Die Keupstraße nach NSU
„Ihre Enttäuschung stammt nicht nur von diesem Anschlag“
Am 9. Juni 2004 explodierte auf der Köln-Mülheimer Keupstraße eine Nagelbombe, die 22 Menschen zum Teil schwer verletzte. Der NSU hat sich Jahre später zu der Tat bekannt. Mitat Özdemir ist Vorsitzender der „Interessensgemeinschaft Keupstraße“. Dr. Ayla Güler-Saied ist Migrationsforscherin. Beide arbeiten in einer Initiative mit, die im Frühjahr mehrere gut besuchte Veranstaltungen auf der Keupstraße organisierte.
Dienstag, 06.08.2013, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 07.08.2013, 22:59 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Im Mai begann in München mit dem NSU-Prozess die strafrechtliche Aufarbeitung des Rechtsterrorismus. Wie ist aktuell die Stimmung auf der Keupstraße?
Mitat Özdemir: Es gibt eine tiefe Erleichterung, das ist klar. Dann gibt es noch Unsicherheit und Angst. Diese Faktoren sind da. Manchmal steigt die Angst höher, manchmal die Enttäuschung. Zum Beispiel Enttäuschung über die Nicht-Zulassung der türkischen Journalisten beim Prozess. Oder als es in den letzten Tagen hieß, der Anschlag in der Keupstraße solle aus der Verhandlung abgetrennt werden. Einige haben sogar gesagt: „Vielleicht wird das besser behandelt, wenn es abgetrennt ist.” Andere sagten: „Dann wird das Gesamte unter den Tisch gekehrt.” Und dann sind da noch die Journalisten mit ihren Befragungen, was die Leute irritiert. Das ist es, was die Keupstraße momentan durchlebt. Dieses Durcheinander.
Es gibt viele, die sich zurückziehen. Sie sagen: „Es ist genug, wir wollen damit nichts zu tun haben. Das übersteigt unsere Verhältnisse, man macht irgendetwas über unsere Köpfe hinweg. Da kann man eh nichts machen.” Es ist also Ergebenheit. Sie sagen: „Ich ergebe mich.” Es gibt kein Vertrauen mehr. Misstrauen und Angst sind entstanden und es gibt keine Ansätze, wie man dieses Vertrauen zurück gewinnen kann. Das ist die Stimmung, die momentan in der Keupstraße herrscht.
Was hat euch dazu bewogen, die Veranstaltungsreihe „Von Mauerfall bis Nagelbombe” durchzuführen?
„Ihre Enttäuschung stammt nicht nur von diesem Anschlag, sondern auch von dem Bild, was seit Jahren von der Keupstraße aufrecht erhalten wird. Dass sie als Fremdkörper wahrgenommen werden. Dass sie als Parallelgesellschaft dargestellt werden.“
Ayla Güler-Saied: Unsere Idee war, Filme an unterschiedlichen Orten in der Keupstraße zu zeigen. Wir wollten die Straße als normalen Ort zeigen, wo man hingehen kann. Es sollte nicht vom Podium hinunter gesprochen werden, sondern gemeinsam mit den Leuten in den normalen Lokalitäten, in denen sie sich aufhalten. Wir haben Menschen eingeladen, die die Pogrome in den 1990ern erlebt haben und sogenannte Experten. Wobei ich eigentlich keinen Unterschied mache, weil die Leute, die betroffen sind, auch Experten sind. Danach sprachen Menschen aus der Keupstraße. Dann zum Titel: Damit wollten wir die Kontinuität nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung aufzeigen, ohne so naiv zu sagen, erst mit dem Mauerfall hat der Rassismus anfangen. Das entspricht ja nicht den Tatsachen. Nach dem Mauerfall ist der Rassismus aber verstärkt aufgetreten in Ost wie West. Der NSU ist der Höhepunkt, würde ich sagen. Wir wollten diese Normalität aufzeigen und die Probleme der Ermittlungen thematisieren. Dabei sollten die Leute selbst zu Wort kommen. Nicht über die Leute reden, sondern mit den Leuten.
Mitat Özdemir: Für manche war es das erste Mal, dass sie in ein so hinterhofartiges Café gingen und sahen, wie die Leute friedlich da sitzen, Karten spielen oder fernsehen. Bevor das Programm anfing, tranken sie einen Tee oder schauten erst einmal zu. Das war schon eine wirklich bewegende Sache. Erst waren sie schüchtern „Wo soll ich mich hinsetzen?“ und später wurden sie locker, weil die anderen auch so locker da saßen und sie ganz natürlich angenommen wurden. Auch für die Lokalbesitzer war es neu. Stell` dir ein Caféhaus vor, wo nur türkische Leute hingehen. Plötzlich sind verschiedene Menschen da. Die interessieren sich für das Lokal und die Menschen. Wenn unser Film zu Ende war, standen alle mitten in dem Lokal und diskutierten. Es ging also um eine andere Art von Begegnung. Das war auch eines unserer Ziele.
Seid ihr mit den fünf Veranstaltungen zufrieden?
Ayla Güler-Saied: Ich finde, dass sie ein großer Erfolg waren, weil es immer rappelvoll war und Diskussionen entstanden. Wir sieben aus dem Team kannten uns vorher nicht. Wir kommen auch alle aus unterschiedlichen Richtungen. Ich kannte auch nicht alle Leute aus der Keupstraße, und trotzdem hat alles funktioniert. Die Referenten aus der Keupstraße haben neue Erkenntnisse gebracht. Es war unser Ziel, dass das Schweigen gebrochen wird.
Viele der Betroffenen haben zum ersten Mal vor einer größeren Gruppe über ihre Erlebnisse nach dem Anschlag gesprochen?
„Niemand sprich von Köln-Lindenthal als deutschem Wohnbezirk. Das ist einfach Lindenthal und fertig. Warum muss bei der Keupstraße extra betont werden, dass das hier eine „türkische Straße” ist?“
Mitat Özdemir: Ja, von zehn Leuten, die wir eingeladen haben, waren acht, die noch nie zu einer Gruppe gesprochen haben. Die musste ich überreden. Manche haben gesagt: „Wenn du bei mir stehst, dann rede ich. Sonst nicht.“ Mut machen, Unterstützung und die Hilfe von unserem Team trugen dazu bei, dass sie angefangen haben zu reden. Die ersten fünf Minuten waren für sie schwer, aber nachher wollten sie gar nicht mehr aufhören. Wir haben keine Vorgaben gemacht, nur die Situation vorbereitet, dass sie leichter einsteigen können und das Gefühl haben, alles sagen zu können, was sie denken, was sie erlebt haben und wie das Ganze aus ihrer Sicht war.
Ayla Güler-Saied: Viele Leute haben wir erst in den letzten fünf Minuten überredet. Weil die gesagt haben: „Wir wollen da nicht mehr drüber reden, das ist zu belastend für uns. Wir mussten eh immer bei der Polizei aussagen und keiner hat uns ernst genommen.“ Oder: „Die Leute kennen die Geschichten doch schon, warum sollen wir das erneut erzählen?“ Wir haben gesagt: „Ne, wir kennen die Geschichten nicht, obwohl wir hier in Mülheim wohnen und uns mit dem Anschlag auseinandergesetzt haben. Kommt und lasst uns zusammen darüber reden.” Ich habe die Beiträge übersetzt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Leute immer noch traumatisiert und sehr stark enttäuscht sind. Einmal davon, dass es Nazis waren. Weil das zeigt, wie verletzlich diese Straße ist, da sie als „Türkenstraße” gilt.
Linktipp: Informationen zum Antifaschismus finden Sie bei LOTTA, eine ehrenamtlich betriebene, nicht-kommerzielle Zeitschrift aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, gegründet 1999. Die Redaktion betreibt außerdem den Blog „NRW rechtsaußen„
Ihre Enttäuschung stammt nicht nur von diesem Anschlag, sondern auch von dem Bild, was seit Jahren von der Keupstraße aufrecht erhalten wird. Dass sie als Fremdkörper wahrgenommen werden. Dass sie als Parallelgesellschaft dargestellt werden. Dass sie nicht als gleichberechtigte Bürger angenommen werden. Das war eine Kritik am Alltagsrassismus. Ich denke, die NSU-Taten kann man nicht unabhängig vom Alltagsrassismus sehen. Unsere Referenten haben gesagt: „Was muss ich denn noch machen, um hier akzeptiert und anerkannt zu werden. Ich lebe und arbeite hier seit Jahren. Ich habe hier meine Kinder und Enkelkinder gekriegt. Was wollt ihr noch von mir?”
Hier stellt sich die Frage, wie man die Leute entschädigen kann, nicht nur für die Anschlagsfolgen, sondern auch dafür, wie mit ihnen umgegangen wurde. Dass sie kriminalisiert wurden. Diese Kriminalisierung kam nicht aus heiterem Himmel, sondern sie basierte auf den vorherrschenden Bildern, die es von diesen Menschen gab. Ich sage jetzt nur „kriminelles Milieu”, „Zuhälterei”, „Drogengeschäft”. Das sind Begriffe, die in den 1990er Jahren in der Diskussion über die Keupstraße dominierten, und zur Stigmatisierung der Straße beitrugen. Warum wurde nicht stattdessen oder gleichzeitig das ganz normale und funktionierende Alltags- und Geschäftsleben fokussiert?! Aktuell Interview
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