Bades Meinung
Heimaten in der Heimat? Schwurbeldeutsche Diskurse
"Wir brauchen endlich eine mutige, schlüssige und attraktive inhaltliche Selbstbeschreibung der demokratischen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland, die schon gelebt wird, aber noch keinen Namen hat", schreibt Klaus J. Bade in seiner neuen MiGAZIN Kolumne.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Montag, 14.01.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 21.01.2013, 3:18 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die gesellschaftliche Basis für Vielfalt in Einheit oder Einheit in Vielfalt ist ein solidarisches ‚Wir‘. Tragende Grundlagen sind dabei nicht sozialtherapeutische Hilfsbereitschaft und huldvoll gewährte ‚Toleranz‘ im Sinne einer Art kultureller Duldung. Es geht um Akzeptanz und Teilhabe in sozialem Frieden in einer Bürgergesellschaft, die sich als Einwanderungsgesellschaft von Bürgern mit und ohne Migrationshintergrund versteht. Dazu brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nicht ein Vertrag zu Lasten Dritter, der Einwanderer nämlich, sein darf.
Das ist hierzulande so einfach nicht; denn: Zum kollektiven Gedächtnis der Deutschen an den Umgang mit Minderheiten gehört der düstere Schatten des organisierten Verbrechens an ‚Fremden‘ oder dazu erklärten Menschen im nationalsozialistischen Deutschland und im von Deutschland beherrschten Europa während des Zweiten Weltkriegs. Er lastet mitunter noch immer auf den Versuchen einer Selbstbeschreibung in Fragen von Mehrheit und Minderheiten und im Umgang mit Zuwanderung und Zugehörigkeit.
Für das neue Selbstbild brauchen wir Leitorientierungen und darauf gegründete Spielregeln – im Plural, d.h. für beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft. Die wichtigsten stehen schon im Grundgesetz, dessen Botschaften hierzulande aber nicht eben jeder kennt. Diese Spielregeln sollten in frühkindlicher Erziehung, in schulischer und beruflicher Bildung eingeübt werden. Wir brauchen dazu kein nationalideelles Glaubensbekenntnis wie es amerikanische Schüler als ‚American Creed‘ sprechen. Aber die Vermittlung der Werte unserer Verfassung muß mehr sein als ein Thema von ein paar Unterrichtsstunden im Ethik-, Sozial- oder Gemeinschaftskunde-Unterricht.
In der Einwanderungsgesellschaft brauchen wir einen transnational und transkulturell erweiterten Heimatbegriff. Wir sollten an eine übergreifende gemeinsame ‚Heimat‘ und zugleich an unter diesem gemeinsamen Dach liegende unterschiedliche, möglicherweise sogar mehrfache kulturellen ‚Heimaten‘ denken lernen.
Die verdrängte Selbstbeschreibung wird den zögerlichen Altdeutschen zunehmend von der neudeutschen Einwandererelite abgenommen, z.B. von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Public Intellectuals wie Navid Kermani, Zafer Şenocak oder Naika Foroutan.
Die Forschungsgruppe um Naika Foroutan an der Humboldt Universität zu Berlin z.B. spricht von ‚Heymat‘ und bezieht dabei als semantisches Signal das ‚Y‘ von kultureller ‚Hybridität‘ mit ein. Sie denkt dabei besonders an Zuwanderergruppen, die in verschiedenen Kulturen beheimatet und damit sozusagen die Pioniere einer hybriden Einwanderungsgesellschaft sind.
Wen der muffige Geruch des ideologisch aufgeladenen Heimatbegriffs verschreckt, der könnte statt an eine übergreifende gemeinsame ‚Heimat‘ an eine ‚solidarische neue kollektive Identität‘ denken. Keywords wie ‚solidarisch’ oder ‚kollektiv‘ aber pflegen wiederum die Vertreter von herkömmlicher Heimatfreude und Sozialismusangst zu irritieren.
Man könnte auch von ‚neuen Deutschen‘ sprechen, was aber nur dann hilfreich ist, wenn das keine Spalterformel wird, wenn damit also nicht nur die neudeutschen Einwanderer und neudeutsch denkende Altdeutsche gemeint sind, die sich vom Rest absondern und auf dessen Schrumpfung warten. Schwierig also.
Wir sollten den semantischen Hürdenlauf zu einem konsensfähigen Begriff aber nicht zum Selbstzweck geraten lassen; denn Ideologiekritik kann auch sprachlos machen. Man könnte, um die schwurbeldeutschen Diskurse abzukürzen, auch schlicht von Deutschen, Einwanderern und Ausländern reden, so wie die Amerikaner von Citizens, Immigrants und Foreigners sprechen. Das klingt einfach – ist es aber nicht, denn klar bleibt trotzdem: Wir brauchen endlich eine mutige, schlüssige und attraktive inhaltliche Selbstbeschreibung der demokratischen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland, die schon gelebt wird, aber noch keinen Namen hat.
Das wäre auch ein Gegenentwurf zu den wuchernden giftigen Sumpfblüten aus den Plantagen der ewig Gestrigen. Aus Angst vor einer kritischen Identitätsdiskussion in der Einwanderungsgesellschaft flüchten sie in kulturrassistische Ersatzdiskussionen auf der Suche nach Identität durch Abgrenzung. Das gilt z.B. für die ‚Islamkritik’, die in ihrer am meisten verbreiteten Form der islam- und muslimfeindlichen ‚Vulgäraufklärung‘ (Navid Kermani) eine wachsende und, wie die neuesten Erfahrungen zeigen, sogar blutige Gefahr geworden ist. Es gibt also geistigen Handlungsbedarf. Für Wegsehen und Aussitzen steht zu viel auf dem Spiel. Leitartikel Meinung
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Ein neues Denken ist also gefordert: Die neuen Deutschen besitzen das per se, die altdeutsch neudeutsch Denkenden haben es sich tunlichst angeeignet – nur die müffelnden Altdeutschen, die mit dem kollektiven Gedächtnis an die düsteren Schatten des organisierten Fremdenverbrechens, die stören noch, sind Ballast.
Aber die schrumpfen ja (leider nicht so schnell wie der Schnee in der Sonne), verhindern nicht den neuen Gesellschaftsvertrag in der neudeutschen hybriden Heymat der Transnationalität und Transkulturalität.
Zur Selbstbeschreibung braucht man die Altdeutschen auch nicht mehr – das machen schon die Hybriden.
So ist das.
@Lionel. Nein wir brauchen IHREN Zynismus nicht. Alle haben Ihre Stärken und Schwächen. Deren Artikulation würde uns schon etwas mehr helfen, als solchen kryptischen „Ich mach nicht mit“´s.
Aber zum Artikel: Wenn man mal die wertkonservativen Haltungen der allgemeinen Mitte artikulieren würde, wäre da schon viel getan.
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