Kulturspezifische Pflege
Nare Yeşilyurt: „Jeder pflegt sich anders“
Nare Yeşilyurt gründete 1999 die Hauskrankenpflege Deta-Med in Berlin – die erste Pflegeeinrichtung seiner Art: Die Dienstleistung orientiert sich an den speziellen Bedürfnissen von Migranten. MiGAZIN sprach mit ihr über kulturspezifische Altenpflege sowie der Pflegesituation von Migranten in Deutschland.
Von Pervin Temiz Donnerstag, 28.02.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.03.2013, 22:10 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
MiGAZIN: Was macht kulturspezifische Pflege aus?
Nare Yeşilyurt: Kulturspezifische Hauskrankenpflege bedeutet, dass man die Bedürfnisse des Patienten in den Vordergrund stellt und sich nach seinen individuellen Wünschen richtet. Kulturspezifische Pflege ist individuelle Pflege.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Yeşilyurt: Zunächst erstellen wir eine umfangreiche Biografie jedes Patienten, um auf seine Wünsche eingehen zu können. Dabei fragen wir etwa nach der religiösen und kulturellen Orientierung, nach Gewohnheiten, Ritualen und nach dem Tagesablauf. Jeder pflegt sich zum Beispiel anders. Die ältere türkische Generation hat andere Waschrituale im Vergleich zu ihren gleichaltrigen deutschen Mitmenschen. Auch pflegen die Patienten unterschiedliche Essgewohnheiten. Beispielsweise isst die Generation ab 80 Jahre der Deutschen morgens eine Scheibe Brot mit Käse, mittags warm und abends gibt es Abendbrot mit Wurst. Die türkischen Patienten hingegen frühstücken ausgiebig – mit Schwarztee in kleinen Gläschen, Oliven, gebratene Paprikaschoten, Rührei – mittags und abends wird jeweils warm gegessen. Eine adäquate Versorgung im Sinne der kulturspezifischen Pflege ist dann erbracht, wenn man auf die besonderen Bedürfnisse jedes Patienten eingeht.
Wie werden die Mitarbeiter darauf vorbereitet, den besonderen Anforderungen begegnen zu können?
Nare Yeşilyurt absolvierte zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester. Sie arbeitete 8,5 Jahre im Krankenhaus mit Drogen-, und Alkoholabhängigen Menschen. Parallel zu ihrer Arbeit hat sie an der Technischen Universität Berlin Erziehungswissenschaf- ten studiert. In sieben Semestern hat sie ihren Diplom zu Pädagogin erworben und ist in dieser Zeit auch zweimal Mutter geworden. 1999 hat sie in Berlin den ersten kulturspezifischen Pflegedienst Deta-Med gegründet. Ein Jahr später machte sie eine Ausbildung als Pflegedienstleiterin. Weitere Ausbildungen folgten: Gerontopsychiatrische Fachkraft und Mentorin für Auszubildende.
Yeşilyurt: Wir führen interne Fortbildungen durch, besprechen Fälle und evaluieren regelmäßig, um die Pflegeangebote den Bedürfnissen der Patienten anzupassen. Es reicht nicht, wenn die Pflegekraft dieselbe Sprache wie der Patient spricht. Das nötige Hintergrundwissen zur Kultur ist zentral für die Arbeit.
Aus welchen Kulturen kommen Ihre Patienten?
Yeşilyurt: Unsere Patienten kommen hauptsächlich aus dem türkischen Kulturkreis. Wir haben auch italienische, griechische, arabische, iranische und kurdische Patienten.
Wie bewerten Sie die Pflegesituation in Deutschland? Gibt es Ihrer Meinung nach Bedarf nach vergleichbaren Einrichtungen?
Yeşilyurt: Ich denke, dass es viel Bedarf gibt und dieser immer weiter wächst. Als ich 1999 die Deta-Med gegründet habe, war die Hauskrankenpflege unter Türken noch nicht so bekannt. Es war sozial verpönt, fremde Hilfe bei der Versorgung der älteren Familienmitglieder zu ersuchen. Mittlerweile ist das anders. Man nimmt die Hilfe von Pflegediensten zunehmend in Anspruch. In Berlin ist die Versorgung mit etwa 25 Pflegediensten dieser Art weitgehend abgedeckt. Ähnliche Einrichtungen sollte es in jeder Region in Deutschland geben. Wir erhalten manchmal auch Anfragen aus Westdeutschland. Auch Hospize dieser Art sind meiner Meinung nach nötig.”
In Deutschland herrscht ein Fachkräftemangel im Pflegesektor. Macht sich dies auch bei Ihnen bemerkbar?
Yeşilyurt: Ja, das macht sich auch bei uns bemerkbar. Um dem Problem zu begegnen, bilden wir seit 2005 selber aus. Aktuell werden 33 Personen zur examinierten Fachkraft in einer trägerorientierten Deta-Med-Klasse ausgebildet. Dabei handelt es sich zu 90 Prozent um Frauen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Der Großteil davon sind türkische Frauen. Einige von ihnen bezeichne ich als sogenannte „Importbräute“. Diese Frauen werden früh aus der Türkei nach Deutschland angeheiratet und verfügen über keinerlei Qualifikationen, da sie nie die Möglichkeit dazu gehabt haben, sich zu bilden. Auf dem Arbeitsmarkt haben sie kaum eine Chance und bleiben oft auf ewig ungelernt. Bei uns erhalten sie die Möglichkeit, nach einem Deutschkurs und einem Pflegehelferkurs, eine dreijährige Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin zu absolvieren. Ich stelle jeden ein, der arbeits- und lernwillig ist. So leiste ich sowohl einen Beitrag zur Integration und wirke gleichzeitig dem Personalnotstand entgegen.
Wie bewerten Sie die Bemühungen des Gesetzgebers, künftig auch im Ausland erworbene Qualifikationen anzuerkennen?
Yeşilyurt: Meine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass in Deutschland eine Doppelmoral herrscht. Ich beschäftige momentan zehn Hilfskräfte aus Nicht-EU Ländern, die hier seit Jahren leben. Sie sind hochqualifiziert und verfügen über ein Diplom. Das wird hier allerdings nicht anerkannt. Sie gelten bloß als „einjährig examinierte Pflegehelfer“. Da sie ihr Examen nicht in Deutschland gemacht haben, dürfen sie hier keine Behandlungspflege erbringen. Ich kann sie nur als Hilfskräfte beschäftigen. Sie müssen hier eine zweijährige Ausbildung zur Fachkraft machen, obwohl sie sich bereits dafür in ihren Heimatländern qualifiziert haben, über Erfahrungen verfügen und dieselbe Arbeit leisten wie die in Deutschland ausgebildeten Fachkräfte. Ihr Wissensstand ist im Vergleich sogar höher. Nach außen ruft die Politik nach Fachkräften, erkennt aber die Diplome dieser hochqualifizierten Menschen nicht an. Integration kann nicht funktionieren, wenn man die Menschen abwertet. Es ist mehr Schein als Sein.
Deutschland versucht den Pflegekräftemangel mit Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland zu kompensieren. Aktuell sind Portugal, Polen oder der Ferne Osten im Gespräch. In Deutschland leben allerdings viele Menschen aus muslimischen Kulturkreisen. Sollte man auch Pflegekräfte aus diesen Ländern anwerben?
Yeşilyurt: Stimmt. Bei Debatten um den Fachkräftemangel ist meistens die Anwerbung von Arbeitskräften aus EU-Ländern im Gespräch. Wenn das Personalproblem doch so akut ist, sollte man den Radius erweitern. Um Fachkräfte aus muslimischen Ländern wird gar nicht geworben. Dabei ist der Bedarf nach muslimischem Personal, entsprechend der großen Zahl der Patienten dieser Religionszugehörigkeit in Deutschland, nicht unerheblich.
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“ Dabei fragen wir etwa nach der religiösen und kulturellen Orientierung, nach Gewohnheiten, Ritualen und nach dem Tagesablauf.“
Und das finden die Leute nicht diskriminiernd? Wo hier doch schon ein Aufschrei durchs Forum geht, wenn man die Leute nach ihrer Herkunft fragt…
Jemand, der in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland lebt und türkische Vorfahren hat, und nach Herkunft gefragt wird, wie soll er die Frage beantworten?
@Hans Peter
Antwort:
„Ich bin Deutscher, aber meine Eltern kommen/kamen damals aus der Türkei.“
Wo ist das Problem? Mache ich auch so.
das wäre aber dann die Herkunft der Eltern! Ab wann darf ein sogenannter Nachkommen der Gastarbeiter sich als deutscher bezeichnen?
Beispiel: Die Eltern wurden in Deutschland geboren und haben deutsche Staatsangehörigkeit seit dem Geburt. Wie beschreiben sich dann die Töchter oder Söhne dieser Familie? Oder wenn die Kinder dieser Familie wieder Kinder bekommen?
„Ich bin zwar Deutscher aber der Vater meines Großvater kam aus der Türkei!“?