Reportage
Ein Leben, keine Perspektive
Karim hat keinen Schulabschluss, keine Perspektive und keinen Job. Er lebt in einem sogenannten sozialen Brennpunkt. Es ist einer jener Bezirke, über die Bezirksbürgermeister wie Heinz Buschkowski sprechen. Das Leben dort ist geprägt von Gewalt.
Von Said Rezek Donnerstag, 17.10.2013, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 27.11.2015, 8:58 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
„Guck mal wie die Leute mich angucken. Die denken, ich wär ein scheiß Kanake“, sagt Karim* und läuft selbstbewusst mit dem Joint in der Hand mitten durch Essen – Borbeck, sein Zuhause. Er sieht es in den Blicken der Menschen, wie sie über ihn denken. Mit Kanaken meint Karim kriminelle Ausländer. Kiffen hat für ihn nichts Kriminelles. Er raucht den Joint, wie andere eine Zigarette.
Es ist ein sonniger Herbsttag. Auf seinem etwas zu groß geratenen Shirt steht 45. Die Zahlen stehen für die ersten beiden Ziffern der Essener Postleitzahl. Karim ist 22, fast zwei Meter lang, trägt einen Boxerschnitt, ist sonnenbankbraun und hat grüne Augen. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Libanese, er ist Borbecker.
Hier kennt er sich aus, wie andere in ihren Wohnzimmern und kann fast zu alles und jedem etwas erzählen. „Guck mal, da sind unsere Alkoholiker, immer die gleichen Gesichter“. Ein paar Meter weiter läuft ein verstört guckender Mann an Karim vorbei und grüßt. „Der arme ist ein Heroin – Junky.“
Karim ist in Borbeck von klein auf groß geworden, in der Preisstraße, am Ende der Straße, am Wendekreis. In den Eingangsbereichen der Wohnhäuser fliegen Zeitungsfetzen herum. Die unteren Kacheln an der Fassade sind zerbrochen. Die Glastüren wurden vor Jahren durch Panzertüren ersetzt, da erstere immer wieder beschädigt wurden. In den Fluren sind lauter Schmierereien auf den Wänden zu sehen. Es ist eine polizeibekannte Gegend. Ein sogenannter sozialer Brennpunkt, mit allem was dazu gehört. Es ist einer jener Bezirke, über die Bezirksbürgermeister wie Heinz Buschkowski sprechen. Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Kriminalitätsrate, ein niedriger Bildungsstand und ein hoher Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Keine guten Voraussetzungen um Abitur, geschweige denn einen Hochschulabschluss zu absolvieren, wie diverse Studien belegen.
Von Statistiken hat Karim keine Ahnung, doch er bestätigt diese, wie viele andere in diesem Bezirk. Sein Vorstrafenregister ist lang. Zum ersten Mal ist er mit elf polizeilich wegen Körperverletzung aufgefallen. „Ich hab nem Typen, ne Kopfnuss verpasst. Mit mir war nichts, aber er war fertig,“ sagt er mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Ich hab auch Schläge abbekommen, die muss man abkriegen. Wenn nicht, weiß man nicht, was eine Schlägerei ist“, sagt er mit ernster Stimme. Der Satz klingt aus seinem Mund, wie ein Gesetz. Es folgte eine Serie von Verurteilungen wegen schwerer Körperverletzung, Drogendelikten und Einbrüchen. „Das ganze Programm“.
„Gestern Nacht kam die Polizei. Der Typ vom Erdgeschoss hat seine Frau geschlagen“, erzählt Karim fast beiläufig wie andere über das Wetter reden. Er ist äußerlich abgehärtet, denn sein Leben ist geprägt von Gewalt. Bereits im Grundschulalter gehörten Schläge von seinem Vater zu seinem Alltag. Noch bevor er morgens früh das Haus verließ, wurde er wegen Kleinigkeiten geschlagen. Er musste mit ansehen, wie seine Mutter und seine kleinen Geschwister geschlagen wurden. Mit diesen Bildern im Kopf drückte er die Schulbank. „Ich war mit meinen Gedanken noch zu Hause und spürte die Schmerzen auf meinem Körper, während ich in der Schule war“, sagt Karim mit erregter Stimme. Um den Problemen im Elternhaus zu entkommen, verbrachte er viel Zeit auf der Straße, mit Freunden, die ähnliche Probleme hatten wie er. Es war eine Art Flucht. Dann kam die Scheidung. Karim als ältester musste Verantwortung für seine sieben kleinen Geschwister übernehmen. Für einen elfjährigen zu viel, wie er sagt. Die Flucht ging weiter. Dann nicht mehr vor der Gewalt im Elternhaus, sondern vor der Verantwortung. Die Gewalt, die er zu Hause erfahren hat, gab er weiter, um gefürchtet zu werden, sich einen Namen zu machen.
Karim reißt seine große Hand auf. Zu sehen ist eine Narbe auf der Handfläche. „Das ist von einer Schlägerei letzte Woche“. Jemand hat ihm mit dem Messer in die Handfläche gestochen, als er den Stich abwehren wollte. Karim war allein, wie so oft, die anderen waren zu dritt. Er ist ein Einzelgänger geworden. „Der einzige Kreis, in dem ich mich bewege, ist der Wendekreis vor meiner Haustür“. Die Zeit im Knast hat sein Denken und Handeln verändert. Vor dem Knast war die Straße seine Familie. Seine Mutter schrieb ihm viele Briefe, doch eine Zeile in der Zelle änderte seine Einstellung. „Wir stehen hinter dir“, schrieb seine Mutter. Von da an, war klar, wer seine Familie ist.
Mit 14 wurde er zum ersten Mal zu einem Wochenendarrest verdonnert, wegen Körperverletzung. Es folgten weitere Wochenenden hinter Gittern und eine mehrwöchige Haftstrafe wegen verschiedenen Angelegenheiten. Er weiß gar nicht mehr genau warum. Seine Mutter zog die Notbremse und schickte ihren Sohn für zwei Monate in den Libanon, in der Hoffnung, dass er dort zur Vernunft kommt. Libanon war nicht seine Heimat, das merkte er schnell und wollte unbedingt wieder zurück. Zurück in Deutschland begann er da wo er vorher aufgehört hatte. Er startete mit zwei weiteren Jungs eine Raubserie für die er 1 Jahr und 6 Monate gesessen hat. „Bei den Einbrüchen ging es nur um Geld. Um zu zeigen, was man hat.“ Das Geld gab er für Klamotten und Essen genauso schnell aus, wie er es beschafft hatte. Es ging darum zu zeigen, was man hatte. „Mein Motto war: Hast du was, bist du was. Hast du nichts, bist du nichts.“
Einen Schulabschluss hat Karim nicht. „Ich gehe in die Volkshochschule. Eine Bewährungsauflage, damit ich nicht in den Knast muss.“ Wie es danach weiter geht, weiß er nicht. „Mein Ziel ist es, ein Ziel zu finden“, sagt er und gesteht sich ein, keine Perspektive zu haben. Er kann sich kein anderes Leben vorstellen, als das, das er lebt. „Ich kenne kein anderes.“
Der Ball knallt gegen das Metalltor, des angrenzenden Kindergartens. In der Preisstraße spielen fast 20 kleine Kinder im Wendekreis Fußball. Karim erinnert sich zurück, an seine Kindheit. „So fing es damals an“. Den Joint hat er aufgeraucht. Er steckt sich eine Zigarette an und beobachtet das Geschehen. Diese Kinder werden den gleichen Weg gehen, wie ich. Er ist sich sicher. Die Statistik gibt ihm Recht.
* Name geändert Aktuell Gesellschaft
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Bei dem Täter ist weder Reue noch Selbstreflektion zu erkennen, Schuld sind immer nur die Anderen: Das Umfeld, die harte Kindheit, die zerbrochene Familie. Sowohl die Mutter, als auch der deutsche Staat hat mehrfach interveniert und ist unterstützend tätig geworden, deshalb kann von Perspektivlosigkeit eigentlich keine Rede sein.
Aber solange wie er selbst keine Verantwortung für sein Leben übernimmt, ist Hilfe von Außen sinnlos.Was bleibt ist die fiktive Opferrolle als Ausrede für sein weggeworfenes Leben.
Das grenzdebile Gerede von der „Eigenverantwortung“ zeigt seine Absurdität gerade auch an diesem Fall.
Ein Menschenkind, für das nie wirklich Verantwortung übernommen wurde und das zu allem Überfluss auch noch Verantwortung für eine Vielzahl von Geschwistern übernehmen musste und das eben ohne jemals selbst wirklich verantwortlich geleitet und begleitet worden zu sein … soll nun in der Lage sein „Eigenverantwortung“ zu übernehmen. Was für ein widersinniges Gedankenkonstrukt.
Eine Veränderung ist allenfalls in einem sehr langen und tiefgreifenden Umbildungsprozess möglich … aber dazu gehört wiederum, dass es Menschen gibt, die sich wirklich für dieses Menschenkind verantwortlich fühlen. Nur so kann sich auch Selbstverantwortung herausbilden.
Josef Özcan (Diplom Psychologe)
Ein Gerede kann keine Abusurdität zeigen, denn es ist ja keine Person Herr Diploma.
Inzwischen hat sich ein industrieller Komplex um diese Intensivtäter gebildet. Von der Familie, über den Freundeskreis, Lehrer, Sozialpädagogen, Psychologen, Jugendamt, Jugendgerichtshilfe, Sozialhilfe, Streetworker bis hin zu einem breiten Maßnahmenkatalog wie präventiv-integrative Maßnahmen, Sozialstunden und dem Gefängnis.
All das genügt nicht, um klar zu machen, dass er selbst für seine Taten die Verantwortung übernehmen muss? Wer an dieser Stelle und nach so einer Reihe von Hilfsangeboten die Eigenverantwortung negiert, ist gedanklich schon längst bei kommunistischen Umerziehungslagern.