Gezi-Park in Istanbul
Nicht Erdogan, sondern Zivilisten werden „gebasht“!
Auf die Medien in Deutschland zu schimpfen, weil sie kritisch über die Polizeigewalt und den Gezi-Park in Istanbul berichten, ist unfassbar: Fünf Menschen sind während der Proteste getötet worden. Eine Replik auf "Das Erdoğan-Bashing der deutschen Leitmedien nervt".
Von Hakan Demir Montag, 17.06.2013, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.06.2013, 0:07 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Stellen Sie sich vor, sie sehen einen schrecklichen Autounfall: Ein offenbar Betrunkener fährt in eine Menschenmenge und tötet zahlreiche Bürger. Sie als Zeuge sehen das, doch sie schwärmen nur von den schillernden, teuren Felgen des Autofahrers. Als ob das nicht genug wäre, schimpfen sie auch noch auf die Menschen, die später über den Unfallhergang berichten wollen. Unfassbar denken Sie? Ja! Aber genau das geschieht im Text von Mustafa Esmer „Kümmert euch um eure eigene Politik!“
Er schreibt darin pathetisch über die Erfolge der AKP-Regierung, über die gute Geldwertstabilität oder die Zähmung des Militärs. Im gleichen Atemzug schimpft er auf die deutschen Medien, weil sie Recep Tayyip Erdoğan „bashen“ würden. Dabei vergisst er natürlich vollkommen, dass die türkischen Medien während der Proteste lieber Pinguine und Kochshows gezeigt haben als die Wahrheit.
Wer „basht“ eigentlich wen? Hat nicht Erdoğan mit Hundertschaften der Polizei am Samstag den Gezi-Park brutal räumen lassen? Wer hat den protestierenden Frauen und Männern Pfefferspray in die Augen spritzen lassen? Wer hat Anwälte, Ärzte und Protestierende inhaftieren lassen? Etwa die deutschen Medien?
„Er ist ein guter Politiker. Bei den ganzen Intrigen, Kampagnen und so fort muss man vielleicht so sein, um dieses Land regieren zu können“, schreibt Esmer und outet sich als unkritischer AKP-Anhänger. Weiß er inzwischen, dass fünf Menschen gestorben und Tausende verletzt worden sind? Kann ein Politiker, in dessen Regierungszeit so etwas passiert, ein guter Demokrat sein? Muss man da ein scheinbarer Kenner der türkischen Politik wie Esmer sein, um das zu beantworten?
Anders als man es von einem demokratischen Staatsmann erwartet hätte, hat es Erdoğan nicht geschafft, das Problem friedlich zu lösen. Ganz im Gegenteil: Er setzt weiterhin auf Gewalt. Doch wer seinen Blick weiter südlich von Istanbul richtet, sieht die verblassten Bilder von Mubarak, Gaddafi, Assad und Ben Ali. Alle machten den gleichen Fehler: Sie antworteten mit Gewalt auf den Freiheitswunsch des Volkes, anstatt mit Versöhnung und Kompromiss. Doch Gewalt und Leid sind die Zutaten, aus denen Revolutionen entstehen – das müssten auch Erdoğan und Esmer verstanden haben. Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
im grunde ist es doch so, die angeblichen „Türkeikenner“ und Erdoganisten sind die Menschen, die nur Todays Zaman, Sabah lesen und die Türkischen Kanäle lieben, TRT, Habertürk, CNN Türk etc.
Da wird nur das dargestellt was dargestellt werden darf und basta. Wenn nicht gibt es halt drastische Geldstrafen wie jüngst an Ulusal TV 150000Euro, an Halk TV 75000 Euro und sogar Schliessung (Karadeniz TV)wegen verleumdung und Cem TV weil sie Alewiten propaganda mache gleich mal 45000Euro. Das ist eure freie Presse und die Internationale presse sind die Bösen weil sie nicht von Erdogan kontrolliert werden. Hahaha
Ebenfalls unfassbar ist auch, dass auf der einen Seite die türkische Regierung mit brutaler Gewalt auf eines der wichtigsten Grundrechte einer Demokratie einprügelt, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das beschränkt sich nicht nur auf die Demonstranten, sondern setzt sich auch bei der journalistischen Berichterstattung und den Informationsaustausch in sozialen Netzwerken fort.
Mustafa Essmer und seine applaudierenden Kommentatoren möchten am liebsten den deutschen Medien den Mund verbieten. Sie sollen sich besser um ihre eigene Politik kümmern, meint Essmer und erhält große Zustimmung bei seinen Lesern, die deutschen Medien pauschal Heuchelei und Verlogenheit vorwerfen.
Diese Äußerungen von Essmer und seinen Lesern sind eine sehr bemerkenswerte und entlarvende Offenbarung.
Zum einen ignoriert bzw. bagatellisiert man die Beschneidung der Meinungsfreiheit in der Türkei, zum anderen möchte man am liebsten den deutschen Medien in außenpolitischen Angelegenheiten den Mund verbieten, solange sie nicht das schreiben, was man gerne lesen möchte. Besser kann man seine Verachtung für fundamentale demokratische Prinzipien nicht zum Ausdruck bringen.
Die andere Offenbarung ist, dass Essmer und seine applaudierenden Leser zwar die Politik Erdogans seitenlang huldigen und die deutschen Medien verteufeln, weil sie sich unbotmäßig in die Politik der Türkei einmischen würden und doch besser vor der eigenen Tür kehren sollten. Allerdings scheint diese Aufforderung nur für andere zu gelten. Man selbst hält es nicht nötig, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass Essmer in seiner Lobrede Erdogan ermahnt hätte, sich ebenfalls aus den inneren Angelegenheiten von Syrien herauszuhalten. Es ist kein Geheimnis, dass die Türkei moderate Islamisten in Syrien unterstützt, die im Falle einer Machtübernahme der türkischen Regierung nahe stünden.
Das populärste Argument der Unterstützer Erdogans besteht darin, seine Erfolge aufzulisten. Als ob die Errungenschaften auf einen Feld die Kritikpunkte seiner Politik auf einen anderen Feld in irgendeiner Weise rein waschen würden.
Dieses Argument ist neben allen Widersprüchlichkeiten das gefährlichste Argument. Denn es macht universelle Grundrechte selektiv anwendbar, verhandelbar und von Errungenschaften der Regierung abhängig.
Man stelle sich vor, man dürfe gegen die Meinungsunterdrückung in China oder Indien nichts mehr sagen, weil die wirtschaftlichen Erfolge wichtiger als Grundrechte seien. Die deutschen Medien nerven da nur beim Siegeszug der indischen Wirtschaftsmacht und sollten doch besser über ihre verdorbene westliche Kultur schreiben, statt sich so hysterisch über die regelmäßigen Gruppenvergewaltigungen von wertlosen indischen Frauen und Touristinnen zu echauffieren.
Es stellt sich die Frage, wo Essmer und sein Gefolge die Grenze zwischen Grundrecht und politischer Errungenschaft zieht? Bei Erdogan, bei der chinesischen oder indischen Regierung, bei Saddam Hussein, als sein Land noch blühte, bei Gaddafi oder erst bei Hitler?
Grundrechte sind universell und nicht verhandelbar. Wer die Grundrechte verletzt gehört an den Pranger und nicht diejenigen, die ihn anprangern.
Nun, wer angesichts der inzwischen flächendeckenden Proteste immer noch daran zweifelt, dass hier ein Volk gegen Willkür und Unterdrückung aufsteht, der muss sich eines Besseren belehren lassen.
Der sollte die Augen aufmachen und in guter demokratischer Manier seine Sicht der Dinge zumindest relativieren.
Josef Özcan („Amnesty International“)
Sind Titel wie „Türkischer Frühling“ in dt. Medien gleich Erdogan-Bashing, wie Hr. Esmer meint?
Wenn türkische Zeitungen zu „Stuttgart 21“ die Überschrift „Deutscher Frühling“ gewählt hätten, wäre es dann eine Majestätsbeleidigung für Kanzlerin Merkel?
Die Erfolge der AKP und von Erdogan sind ja unbestritten. Deshalb dürfen die Schattenseiten, die jes a nun auch gibt, kein Tabu sein.
Hr. Mesmer zeigt ein sehr merkwürdiges Verständnis von Meinungsfreiheit – die Floskel „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ erinnert mich noch sehr an den real existierenden Sozialismus.
Laut der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ weist die Türkei weltweit die höchste Zahl an inhaftierten Journalisten auf.
Die Forderung nach einem Maulkorb wirkt da sehr merkwürdig.
Der Vergleich der türkischen Proteste mit Stuttgart 21 und Blockupy ist ähnlich hanebüchen wie die Vergleiche der türkischen Proteste mit dem Protesten im Zuge des arabischen Frühling.
Gerade auch die kritische(n) Situation(en) in der Türkei waren und sind immer unter Berücksichtigung der spezifisch „türkischen Verhältnisse“ zu betrachten.
Jeder vorschnelle Vergleich ist abzulehnen und zeugt von Unkenntnis.
Josef Özcan („Amnesty International“)
In der Tat. Aber es kommt ja letztlich auf den Inhalt der so betitelten Artikel an.
Und da hat Hr. Esmer keine weiteren Belege für das angebliche Erdogan-Bashing dt. Medien geliefert.
Deutungshoheit haben nur Erdogan-Kritiker. Alle restlichen Meinungen sind populistisch, fanatistisch oder extremistisch.
Gut..
Sehr guter Artikel! Herrn Hakan Demir rettet die Ehre für das Migazin!
(…) Man kann doch nicht in Deutschland leben und hier aufgewachsen sein und dann so einen Artikel schreiben oder auch nur für gut befinden! Damit befeuert man lediglich das Misstrauen gegenüber der Türkei und den Türken in Deutschland.
Aber ich gebe zu, Herr Esmer hat sich mit dem Artikel mit Sicherheit den Frust von seiner an die AKP verkauften Seele geschrieben!
Übrigens gibt es für die Demonstranten genügend Gründe beim Bau der 3. Bosporusbrücke auch solch einen Aufstand zu organisieren, denn die wird bekanntlich nach einem Aleviten-Schlachter benannt. Das ist ungefähr so einfühlsam, als würde man ein Bahnhof in Deutschland nach Rudolph Hess oder Adolph Hitler benennen.
Was wird uns Herr Esmer wohl dazu erklären? Sind da auch die deutschen Medien Schuld?
Nun … ich denke der Anspruch einer nicht mehr verhältnismäßigen „Deutungshoheit“ und „Bedeutungshoheit“ ging zunächst vor allem von Erdogan aus.
Alle anderen „Hoheiten“ sind als Folge dieser Anmaßung zu sehen.
„Wer zu hoch hinaus will, der fällt um so tiefer“ … zumindest sollte das so sein.
Josef Özcan