Interview mit Orhan Jasarovski
Rom-Role-Model
Bildungsfern? Orhan Jasarovski und seine Familie strafen das verbreitete Klischee über Roma deutlich Lügen. Orhans mazedonische Eltern, die während des Jugoslawienkriegs nach Deutschland geflüchtet waren, meldeten ihn gleich nach ihrer Ankunft in der Grundschule in Düsseldorf-Meerbusch an – obwohl die Schulpflicht damals, 1991, für Flüchtlinge und Asylsuchende noch nicht galt. „Vielfalt“ sprach mit dem heute 33-Jährigen über seine Bildungskarriere:
Von Ariane Dettloff Dienstag, 22.10.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.10.2013, 20:56 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Wann und wie haben Sie Deutsch gelernt?
Orhan Jasarovski: Eine Woche, nachdem wir hier angekommen waren, hat mein Vater mich in die Schule gesteckt. Da habe ich ein wenig protestiert: „Ich kann doch gar kein Deutsch!“ – „Das lernst du schon“, beschwichtigte er. Und so war es. Natürlich war es anfangs für mich schwierig, weil ich zunächst gar nichts verstand. Aber nach einem halben Jahr konnte ich fließend Deutsch.
Wie war das Verhältnis zu den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden?
Jasarovski: Erst einmal gab es Vorbehalte: „Wie der aussieht!“ Da war ich der Exot, denn ich habe ja eine dunklere Hautfarbe. Aber das hat sich bald gelegt. Nur ein Schulkamerad nannte mich weiterhin immer „Brathähnchen“.
Wie haben die Lehrkräfte darauf reagiert?
Jasarovski: Sie haben es gar nicht mitbekommen.
Gab es sonst noch Diskriminierungserfahrungen in der Schule?
Jasarovski: Nein, auch später in der Gesamtschule nicht. Das war in Skopje völlig anders. 1994 ist unser Asylgesuch abgelehnt worden, und meine Familie wurde abgeschoben. Da hieß es in der Schule immer: „Zigan, Zigan!“ Ich wusste gar nicht, was das Wort bedeutet und habe meine Mutter gefragt: „Wer ist dieser Zigan?“ – „Sie meinen dich damit“, sagte sie. – „Warum? Ich bin doch Rom, nicht Zigan!“ Das sei ein negativer Begriff für uns. Damit würde unter anderem verbunden, dass wir schmutzig seien. Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich wurde ja schon wegen meiner Behinderung gebrandmarkt – wegen einer Polio-Erkrankung ziehe ich ein Bein etwas nach.
Sie konnten nach Deutschland zurückkehren und studierten hier Germanistik – warum haben Sie dieses Fach gewählt?
Jasarovski: Ich habe mich schon als kleiner Junge in diese Sprache verliebt: Es ist die Sprache, mit der ich das Gefühl der Freiheit und der Gleichbehandlung verbinde, weil ich hier offene Arme vorgefunden habe. Darum verbinde ich mit der deutschen Sprache eine besondere Lebensqualität. Und ich liebe die deutsche Literatur, so dass mir schnell klar war, dass ich Germanistik studieren möchte.
Wie waren Ihre Erfahrungen an der Universität?
Jasarovski: Wir Roma verleugnen in der Regel unsere Identität, weil wir gelernt haben, dass wir dann eher die Möglichkeit erhalten, einen Weg einzuschlagen, wo wir vielleicht doch gleichberechtigt behandelt werden und im Leben etwas schaffen. Ich habe mich als Student also zunächst auch nicht als Rom geoutet. Ich hatte viele Freunde unter den Kommilitonen. Aber dann ist Folgendes passiert:
In einem Seminar fragte jemand den Dozenten, was „Zigeuner“ seien, und er antwortete: „Ein Volk aus Südosteuropa, das asozial am Rande der Gesellschaft lebt“. Ich hätte nie gedacht, dass solche Vorurteile sogar in akademischen Kreisen vermittelt werden. In einer so aufgeklärten Gesellschaft wie der deutschen! Es hat mich sehr geschmerzt – wie Messerstiche hat mich das getroffen. In dem Augenblick konnte ich nicht anders, als mich als Rom zu outen. Sonst wäre ich mir feige vorgekommen.
Wie waren die Reaktionen?
Jasarovski: Höchst erstaunt. Und leider haben sich viele meiner damaligen Freunde – jedenfalls dachte ich, dass es Freunde wären – daraufhin von mir losgesagt. Nur wenige wahre Freunde sind mir geblieben. Ich habe es also ein bisschen bereut, dass ich das im Affekt geäußert habe. Meine guten Freunde haben mich bestärkt und mir versichert, dass ich mich nicht zu verstecken brauchte. Schließlich sei ich doch sogar Asta-Referent für politische Bildung.
Welche Konsequenz haben Sie gezogen?
Jasarovski: Ich sehe es als meine Aufgabe, der Ethnie, von der ich stamme, zu helfen, und beizutragen zu einem besseren Miteinander in der deutschen Gesellschaft. Seit 2008 bin ich Vorsitzender des Nordrhein-Westfälischen Landesverbands der Roma e.V. Hier herrscht immer noch Diskriminierung gegenüber Roma und Sinti. Wir sind erst am Anfang des Weges. Ich bin froh, dass die Juden nach der Shoa endlich den Platz in der deutschen Gesellschaft erhalten, den sie verdienen. Aber der Antiziganismus ist immer noch sehr stark.
Allerdings trete ich nicht nur für die Gleichberechtigung der Roma als Gruppe in der Zivilgesellschaft ein. Ich kämpfe auch innerhalb der Roma-Community für Gleichberechtigung. Die Roma-Strukturen sind sehr archaisch. Frauen werden darin sozusagen noch einmal diskriminiert.
Sie haben Ihr Magister-Studium abgeschlossen und schreiben jetzt Ihre Doktorarbeit. Zugleich sind Sie als Interkultureller Berater für Roma aus Rumänien und Bulgarien bei der RAA in Duisburg tätig. Welche Erfahrungen machen Sie dort?
Jasarovski: Ich begleite vor allem Schülerinnen und Schüler dieser Herkunft. Ich wundere mich darüber, dass 90 Prozent der Roma-Kinder auf Förderschulen kommen. Besonders gravierend fand ich folgenden Fall: Eine Lehrerin bezeichnete einen Roma-Schüler als dumm und wollte ihn auf die Förderschule überweisen. Ich konnte in der Klasse hospitieren und habe ihn in seiner Muttersprache gefragt und festgestellt, dass er alles richtig wusste. Die Lehrerin war ganz verblüfft: „Das Kind ist ja gar nicht zurückgeblieben!“ Man hatte es schon abgestempelt und einen Bericht geschrieben, dass es in die Sonderschule müsste.
Ist das ein Ausnahmefall?
Jasarovski: Nein, Vergleichbares passiert öfter. Wenn ich mir damals nicht selbst das Deutsche beigebracht hätte, wäre es mir vielleicht auch so ergangen.
Ich wundere mich auch, warum 90 Prozent der Roma-Kinder in die Sonderschule kommen Manchmal mache ich einen Spaß und sage: Vielleicht haben sie doch einen genetischen Defekt? Aber ich muss dann ein Mutant sein!
Seitdem ich an der Schule arbeite, hat sich die Situation dramatisch verändert. Die Roma-Kinder sehen: Da ist ein Rom, der so gebildet ist – das geht doch! Sie wollen dann auch etwas erreichen.
Natürlich muss man auch die Eltern mitnehmen. Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist weit verbreitet. Vielen steckt noch die Erfahrung in den Knochen, dass die Kinder im Nazi-Reich in der Schule waren und nie mehr zurückgekommen sind. Auch im kommunistischen Bulgarien und Rumänien gab es viele Fälle, dass den Roma ihre Kinder weggenommen wurden.
Was können die Lehrer und Lehrerinnen tun?
Jasarovski: Sie sollten offener mit der Thematik umgehen und genauer hinschauen. Allerdings sehe ich auch, dass sie oft überfordert sind. Ich kann es auch halb verstehen: Die Klassen sind zu groß, sie können sich nicht um jedes einzelne Kind kümmern.
Mich freut es immer, wenn ich helfen kann. Da ist zum Beispiel ein rumänischer Junge, ein begabter Fußballer, aber schüchtern. Er berichtete mir, dass die anderen nicht mit ihm spielen wollen. Ich forderte seine Mitschüler auf, ihn mitspielen zu lassen, bekam aber zur Antwort: „Nein, er ist doch Zigeuner!“ Ich sagte: „Ja, und ich auch. Mit mir redet ihr doch auch!“ – „Wie? Sie auch??“ Seitdem ist er in der großen Pause immer dabei. Aktuell Gesellschaft Interview
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Es ist zutiefst erschütternd zu erfahren, wie sehr Zugehörigkeiten zu einem Stigma gemacht werden können … und dass die Kinder die Angehörige von bestimmten Volksgruppen sind massenweise in die Sonderschulen wandern ist unglaublich.
Immerhin wandern sie nicht mehr ins Konzentrationslager, aber die Behandlung hat eindeutig strukturelle Analogien zu dieser noch wesentlich traumatischeren Zeit für diese Volksgruppen. Leider ist das die Wahrheit und keine Übertreibung.
Josef Özcan (Diplom Psychologe)