Offener Brief
Rat für Migration fordert institutionelle Reformen in der Integrationspolitik
Über sechzig Wissenschaftler und weitere Erstunterzeichner fordern die künftige Bundesregierung auf, die Integrationspolitik institutionell zu reformieren. Die Zuständigkeit soll nicht mehr beim Innenministerium liegen. MiGAZIN dokumentiert den Aufruf im Wortlaut:
Dienstag, 01.10.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.10.2013, 12:27 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft mit schon mehreren Generationen von Einwanderern. Strukturen und Lebensformen verändern sich, beschleunigt durch den Druck des demografischen Wandels. Migration und Integration sind Schlüsselthemen von Gegenwart und Zukunft, die fast alle Politikbereiche durchdringen. Nötig sind dazu umfassende und langfristig ausgerichtete gesellschaftspolitische Gestaltungsperspektiven.
Die Verhandlungen um einen Koalitionsvertrag für die neue Legislaturperiode bieten dazu eine besondere Chance: Zur Aufgabe gemacht werden sollte dabei die Konzipierung einer zukunftsweisenden und transparent koordinierten Migrationspolitik sowie einer Integrationspolitik, die nicht mehr Sozialtherapie für Menschen mit Migrationshintergrund ist, sondern teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle. Nötig dazu sind institutionelle Reformen.
Es gibt in Sachen Migrations- und insbesondere Integrationspolitik auf der Bundesebene eine expandierende und zunehmend handlungslähmende Vielfalt von konkurrierenden Kompetenzen: Das Bundesministerium des Innern (BMI) versteht sich als Integrationsministerium, vor allem mit Blick auf die integrationspolitischen Instrumente des Aufenthaltsgesetzes. Die Federführung für Fragen der Arbeitsmigration liegt beim Bundesarbeitsministerium. Die Visavergabe in den deutschen Auslandsvertretungen fällt in die Zuständigkeit des Bundesaußenministers. Eine Vielzahl von anderen, mit Integrationsfragen befassten Ministerien hat inzwischen selber ein Integrationsreferat oder einen Integrationsschwerpunkt. Um die diffundierenden Kräfte zu koordinieren, wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, die aber institutionell nicht hinreichend abgesichert ist. Im Bundeskanzleramt sitzt das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Sie hat aber keine Zuständigkeit für das in Nürnberg residierende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das zugleich mit seinen Integrationskursen eines der wichtigsten Gestaltungszentren für Integrationsförderung ist, aber dem Bundesinnenministerium zugeordnet wurde.
Das lähmende Kompetenz-Wirrwarr reicht bis zur Information durch Dokumentation: Bis heute ist es nicht einmal gelungen, einen geschlossenen Migrations- und Integrationsbericht vorzulegen und kontinuierlich fortzuschreiben. Vielmehr geben die Berliner Beauftragte der Bundesregierung ihren Integrationsbericht und das Nürnberger Bundesamt seinen Migrationsbericht heraus, unabhängig voneinander und noch dazu zu unterschiedlichen Zeitpunkten und deshalb auch mit unterschiedlichen Berichtszeiträumen – obgleich Migration und Integration doch zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Überdies sind in Deutschland die oft sehr unterschiedliche Wege gehenden Bundesländer zuständig für Integration. Die aber spielt sich ohnehin weder auf Bundes- noch auf Länderebene ab, sondern in den Kommunen, deren Leistungen auf diesem Gebiet bei weitem unterschätzt werden und die nicht im Blickfeld der Bundespolitik, sondern, wenn überhaupt, der jeweiligen Landespolitik liegen.
Zur Petition: Sie unterstützen die Forderung des Rates für Migration? Auf change.org können Sie die Forderung unterzeichnen und die Forderung nach institutionellen Reformen unterstützen.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Bundesministerium des Innern mit seiner Konzentration auf Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr das falsche Zentralressort ist: für die Förderung von Willkommenskultur gegenüber der nötigen Zuwanderung ebenso wie für Integrationspolitik im Sinne teilhabeorientierter Gesellschaftspolitik für alle. Das mächtige Ministerium ist überdies mit einer selbst intern kaum mehr überschaubaren Aufgabenfülle überlastet. Es sollte auch deshalb in der neuen Legislaturperiode von der Federführung in Fragen der Migrations- und Integrationspolitik entlastet werden durch die Bündelung der entsprechenden Belange in einem Querschnitts-Ministerium.
Dies schließt die Zuständigkeit für das Aufenthaltsrecht und damit verknüpfte Bereiche (Flüchtlingsrecht, Freizügigkeit von Unionsbürgern) sowie das Staatsangehörigkeitsrecht ausdrücklich ein. Gerade diese Bereiche setzen entscheidende Rahmenbedingungen, die unter einer gesellschaftspolitischen und nicht nur sicherheitspolitischen Perspektive zu gestalten sind. Das BMI wäre dann in Sachen Migration und Integration nur mehr ein mit beratendes Ministerium unter anderen.
Für Migration und Integration sollte stattdessen ein Querschnitts-Ministerium federführend zuständig sein, das die Aufgabenbereiche Migration und Integration mit der Arbeits- und Sozialpolitik verknüpft und darüber hinaus die Brücke zu anderen, für Migration und Integration wichtigen Aufgabenfeldern schlägt. Dies wäre ein aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales hervorgehendes Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Migration und Integration. Hier sollte künftig auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als nachgeordnete Behörde angebunden sein. Das Amt der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung sollte in Kompetenz und Ausstattung gestärkt werden. Bei dem neuen Ministerium läge dann auch die Federführung für die Verhandlungen auf der Ebene der Europäischen Union, wo zentrale Fragen des Migrationsrechts heute entschieden werden. Schließlich sollten in Bundestag und Bundesrat entsprechende Fachausschüsse gebildet werden, um die Arbeit zu flankieren und zu kontrollieren.
Soll das Bundesinnenministeriums auch in Zukunft für Integrationspolitik zuständig sein?Nein (64%) Ja (32%) Weiß nicht (4%)Wird geladen ...
In den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen sind Integration und Ausländerrecht bereits gemeinsam in einem Ministerium verankert, was eine kohärente Politik erleichtert. Allerdings ist das nur in Rheinland-Pfalz ein sozialpolitisches Ressort (Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen), in Schleswig-Holstein und Thüringen sind es die Innenministerien. Deutschland könnte sich hier auch an Vorbildern aus Schweden und vielen anderen europäischen Staaten orientieren. Diese Erfahrungen sollten in die institutionelle Reform auf der Bundesebene einbezogen werden.
Begleitet werden sollte eine solche Neuordnung der Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung durch ein Bundesmigrations- und Integrationsgesetz. Es sollte in der Migrationspolitik rahmensetzend und koordinierend wirken. Es sollte zugleich in der Integrationspolitik als Gleichstellungsgesetz die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten für alle fördern, die interkulturelle Öffnung vorantreiben und mehr Ressourcen dafür zur Verfügung stellen. Dabei kann von den Erfahrungen der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Berlin profitiert werden, die solche Gesetze bereits haben. Weitere Orientierungshilfe kann die Gleichstellungspolitik im Bereich Frauen bieten.
Weil Migration und Integration für nachgerade alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens belangvolle Dimensionen sind, sollte das neue Querschnitts-Ministerium auch die Dimensionen Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im Blick haben und damit über seine eigenen Ressortgrenzen hinaus wirken. Es sollte deshalb auch die Aktivitäten anderer Ressorts im Bereich von Migration und Integration koordinieren, also insbesondere diejenigen des Bildungs-, Familien-, Wirtschafts-, Innen-, Justiz- und Außenministeriums. Auf diese Weise kann das zu schaffende Querschnitts-Ministerium entscheidend beitragen zu einem Wandel von der herkömmlichen und durch die Entfaltung der Einwanderungsgesellschaft überholten ‚Integrationspolitik‘ für ‚Migranten‘ zu einer teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle.
Wir fordern die Koalitionsunterhändler, die neue Bundesregierung und die zukünftigen Bundestagsabgeordneten auf, sich unsere zukunftsorientierten Forderungen zu eigen zu machen.
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