Weltbehindertentag
Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif
In Deutschland ist etwa jeder zehnte Bürger behindert. Und trotzdem werden sie im Alltag kaum wahrgenommen. Zufall? Nein: Menschen mit Behinderung und vor allem jene mit Migrationshintergrund scheuen die Öffentlichkeit aufgrund der vielen Barrieren.
Von Nasreen Ahmadi Dienstag, 03.12.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 06.12.2013, 7:40 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Wer oft mit dem Bus oder der Bahn unterwegs ist, bemerkt schnell, dass sich barrierefreie Haltestellen und Stationen mit nicht-barrierefreien abwechseln, dass Aufzüge monatelang nicht funktionieren und dass Rolltreppen oft gar nicht vorhanden sind.
Besonders deutlich wurde mir dies, als ich eine Mutter mit ihrem Kind, das im Rollstuhl saß, verzweifelt an den Treppen einer U-Bahn Haltestelle sah. Völlig teilnahmslos und gleichgültig liefen die Leute an ihr vorbei. Als ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte sie mir, dass sie schon seit einer halben Stunde hier vor den Treppen stehe und keiner ihr helfen würde. Der einzige Aufzug an der Station sei defekt und eine Rolltreppe würde es auch nicht geben. „Funktioniert er immer noch nicht?“, fragte ich sie erstaunt zurück. Wie konnte es sein, dass der Aufzug, der vor mehr als drei Monaten als defekt gemeldet worden war, immer noch nicht repariert wurde?
Fast jeder Zehnte mit Behinderung
Mit Mühe und Not fanden wir ein paar Passanten, die, schon fast widerwillig, mithalfen, den Rollstuhl samt Kind hochzutragen. Anschließend erfuhr ich von der Mutter des Kindes, dass das keine Seltenheit sei und sie sich damit abgefunden hätte. Oft versuche sie diese Probleme zu vermeiden, indem sie gar keine öffentlichen Verkehrsmittel nutze.
Zum Jahresende 2011, so das Statistische Bundesamt, lebten in Deutschland rund 7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen. Bezieht man diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung, so ist in Deutschland etwa jeder zehnte Einwohner behindert. Zwei von drei schwerbehinderten Menschen haben körperliche Behinderungen. Dies bedeutet, dass man im alltäglichen Leben auf sehr viele Menschen mit einem Handicap treffen müsste. Doch die Realität sieht anders aus.
Jeder Zweite nimmt Behinderte nicht wahr
Eine Umfrage der Aktion Mensch und Innofact ergab, dass mehr als jeder zweite Bundesbürger (55 Prozent) Menschen mit Behinderung nicht wahrnimmt. Jeder Dritte hat überhaupt keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung. Neben diesen Zahlen wissen wir aber auch, dass nur durch die Präsenz von Menschen mit Beeinträchtigungen dauerhafte und intensive Dialoge und zwischenmenschliche Beziehungen hergestellt werden können.
Eine große Herausforderung stellt auch die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabechancen von Behinderten mit Migrationshintergrund. Sie sind doppelt und mehrfach von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen. So sind Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund nach Angaben von Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen seltener in Werkstätten und Vereinen anzutreffen. Auch die Fördermaßnahmen und Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderung werden weitaus unterdurchschnittlich in Anspruch genommen.
Flickenteppich Deutschland
Ein verbesserter Zugang zu Leistungen, Beratungsstellen und zielgruppengerechte und barrierefreie Informationen sind deshalb unerlässlich. Muttersprachliches Informationsmaterial zu Betreuungsangeboten könnte beispielsweise dafür sorgen, die Betroffenen über den besonderen Bedarf von pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Angeboten zu informieren. Gleichzeitig würde das Angebot eine Einladung für Menschen mit Migrationshintergrund darstellen und könnte die Nutzung regionaler Hilfegruppen begünstigen. Erstkontakte könnten hergestellte werden, aus denen sich anhaltende Begegnungen, Austausch und Aktivitäten entwickeln.
Stattdessen sehen wir, dass über viele Jahre nicht einmal das Notwendigste getan wurde. Und so gleichen die notwendigen barrierefreien Anlagen und Verkehrsmittel im öffentlichen Straßenraum einem Flickenteppich. Dabei muss der Staat dafür sorgen, dass niemand vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird. Erst im Jahr 1994 wurde Artikel 3 des Grundgesetzes um den Satz „niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ergänzt. Erst 2006, kamen dann das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die Gleichstellungsgesetze für Behinderte dazu. Auf dem Papier sind Institutionen und Ämter also verpflichtet, Barrieren abzubauen. Auf dem Papier! Denn Barrierefreiheit hängt unmittelbar damit zusammen, wie viele Mittel und Gelder der Staat den Kommunen für die entsprechenden Bautätigkeiten und den Infrastrukturmaßnahmen zu Verfügung stellt. Und hier versagt der Staat.
Gemeinsame Bildung
Selbst in der Schule sieht es nicht anders aus. Für die Förderung der Teilhabe am Leben ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen an einem gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Diskriminierungen, Negativ-Etikettierungen und Vorurteile könnten so abgebaut werden. Verschiedenheit würde als Normalität betrachtet werden. Doch auch hier agiert der Staat zu langsam. Nach Einschätzung zahlreicher Experten müssen dafür noch viele Grundlagen geschaffen werden. Das gemeinsame Lernen an Regelschulen ist nur dann möglich, wenn mehr Personal, Fortbildungen, kleinere Klassen und finanzielle Unterstützung ermöglicht werden.
Ein paar – wenn auch schwache – Lichtblicke gibt es aber: Ab dem Schuljahr 2014/15 haben behinderte Kinder in Nordrhein-Westfalen ein Recht auf gemeinsamen Unterricht. Doch um einen qualifizierten Unterricht für alle gemeinsam zu gewährleisten, müssen noch viele Hausaufgaben gemacht werden. Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Aktuell Meinung
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