Der Triebtäter
Tag der Spaltung
Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Denn nun, da ich diese Zeilen schreibe, nähert sich das Jubiläum eines verhängnisvollen Tages der deutschen, ja weltweiten Geschichtsschreibung, dessen wir jährlich am Tag der Deutschen Einheit gedenken.
Von Sven Bensmann Dienstag, 08.10.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 11.10.2013, 16:59 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Dieses Datum markiert jenen Jubeltag des deutschen Revanchismus, an dem der zuvor unabhängige Osten wieder heim ins Reich geholt wurde, an dem die große Mauer, die die beiden deutschen Staaten trennte, überwunden wurde, weil der real existierende Sozialismus kollabiert war.
In der Folge ließ nun der Kapitalismus die Maske der sozialen Marktwirtschaft fallen und zeigte seine widerliche Fratze des Neoliberalismus: So wie die steinerne Grenze einst als Brandmauer gegen die Auswanderung der Bourgeoisen in den Westen dienen sollte, so hatte die Sozialdemokratie bis dato als Brandmauer des Westens gegen die Auswanderung all zu sehr ausgebeuteter Arbeiter in den Osten gedient.
Und so ist es wenig erstaunlich, dass, seit wir jährlich die deutsche Einheit feiern dürfen, die soziale Spaltung der Gesellschaft zunimmt, dass Arm und Reich weiter auseinandertreiben, dass Banker gerettet werden, während Arbeitslose hungern sollen, „um Arbeitsanreize zu schaffen“ – in anderen Ländern gar direkt in den Tod getrieben werden: Griechenlands Suizidrate war einmal die niedrigste in Europa, inzwischen vergeht kaum mehr ein Tag, an dem sich nicht gleich mehrere Athener aus Verzweiflung das Leben nehmen.
Die Gettoisierung der sozialen Milieus, auch die Gentrifizierung, tun anschließend ihr Übriges, um auch eine lokale Spaltung wieder zu erreichen.
Es war übrigens Warren Buffet, dieser Apologet des Marktradikalismus, der unlängst erklärte, es tobe ein Krieg da draußen, ein Krieg den die Reichen gegen die Armen führten, den die Reichen angezettelt hätten und den sie auch gewinnen werden; so nimmt es auch nicht wunder, dass jeder, der genug Selbstverleugnung aufbringen kann, sich zu diesen Gewinnern zählen will: Nur so lässt sich erklären, dass die CDU mit ihrem „Uns geht’s gut.“ und ihrem „Nein!“ zu Steuererhöhungen für Bestverdiener selbst Leiharbeiter für sich gewinnen konnte, weil die sich vor diesen Steuererhöhungen gruselten.
Besonders einfach – und damit bin ich beim eigentlichen Thema angelangt – fällt es, sich zu den Gewinnern zu zählen, wenn man die gute deutsche Radfahrermentalität herauskramt, nach oben buckelt und dorthin tritt, wo garantiert diejenigen sind, die noch tiefer stehen. Diese wiederum finden sich besonders gern eingepfercht und hinter, Überraschung, gesicherten Mauern und Zäunen, wie einst die Ossis; belagert nicht mehr von Selbstschussanlagen, sondern besorgten Bürgern, denen es nach verkohlten Leichen nichtdeutscher Herkunft dürstet und die die NPD zu ihrem Sprachrohr machen.
Gibt es also wirklich einen Grund, einen solchen Tag zu feiern, diesen Tag der Spalter? Einen Tag der Deutschen Einheit, an dem die Arier die Heimkehr der verlorenen Brüder ins Reich feiern, der aber nur der Auftakt war zu einer neuen, beispiellosen Teilung der Gesellschaft?
Und wenn wir schon, etwas zynisch, Einheit feiern, warum nicht die Einheit aller Menschen, die diese Gesellschaft ausmachen, die sie bereichern und voranbringen? Sind nicht die Wahlerfolge von AfD und Ausländermaut-CSU, sowie der noch immer viel zu hohe Stimmenteil der NPD nicht bedenklich genug? Der offen zur Schau gestellte Chauvinismus der Merkel-CDU gegen Südländer, die von gierigen Banken in die Pleite getrieben wurden? Hat nicht die Mordserie der NSU, gedeckt von Politik und Strafverfolgung, auf diese große Spaltung der Gesellschaft aufmerksam gemacht?
Wenn wir schon Einheit feiern, warum nur die Deutsche Einheit, warum feiern wir nicht allgemein die Einheit der Deutschen – all derer, die hier bereits eine Heimat gefunden haben und derer, die sie hier noch finden wollen?
Einen Tag, an dem wir feiern, was Deutschland ausmacht: einen Tag, der alle Menschen, die in diesem Lande leben, ehrt, ihr friedliches Zusammenleben, den großen kulturellen, gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen, den individuellen wie kollektiven Gewinn, der den Rassisten nicht nur ein Bekenntnis der Vielen entgegensetzt, sondern auch ein sichtbares – und offizielles – Bekenntnis zu einer lebendigen Gesellschaft darstellt, wo völkische Politiker sich sonst am behaupteten Tod von Multi-Kulti weiden? Einen Tag, der nicht erst zum Tag der offenen Moschee erklärt werden muss, um allgemeiner Deutschtümelei etwas Offenes entgegen zu setzen?
Warum denn eigentlich nicht? Aktuell Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
- Spurwechsel ermöglichen Migrationsexperte fordert Bleiberecht für arbeitende…
Man hätte viel Pointiertes zum Tag der Deutschen Einheit schreiben können, hinter dieser über weite Strecken abstrusen Polemik bleiben die eigentlichen Punkte fast zurück. Die Deutsche Einheit mit „Heim ins Reich“ und Deutschtümelei abzutun, bedient zwar Godwins Gesetz, ansonsten ist es aber – mal wieder – geschichtsklitternder Unsinn: Sehr viele Freunde und Familien waren durch die deutsch-deutsche Teilung getrennt, Familienzusammenführung (zurecht ein wichtiges Thema in der Einwanderungspolitik) war nicht möglich. Viele Menschen haben unter der ostdeutschen Diktatur schwer gelitten. Die Deutsche Wiedervereinigung war überhastet, schlecht durchgeführt, west-chauvinistisch und das Versprechen, die Gesellschaften zusammenzuführen wurde nur sehr halbherzig angegangen. Für viele Menschen hat die Wende dennoch extrem viel bedeutet, darum kann man da sehr gut einen Feiertag drauß machen.
Sie, Herr Bensmann, waren bei der Wende 6 oder 7 Jahre alt und haben möglicherweise nie als politischer Mensch in einer Diktatur gelebt. Es sollte Ihnen trotzdem möglich sein, hinter dem Gedenken an die Wiedervereinigung mehr zu erkennen, als unschickliches Nationalgebahren. Und sei es nur, dass wir (mindestens) einmal im Jahr daran erinnert werden, wo noch Handlungsbedarf besteht.
Schade, dass Ihnen entgangen ist, worum es eigentlich geht: Dass wir einen Tag der Einheit feiern, und darauf bestehen, dass diese Einheit deutsch ist – während die Einheit der Gesellschaft als solcher seit jenen Jahren immer weiter verloren geht.
Natürlich sollten wir auch die Einheit Deutschlands weiter feiern können – aber warum alle anderen dabei ausklammern?
Stimmt. Warum nicht aus dem Tag der deutschen Einheit den Tag der bunten Vielfalt in Einheit machen?
So wurden am 3. Oktober 1990 ja die ehemaigen Vertragsarbeiter der DDR aus (Nord-)Vietnam mit den Boat-People aus (Süd-)Vietnam, die als Flüchtliche in die Bundesrepublik kamen, quasi wiedervereinigt.
Sofern das obige Elaborat nicht ohnehin satirisch gemeint war, wünsche ich dem Autor, er möge darüber hinweg kommen, dass mit dem Sturm auf den sozialistischen Schutzwall auch sein Weltbild vom besseren Deutschland geschleift worden ist.
Der westliche Arbeiter wollte gar nicht nach drüben. Er wollte lieber mit dem VW ans Mittelmeer reisen, als mit dem Trabi an die Ostsee. Und der befreite DDR-Arbeiter wollte das auch. Und daher wurde die Mauer vom Osten aus gekippt und ein ebenso totalitärers wie marodes Regime beiseite geräumt, ohne dass ein einziger Schuss dabei fiel. Das ist es, was wir feiern.
Was habe ich durch die Wiedervereinigung gewonnen? Fahren Sie doch einfach mal „nach drüben“. Besuchen Sie Erfurt und Weimar, Dresden, Quedlinburg, Stralsund und Rügen, Annaberg und das Erzgebirge und nicht zu vergessen, auch die Berliner Museumsinsel und den Prenzlberg.
Ich tümle deutsch? Wie soll ich denn sonst tümeln? Vielleicht russisch, oder gar schwiezerdüetsch? Nein, dann noch lieber sächsisch, wie mein Großvater, der einzige Wessi seiner 5-köpfigen Brüderschar.
Luther, Goethe, Auerbachs Keller, Dresdner Christstollen – das alljährliche Weihnachtsgeschenk einer Großtante in Chemnitz, die Kreidefelsen von David Caspar Friedrich und das Erzgebirge, von dem mein Großvater manchmal sang, „mei Arzgegirg wie bist du schee!“ Meine Wurzeln, quer durch Deutschland, vom Erzgebirge bis in den Pfälzer Wald.
Mit der deutsch-deutschen Grenze verschwand auch der übrige Teil des eisernen Vorhangs. Und mit tausenden von Ossis setzten sich auch hunderttausende von Osteuropäern in Bewegung, in den kalten, grausamen Westen.
„Warum gerade Deutschland?“ wagte ich einmal eine russische Bekannte zu fragen und bekam zur Antwort:“Weil man in Deutschland nicht nur materiell, sondern auch sozial und politisch am sichersten leben kann.“ Durch ihre Verwandten und Bekannten in USA und England dürfte sie genügend Vergleichsmöglichkeiten haben. Inzwischen ist sie stolze Großmama. Ihr Enkelkind bekam den schönen „deutschen“ Namen Emily.
Meine erste Fahrt in den Osten galt dem Besuch der besagten Großtante in Chemnitz. Wir hatten uns bei ihrer Tochter angemeldet und meine Großmutter war auch dabei. Die Tochter hatte ihrer Mutter nur einem Überraschungsbesuch angekündigt. Als sich die beiden alten Schwägerinnen weinend in die Arme nahmen, zogen wir Jungen uns diskret zu einem Stadtbummel zurück.
Verstehen Sie jetzt was wir am 03. Oktober feiern?
Guter Kommentar, die Xeno-Fraktion beisst sich noch immer die Zähne daran aus..