Der Tiefe Staat
Ein ausgeliehenes Gespenst?
Heute vor zwei Jahren enttarnte sich die NSU selbst. Seitdem wird darüber spekuliert, ob und inwieweit der Staat in die NSU-Morde verwickelt ist und ob es einen tiefen Staat in Deutschland gibt. Wolf Wetzel kommentiert im MiGAZIN das Für und Wider.
Von Wolf Wetzel Montag, 04.11.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.07.2015, 0:13 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Viele, die seit zwei Jahren die ‘Aufklärungsarbeit’ der deutschen Behörden im Fall der neonazistischen Terror- und Mordserie des NSU verfolgen, wollen und können das Eingeständnis eines kompletten Behördenversagens nicht akzeptieren bzw. annehmen. Zuviel bedauerliche Einzelfälle reihen sich aneinander, zu viele Akten wurden im Zuge der ‘Aufklärung’ nicht ausgewertet, sondern vernichtet. Zu viele hochrangige Beamte machten Falschaussagen vor den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Zu viele Ermittlungen, die geradezu auf der Hand liegen (wie im Fall des Mordanschlages auf Polizisten in Heilbronn 2007), werden bis heute be- und verhindert.
Wenn man dieser Kettenserie von Pannen und Versehen nicht Glauben schenken kann, dann stellt sich die Frage nach der Systematik, nach den Gründen gewollter Nicht-Aufklärung.
Dabei wird immer wieder auf die in der Tat besondere Rolle der Geheimdienste (VS/MAD) verwiesen. Haben sie sich verselbstständigt? Haben sie die Polizeiarbeit hintergangen, torpediert? Waren die Ermittlungsbehörden Spielball der Geheimdienste? Wurden sie an der Nase herumgeführt?
Die für eine parlamentarische Demokratie entscheidenden Fragen stehen im Raum: Agierten die Geheimdienste tatsächlich außerhalb jeglicher politischer/parlamentarischer Kontrolle? Führen sie ein Eigenleben als wesentlicher Bestandteil des Staates im Staat?
Obwohl sich diese Fragen geradezu aufdrängen, ist das publizistische Interesse geradezu bescheiden. Zu Beginn des ‘NSU-Skandals’ 2011 fiel noch gelegentlich das Wort vom ‘tiefen Staat’, vom ‘Staat im Staat’. Doch anstatt diesem Vorwurf analytisch und argumentativ nachzugehen, überwiegt heute das Schweigen.
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013/2. Auflage
Dankenswerterweise hat sich das Politikmagazin Cicero dieser Fragestellung angenommen. Um die Existenz des ‘tiefen Staates’ in der Türkei zu beschreiben, geht der Autor Michael Kraske in seinem Beitrag ‘In den Tiefen des Staates’ vom 14.9.2012 auf Ereignisse in 2007/8 ein: Die Polizei findet in einem Haus in Istanbul 27 Handgranaten, Sprengstoff und Geheimdokumente, die auf eine Verschwörung namens ‘Ergenekon’ hinweisen sollen. Am Ende werden mehr als 250 Personen angeklagt. Ihr Ziel: Sturz der derzeitigen Regierung Erdogans, die 2002 an die Macht gekommen war. Das Personal dieser Verschwörung ist hochkarätig: hochrangige Mitglieder des alten kemalistischen Regimes, wie der Ex-Kommandant der 1. Armee, der Ex-Chef der Gendarmerie, der General Ilker Basbug (türkischer Generalstabschef von 2008 bis 2010), der Chef der Arbeiterpartei, (Ex-)Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) usw.
Mit diesem Bild vom tiefen Staat wendet sich der Autor den deutschen Verhältnissen zu. Er führt die zahllosen Fälle im Kontext der neonazistischen Mordserie auf, in denen Beweise vernichtet, Akten vorenthalten, Untersuchungsausschüsse belogen, „staatliche Kollaboration mit Nazis“ betrieben wurden … und kommt zu dem naheliegenden Schluss: „Wenn offen erörtert wird, ob es in Deutschland einen ‘tiefen Staat’ gibt, soll damit nicht die Verschwörung und Verbrüderung staatlicher Institutionen mit Neonazis behauptet werden. Hingegen lassen sich beunruhigende Indizien dafür finden, dass in Teilen der Polizei, Justiz und Politik eine unausgesprochene Übereinkunft darüber herrscht, Rechtsextremismus zu vertuschen und zu verharmlosen. Eine Art Staatsräson, in der das Image als saubere Demokratie Primat des Handelns ist.“
Zweifellos gibt es für diese Art von Staatsräson zahllose Belege. Doch all dies, was der Autor zu Recht beklagt und anklagt, beantwortet die Frage nicht: Wozu braucht es für diese rassistisch geprägte Grundhaltung, für diesen „unausgesprochenen Common Sense“, einen tiefen Staat, einen Staat im Staat?
Als deutliches Indiz für seine Annahme führt er an: „Der demokratiegefährdende Skandal ist, dass sich Verfassungsschützer und Geheimdienstler über die gewählten Parlamentarier erheben, dass sie selbst entscheiden, worüber sie informieren und was sie besser verschweigen.“ Diese Willkür offenbare einen „eklatanten Mangel an demokratischer Loyalität“, ebenso an Kontrolle, dass als Konsequenz die Aufgabenbereiche wie auch die Struktur, besonders die parlamentarische Kontrolle der beteiligten Behörden in Bund und Ländern überprüft und korrigiert werden müssten. „Die Verfassungsschutzämter führen ein Eigenleben“, meint Kraske. „In diesem Sinne kann man von einem ‘tiefen Staat’ sprechen: Als einem System, das unterhalb der geltenden Vorschriften und Gesetze ein Eigenleben führt.“
Der Versuch, hinter dem Pannensystem das Systemische herauszuarbeiten, leidet an zweierlei: an der (türkischen) Vorlage und an dem angeführten Beleg. Die hier skizzierte Version vom tiefen Staat in der Türkei zeichnet einen massiven Konflikt zwischen der alten (kemalistischen) und der neuen (islamisch geprägten) politischen Klasse nach. Gehen wir von der Existenz einer Organisation namens ‘Ergenekon’ aus, dann war dies ganz offensichtlich ein Versuch, die alten politischen (kemalistischen) Machtverhältnisse mittels eines Putsches wiederherzustellen.
Von einem solchen politischen Konflikt kann man in Deutschland nicht ausgehen, denn die Staatsräson wird von der politischen Opposition (SPD, Grüne) gleichermaßen geteilt und verteidigt wie von der gegenwärtigen Regierung (CDU/CSU, FDP). Für die Option eines Staates im Staat gibt es keinerlei Anhaltspunkte, keinerlei Notwendigkeit. Im Gegenteil: Der NSU-VS-Komplex belegt in einem Zeitraum von über 13 Jahren, dass das ‘Versagen’ keine Besonderheit der amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung ist. Die neonazistische Mordserie begann im Jahr 2000, zuzeiten einer rot-grünen Bundesregierung. Den Common Sense bei der aktiven Nichtaufklärung, bei der Weigerung, die Ermittlungen in Richtung Neonazismus aufzunehmen, teilten sich sozialdemokratische und christdemokratische Innenminister. Der Staatsanteil am NSU, die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung durch zahlreiche deutsche Behörden, wird von einer parteiübergreifenden Koalition unterschlagen und gedeckt. Die juristisch mehr als evidente Frage, ob sich deutsche Behörden der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben, wird weder gestellt noch mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens geprüft.
Neben dieser gewählten Vorlage, die sich nicht auf deutsche Zustände übertragen lässt, ist aber auch der Beleg für einen hier existierenden tiefen Staat falsch. Als Beweis führt Kraske das „Eigenleben“ der Geheimdienste an, die sich jeder parlamentarischen und politischen Kontrolle entzogen hätten.
Für die Existenz eines tiefen Staates bräuchte es jedoch mehr als das Eigenleben von Geheimdiensten. Ein Staat im Staat setzt voraus, dass bestimmte staatliche Operationen und Zielsetzungen nicht mehr innerhalb bestehender staatlicher Strukturen durchsetzbar sind, dass rechtswidrige, staatsterroristische Handlungen nicht mehr durch entsprechende Gesetzesänderungen ‘legalisiert’ werden können.
Alles, was man bisher zum NSU-VS-MAD-Komplex weiß, indiziert etwas anderes: Es gab in den dreizehn Jahren NSU keinen politischen Dissens zwischen den Regierungsparteien und regierungswilligen Oppositionsparteien. Niemand forderte eine Kehrtwende (bei den Ermittlungen), niemand forderte dazu auf, einen anderen Weg (in Hinsicht auf den staatlichen Begleitschutz des Neonazismus) einzuschlagen. Leitartikel Meinung Politik
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