Kısmet
Wie das Leben so spielt
Mein Arm fängt langsam an zu schmerzen. Wenn man in der Realität ein freies Taxi braucht, ist es eben nicht so wie in Hollywoodfilmen. Ich winke nun seit 10 Minuten. Langsam wird es eng mit meiner Bahn. Hoffnung keimt auf, als ein Taxifahrer ein höchst hollywoodreifes semilegales Manöver hinlegt, um direkt vor meiner Nase zu halten.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 08.05.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.05.2013, 23:23 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Als ich ins Taxi einsteige herrscht zunächst Verwirrung. „Selam“, sagt der Fahrer freundlich zu mir und fragt etwas verwundert, ob ich Türke bin. Er war der Meinung, dass ich ihn ebenfalls mit „Selam“ begrüßt hätte. Ich gerate ins Stammeln, während ich versuche, die Situation aufzulösen. Eigentlich wollte ich etwas Türkisches erwidern, aber komme ad hoc nicht auf die richtigen Worte beim Stöbern in meinem rudimentären Vokabular. Also sage ich, dass ich kein Türke sei, aber gerade auf dem Weg zu meinem türkischen Schwiegervater, der heute Geburtstag hat.
Durch den Rückspiegel sehe ich den Taxifahrer strahlen. „Du bist mit einer Türkin verheiratet?“ Nein, noch nicht. Mit einer harmlosen Randnotiz wechselt er über zum nächsten Thema. Witzig, wenn ich mich mit Deutschen unterhalte, folgt immer gleich die Frage, ob unser Beziehungsstatus nicht zu Ärger mit dem Schwiegervater führt. Gefolgt von weiteren interkulturellen Ressentiments. Nun aber neugierige Plauderei. Im Laufe der Jahre habe ich mit der typischen südländischen Neugier arrangiert, sodass ich seine Fragen ebenso offenherzig erwidern kann.
„Woher kommen Sie?“, will ich von ihm wissen. Er antwortet aus Samsun. Und schon haben wir ein gemeinsames Thema. Geboren wurde mein Schwiegervater in Samsun, ist aber schon als Kleinkind zu seiner Tante nach Istanbul gekommen. So kann ich auch der ständigen Rückfrage ausweichen, die Türken eigentlich immer stellen, wenn man sagt, die Familie komme aus Istanbul. „Ja klar, aber woher wirklich?“ Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die traditionelle Istanbuler Bevölkerung mittlerweile durch die Landflucht eine starke Minderheit ist. Der Taxifahrer und ich unterhalten uns indes über die Schwarzmeerküste. Wobei ich ihn eigentlich mit Fragen löchere, was ihm zu gefallen scheint.
Als mir nichts mehr einfällt, übernimmt er wieder das Ruder. Schelmisch meint er, dass ich zu Beginn meiner Beziehung doch sicherlich zehn Kilogramm weniger gewogen hätte. Türkischen Frauen müsse man treu sein, weil sie einen stets verwöhnen. „Magst du denn das türkische Essen?“ Und schon fachsimpeln wir über die Köstlichkeiten, die regelmäßig meinen Gaumen verwöhnen. Ganz unrecht hat er übrigens nicht, es sind acht Kilogramm, die ich seither zugelegt habe. Wegen der ganzen Plauderei habe ich die Uhrzeit vergessen. Noch fünf Minuten bis meine Bahn fährt. Der Taxifahrer gibt etwas mehr Gas als erlaubt, um mich pünktlich abzuliefern. Dem Schwiegervater dürfe man nicht warten lassen.
In aller Ruhe erzählt er mir, während er wie ein Istanbuler Dolmuş-Fahrer durch die Straßen jagt, von seiner Familie und seiner hochschwangeren Frau, die gerade im Krankenhaus liegt und jeden Moment ihr erstes Kind erwartet. Als wir am Bahnhof ankommen, wird meine Pünktlichkeit jedoch fast durch seine Freundlichkeit durchkreuzt. Im Laufe der Fahrt hat er das Taxometer ausgestellt. Ich solle ihm geben, was ich wolle. Kostbare Zeit geht verloren, aber wir einigen uns noch zur rechten Zeit. Als ich schon auf dem Sprung aus dem Taxi bin, lässt er noch Grüße an Baba ausrichten. Unbekannterweise. Ich wünsche ihm alles Gute für die Geburt.
Endlich bei Baba angekommen, muss ich feststellen, dass die Feierstimmung etwas betrübt ist. Er wird seine Grippe einfach nicht los, weshalb er lieber im Bett bleibt, um sich zu schonen. In letzter Zeit ist er ob seiner gesundheitlichen Lage etwas trübselig und steht in einem steten Dialog mit „Ihm da oben“, wie er sagt. Um sich dann mit einem Grinsen zu beklagen, dass Er ihm keine Antwort auf all seine Fragen gibt. Ein Blick ins Wohnzimmer sollte ihn eigentlich mit seiner 82-jährigen Lebensleistung zufrieden stimmen. Die Familie ist trotz der Umstände beisammen, um den Tag mit ihm zu verbringen. Sukzessive kommen alle zu ihm ans Bett und schwelgen mit ihm in Unterhaltungen. Meine Schwägerin und ihr Mann erzählen von ihrer Tochter, die ab nächstem Schuljahr auf ein Gymnasium gehen wird. Das freut ihn sehr, da er sich für seine Familie immer bestmögliche Bildung gewünscht hat. Meine Mutter sitzt später an seiner Seite und sie diskutieren über ihre gemeinsame Leidenschaft – die Geschichte. Auf der Agenda steht Karl der Große.
Als ich zu ihm gehe, schildere ich ihm meine turbulente Taxifahrt. Eine Geschichte vollkommen nach seinem Geschmack. Baba lacht sich schlapp. Er überlegt einen Augenblick, kramt in seiner Anekdotenkiste und fängt dann an, einige seiner ungewöhnlichen, aber auch unvergesslichen Bekanntschaften aus seiner Vergangenheit zu schildern. Wie fast immer beginnt er seine Worte an mich mit „Junge…“ und hält dabei meinen Arm. Die Krönung aller Geschichte dürfte jedoch gewesen sein, als eines Tages unverhofft das Telefon klingelte. Ein unbekannter Mann aus der Türkei war am anderen Ende der Leitung. Er habe schon sehr viel von meinem Schwiegervater gehört. Und er wolle einfach den Mann sprechen, der schon so vielen Leuten geholfen habe. Scheinbar war die Hilfsbereitschaft eines Türken aus Deutschland Inhalt für Erzählungen, die man Freunden, Bekannten oder Familien zum Besten gab. Kleine Taten eines heute 82 Jährigen, die für andere große Bedeutung hatten und entsprechend weitergetragen wurden.
Geschichten aus dem Alltag, kleine schicksalhafte Momente, die Baba und seine Familie zu etwas Besonderem machen. Auch vor zwei Jahren an Weihnachten. Diesmal beginne ich, um Babas lädierten Gesundheitszustand etwas Gutes abzugewinnen. Es verhielt sich nämlich damals so, dass wir aufgrund von Babas Unwohlbefinden noch mal mit zu den Schwiegereltern gingen. Es war bitterkalt und schneite ohne Unterlass. Nachdem wir die halbe Nacht dort verbracht hatten und es Baba besser ging, beschlossen wir, doch noch nach Hause zu fahren, um am Feiertag fit für den weiteren Familienmarathon zu sein. Obwohl die Wetterlage durchaus heftig blieb. Aber Glück im Unglück. Unweit unseres Wagens fanden wir halb zugeschneit und vollkommen unterkühlt eine sturzbetrunkene Dame, die auf dem Boden kauerte. Sie hatte ihren Hausschlüssel verloren und beschloss eine kleine Pause einzulegen. Allerdings war sie nicht mehr in der Lage, überhaupt noch aufzustehen. Wir hatten sie nie zuvor gesehen, dennoch musste sie irgendwo in der Nähe wohnen, soviel war aus ihrem Kauderwelsch herauszubekommen. Mit Betonung auf irgendwo. Wegen des vielen Neuschnees stellten wir die Suche nach dem Schlüssel bald ein. Nach einigen erfolglosen Versuchen von ihr verständliche Antworten auf unsere weiteren Fragen zu erhalten, verfrachteten wir sie kurzerhand zu meinen Schwiegereltern auf die Couch, um sie ausnüchtern zu lassen. Eher gesagt schleppten wir sie wie einen nassen Sack. Es war weder in Erfahrung zu bringen, wie sie hieß, noch wo sie wohnte. Wer weiß, was ansonsten mit ihr geschehen wäre. Am nächsten Morgen war die Dame jedenfalls verschwunden, einen Zettel mit der Aufschrift „Danke und frohe Weihnachten“ war einziges Zeugnis der nächtlichen Eskapade.
Mein Schwiegervater genießt offensichtlich die Erinnerung daran und hadert gleich weniger mit seiner Situation. In dem Moment fällt mir ein, dass ich Geburtstagsgrüße von meinem nachmittäglichen Taxifahrer ausrichten soll. Baba ist erfreut und regt mich zu einem Gedankenspiel an: „Was meinst du, was das Schicksal mit dem Taxifahrer wohl vorhat“. „Vielleicht ist er nach der Fahrt ins Krankenhaus geeilt, weil seine Frau ihr Kind bekommt?“, gebe ich zurück. Daran findet Baba Gefallen. „Und dann eröffnet er vielleicht noch in Jahren die Geschichte von der Geburt seines ersten Kindes mit der Taxifahrt eines Mannes, der zum Geburtstag seines Schwiegervaters wollte.“ So schreibt sich Geschichte fort.
Babas Geschichte und Lebensleistung ist die Fürsorge und Hingabe für seine Familie. Voll vieler, kleiner und wunderbarer Momente. Wie sagte der Taxifahrer: Man müsse die Frau für das Leben finden, eine Familie gründen und glücklich werden. Dieses Glück müsse man zu schätzen wissen. Das könnte von Baba stammen. Die Trostlosigkeit ist verflogen. Baba ist zufrieden eingeschlummert. Im Wohnzimmer vergreifen sich alle an Börek, Çay und Torte. Und erzählen voller Lachen und Amüsement Anekdoten eines 82 Jährigen, der so viel erlebte und sich doch stets treu war. Er kann stolz auf sich sein. Seine Familie ist es auf jeden Fall! Alles Gute Baba. Doğum günün kutlu olsun 1.
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Ich habe beim Lesen eine richtige Gänsehaut bekommen….wieder mal ein toller Beitrag :-)
@Mika vielen lieben Dank! Freut mich, dass Sie mir die Treue halten :-) ich hoffe, die Gänsehaut ist nicht auf einen Gruselfaktor zurückzuführen? :P
Herzliche Grüße
Florian