicht-Muslime, mit ihrem miesen Leben in ihren kaputten Städten, arm und zerfressen von Vorurteilen. Auf der anderen Seite: Frau Gümüşay, die Lichtgestalt, von der die bedauernswerten Ungläubigen viel lernen können: dass muslimische Frauen selbstbewusst sind und nicht unterdrückt, dass der Islam missverstanden wird oder werden will, dass böse Menschen gegen den Islam hetzen usw. usw. Also nichts, was man nicht schon Dutzende Male gelesen oder gehört hat. Überall, wo Frau Gümüşay auftritt, bereichert sie Nicht-Muslime um wertvolle Erkenntnisse, davon, dass sie von Nicht-Muslimen auch mal was gelernt hat, berichtet sie freilich nie. Diversity sieht anders aus.
@Hyper
was sollten Muslime denn Ihrer Meinung nach von Nicht-Muslimen noch lernen können? Technisch Anwendbares vielleicht, aber nichts kulturell-spirituelles.
@Lothar Schmidt
Das meinen Sie doch nicht ernst? Jede Kultur, jeder Mensch kann von anderen lernen.
In Europa und den USA hat sich eine schier unerträgliche Überheblichkeit breit gemacht; sie nimmt völlig selbstverständlich für sich die totale Deutungshoheit in Anspruch und bedenkt mit Gift und Galle alle anderen Lebensrezepte, Ideen und Werte.
Dummheit und der erklärte Unwille, sich differenziert mit der Lebenswirklichkeit seines Nachbarn auseinandersetzen zu wollen, hat Deutschland u.a. auch mal in den Nationalsozialismus geführt.
Ich bin gar ein wenig neidisch auf die Schwester; immerhin gelingt ihr offenbar, woran ich noch versage: Sabr, was wesentlich mehr ist, als dass man es trivial mit „Geduld“ übersetzt hätte.
Ich komme über das offen zur Schau getragene Entsetzen, wenn mein Gegenüber erkennt, erfährt, von mir hört, dass ich Muslim sei, noch immere nicht gut hinweg. Über die fast immer anschließend folgende Geringschätzung beinah noch weniger. :-(
Ja – mir ist und war dieser Text wirklich wichtig. Er befindet sich in wunderbarem Einklang mit allem, was Islam will und zeigt mir den richtigen Weg.
@ Lothar Schmidt:
da fallen mir schon ein paar Sachen ein: zum Beispiel dass Erdbeben durch Plattentektonik entstehen und nicht durch unverschleierte Frauen. Oder dass man keine Straßenzüge in Schutt und Asche legen muss, wenn sich jemand über den Propheten lustig macht. Oder dass man sehr wohl gläubig sein kann und zugleich kritisch der eigenen Religion gegenüber. Und dass es sehr unhöflich ist, Nicht-Muslime als „Ungläubige“ zu bezeichnen. Vor allem aber, dass man Nicht-Muslime – wie Frau Gümüşay das tut – nicht als eine bemitleidenswerte Herde unwissender Schafe portraitieren sollte. Aus zu viel Mitleid kann auch Geringschätzung sprechen.
@Lothar Schmidt
„was sollten Muslime denn Ihrer Meinung nach von Nicht-Muslimen noch lernen können?“
Selbstkritik.
@Lothar Schmidt
wenn ich mir so andere Kommentare von Lothar durchlese, kann man diesen Satz nur satirisch verstehen. Ich weiß es nicht. Die Frage ist, versteht die Autorin diesen Satz als Satire oder denkt sie, Lothar meint es ernst?
Fragen wir doch mal Lothar…