Kısmet
Für das Leben lernen
„Ist das nun Hochdeutsch – oder unten?“, will Baba wissen. Damit hat er unfreiwillig den ersten Lacher geliefert, bevor wir überhaupt die Wohnung betreten haben. Zusätzlicher Heiterkeit hätte es ohnehin nicht bedurft, es gibt auch so Grund genug zu feiern. Unsere Nichte wird als erstes Familienmitglied ein Gymnasium besuchen!
Von Florian Schrodt Donnerstag, 04.07.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.07.2013, 0:08 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Die bevorstehenden Bildungschancen sorgen aber nicht nur bei der Kleinen für funkelnde Augen, sie ist zu Recht sehr stolz, auch bei anderen Familienmitgliedern ist der Ehrgeiz erwacht. Der Wissensdurst dieser Familie ließe sich ohnehin nicht mit der größten Kanne Çay 1 stillen. Beweise gefällig? Erst einmal hinsetzen, durchatmen, einen Schluck Tee, einen Bissen Börek 2 und es kann losgehen.
Baba hat seine Denkerpose längst eingenommen. Zerzaustes Haar wie ein zerstreuter Professor, die Strickjacke hängt, das dicke durchgewälzte Buch auf den zittrigen Knien und die Lupe in der Hand, ohne die er nur noch schwerlich lesen kann. Obwohl er eher mager ist, knarrt sein Sessel, der schon auf Halbmast hängt. Von Zeit zu Zeit gerät er beim Lesen ins Stocken und blickt nach oben. Dann folgt das altbekannte „richtig?“. Bevor wir antworten können, schiebt er quasi entschuldigend vorweg, dass sein Deutsch früher besser gewesen sei. Zwar hört ihm nur die Hälfte der versammelten Familie zu, weil die Nichte dem Rest ihre neue Barbie präsentiert, die sie als Geschenk für ihre schulischen Leistungen erhalten hat, die Verbliebenen ahnen jedoch bereits, was in der Luft liegt. Man möchte fast darauf wetten. 3…2…1…und es kommt, was kommen muss.
„Du hast aber auch keinen Spaß, mit mir zu lernen.“ Und schon haben sich Anne und Baba in den Haaren. Auch wenn es bei Baba nicht mehr viele sein mögen. Ich ahne wieso. Meine Schwiegermutter sieht sich herausgefordert, ihr Deutsch rechtfertigen zu müssen. Sie habe doch Deutsch lernen wollen, bewaffnet mit Zettel und Stift mit dem liebenswerten Sohn der damaligen Vermieterin. Doch diese Schreckschraube habe ihr das Leben zur Hölle gemacht. Sie habe sie ausgesperrt, während die Kinder allein in der Wohnung waren, sie wurde des Diebstahls verdächtigt und viele Sticheleien mehr. Nur damit der Sohn das Vorhaben aufgebe, ihr die Landessprache beizubringen. Erschwerend kam hinzu, dass auch sie arbeiten musste. Und sie holt unüblicherweise zu einem Monolog mir gegenüber aus, wie es gewesen sei, als sie am Band stand und schwer heben musste. Darüber hinaus Kindererziehung, wo sei Zeit gewesen, die Sprache zu lernen.
Baba hat längst weggehört und ist ins Grübeln versunken. Mit Gedanken an die „Einschulung“ seiner Enkelin, die er sich keinesfalls entgehen lassen will, arbeitet er schon an seiner Garderobe. Er legt viel Wert auf ein akkurates Äußeres, auch wenn es bei seinen gesundheitlichen Umständen seltener zur Geltung kommt. Den passenden Satz hat er auch schon aus seinem schlauen Buch rausgesucht, das so zerschlissen ist, dass man den Titel nicht mehr erkennen kann. „Die Galoschen des feinen Herren.“ „Richtig?“
Woher nimmt er nur immer diese anachronistische Sprache, denke ich mir, während es Anne ihm in direkterer Form an den Kopf wirft. Wir beginnen von vorne. Sie müsse für den Pascha immerhin den Haushalt organisieren und ihn auch sonst unterstützen. „Ständig Çay yap, Börek yap. Ich kündige den Dienst.“
Baba zieht den Kopf ein und wagt einen letzten Versuch. Er könne kaum noch sprechen, weil Anne nicht so gerne Konversation halte. Nur schimpfen. Dementsprechend sei seine Sprache, egal ob Deutsch oder Türkisch, degeneriert auf das Niveau, das er in Büchern lesen oder im TV sehen würde. Seine Frau widerspricht vehement. Ihre Sprachkenntnisse könnten nicht so schlecht sein, der Arzt meinte immerhin, dass sie unbedingt mitkommen müsse. Ihr Mann würde man so schlecht verstehen.
Trotzig meint Baba, hören und verstehen sei nicht dasselbe wie sprechen. Weil er aus der Diskussion nicht als Sieger hervorgehen kann, wendet er sich seiner Enkelin zu. Mit seinen gebrechlichen und meist steifen Händen winkt er sie zu sich, setzt sie auf seinen Schoß und erzählt. „Weißt du eigentlich, dass dein Gymnasium früher eine Lateinschule war?“ Woher er das nun wieder weiß. „Ich beneide dich um das Wissen, das du erlangen wirst.“ Vor allem Sprachen müsse sie lernen. Er betont wieder einmal, wie wichtig es sei, sich verständigen zu können.
Er hat nie eine Schule besucht. Seine Kenntnisse habe er auf der Straße erworben. In seiner Jugendzeit, als er auf dem Markt gearbeitet hatte, habe er sich manchmal einfach auf der Straße zu Leuten gesellt und ihnen zugehört. In Cafes habe er Konversationen gutbürgerlicher Istanbuler gelauscht und ihr Verhalten und ihre Ausdrucksweisen adaptiert. Das Grundwissen hat er sich in seinen vielzähligen Büchern angelesen. Was er immerhin heute noch tut. „Man lernt für das Leben und nicht für die Schule“, gibt er zu Protokoll. Das ist weniger lapidar gemeint, wie es klingen mag. Klassische Bildung ist für ihn auch ein Türöffner für persönliche Entwicklung.
Nicht ohne Stolz erinnert er sich an unseren Einkauf heute Morgen. Die Verkäuferin, eine stämmige Dame mittleren Alters, die ihren Laden neu aufgemacht hat, hatte Baba, Anne, meine Freundin und mich freudig empfangen. Eine Lieferung frischer Börek kam gerade herein und sie bat uns Platz zu nehmen, um das Backwerk zu kosten. Aber Baba müsse eine seiner Geschichte erzählen. Also fing er an, während die Inhaberin seelenruhig Kräuter, Obst und Gemüse mit Wasser besprenkelte, um es frisch zu halten.
„Was hast du denn erzählt“, will meine Nichte wissen. Das sei gar nicht so wichtig. Vielmehr wolle er erzählen, dass zwei Jugendliche Türken auf ihn zukamen, während er so sinnierte und ihn fragten, ob er aus Istanbul sei. Wo er dort wohne und was er gearbeitet habe, wollten sie wissen. Das habe ihn mit Stolz erfüllt, weil sie ihn für einen gebildeten Städter hielten. Daher müsse man etwas für die Bildung tun, damit man mit Selbstvertrauen und Wertschätzung durch die Welt gehen könne. Früher sei er immer wieder mal gefragt worden, wo er studiert habe. Da habe er als Notlüge die Universität Istanbul genannt, weil er sich so geschämt habe zuzugeben, dass er eigentlich nicht mal richtig die Schule besucht habe. Das solle seinen Kinder und Kindeskindern nicht mehr passieren. Und plötzlich fällt ihm ein Witz ein.
Der Bauer kommt zu Nasreddin Hodscha mit einem Brief, den er vorgelesen haben möchte, weil er weder lesen noch schreiben kann. Der Hodscha schaut darauf und sagt: „Die Handschrift ist so schlecht, ich kann den Brief nicht lesen.“ Der Bauer entgegnet ihm: „Du trägst den Turban des Gelehrten und kannst noch nicht einmal einen Brief lesen?“ Daraufhin setzt der Hodscha seinen Turban ab und reicht ihm dem Bauern: „Wenn du denkst, dass jeder, der einen Turban trägt, ein Gelehrter ist, dann setz du ihn auf und lies den Brief vor!“
Das Gelächter schlägt in Diskussionen um. Zu nachhaltig sind die Anregungen in Babas Schilderungen, die seine Kinder animieren, über ihre Bildungswege zu sinnieren. Die beiden Erstgeborenen sind in der Türkei zur Welt gekommen, meine Freundin und ihr Bruder in Deutschland. Erstere beginnen damit, dass sie aus ihrem Alltag gerissen wurden und nur der ungewohnte Alltag im fremden Land blieb, um Sprache und Kultur zu lernen. Kurse habe es nicht gegeben. Meine Freundin hingegen wuchs selbstverständlich hier auf. Aber durchmischte Freundeskreise gab es selten, sodass vor allem Familie und türkische Freunde ihr Umfeld prägten. Während die größeren Geschwister arbeiten gingen, war sie als Kind zur Selbstständigkeit aufgerufen, weil nur selten jemand beim Lernen helfen konnte. Baba war meist in Doppelschichten unterwegs. Und auch Anne war bereits in jungen Jahren mit einer Familie statt mit Schuldbildung beschäftigt. Hinzu kamen Arbeit und Haushalt. Alles nicht ganz einfach.
Baba hat sich immer gewünscht, dass seine Kinder studieren. Aber wie sie an eine Universität kommen, hat er nicht gewusst. Hauptschule, Realschule, Gymnasium, das System war für ihn so durchschaubar wie die Trennlinien zwischen den sozialen Schichten in Deutschland. Also machte er das Beste daraus und versuchte seinen Kindern ein Vorbild zu sein, in dem er ihnen das lehrte, was er am besten kannte: Liebe, Freude, (möglichst viel) Aufmerksamkeit und Neugier. Und als die Kinder nach und nach eine Lehre begannen und Arbeit fanden, war dies einiges wert. Denn als familiäre Symbiose konnte jeder Pfennig, so hieß das damals, gut gebraucht werden. Babas viel beschworenes lebenslanges Lernen haben sie sich dennoch zu Herzen genommen. In Abendschulen, Weiterbildungen und mit einer Portion Wissbegier. Heute sitzen alle beisammen und freuen sich, dass die Nichte bessere Möglichkeiten haben wird. Das, was Baba sich immer erträumt und erhofft hatte. Trotz aller Diskussionen geht ein Strahlen durch den Raum. Baba schließt die Augen und lehnt sich zufrieden zurück. Anne schmiegt sich an seine Schulter. Mögen all ihre Träume in Erfüllung gehen. Inşallah. 3
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