Deutschland

Einwanderungsland im Herzen Europas

2012 wanderten fast eine Million Ausländer nach Deutschland ein. Das waren 125.000 oder 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor und insgesamt so viele wie seit 1995 nicht mehr. Was das für die Neueinwanderer bedeutet, skizziert Sven Astheimer.

Von Sven Astheimer Montag, 03.03.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 07.03.2014, 1:03 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

Heute weiß Elena Llorente, wie lang der Weg ist. Die 36 Jahre alte Spanierin kam nach Deutschland mit dem Wunsch, hier zu arbeiten, ihren Horizont zu erweitern und neue Dinge zu lernen. Was sie jedoch als Erstes lernen musste, war, dass es ungleich schwerer ist, sich in einem anderen Land durchzusetzen als in der eigenen Heimat. Sie musste viele Rückschläge einstecken und mit Kränkungen klarkommen, fühlte sich zeitweise ausgenutzt und allein gelassen. Aber eines, sagt die Madrilenin mit erhobenem Haupt, sei ihr immer klar gewesen: „Aufgeben kam nicht infrage, dazu bin ich viel zu stolz.“

Deutschland, das neue Einwanderungsland im Herzen Europas – kaum jemand hätte dies noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten. Im vergangenen Jahrzehnt ging dieser Titel noch eindeutig an Großbritannien, das seine Grenzen früh für Bürgerinnen und Bürger der neuen EU-Mitgliedsländer aus Mittel- und Osteuropa öffnete, während unter anderem Deutschland die Schotten so lange wie möglich dicht machte. Die damals rasch wachsende britische Wirtschaft stillte ihren enormen Hunger auf qualifizierte Fachkräfte in Polen, Ungarn oder dem Baltikum – bis die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ausbrach und die Wachstumsträume jäh beendete. Während also anderswo die Blasen an den Märkten platzten, entpuppte sich das bis dahin für seine „Old Economy“ oft belächelte Deutschland als solider Hafen in der stürmischen See der Weltwirtschaft.

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Heute steht die größte Volkswirtschaft im Euroraum glänzend da. Deutsche Unternehmen sind hochgradig wettbewerbsfähig, ihre Produkte rund um die Welt begehrt. Dazu braucht es gutes Personal. Die Chancen am Arbeitsmarkt sind so gut wie lange nicht: Deutschland hat die zweitniedrigste Arbeitslosenquote nach Österreich, bei Frauen und Männern unter 25 Jahren ist es sogar das Maß der Dinge. Während in Krisenländern wie Griechenland und Spanien die Jugendarbeitslosigkeit längst mehr als 50 Prozent beträgt, klagen zwischen Baden und Vorpommern die Unternehmen immer häufiger darüber, dass sie nicht mehr genügend gute Mitarbeiter finden.

Dass der deutsche Arbeitsmarkt viele Chancen bietet, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Die Folge: 2012 wanderten fast eine Million Ausländer nach Deutschland ein. Das waren 125.000 oder 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor und insgesamt so viele wie seit 1995 nicht mehr. Die höchsten Zuwachsraten entfielen auf die krisengeschüttelten Mittelmeerländer des Euroraums: Das Plus bei den eingewanderten Griechen, Portugiesen und Italienern betrug jeweils mehr als 40 Prozent, für Spanier waren es sogar 45 Prozent. Auf der iberischen Halbinsel hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Jahres 2011 persönlich die Werbetrommel gerührt, als sie arbeitslose, junge Spanier nach Deutschland einlud. In Spanien ist seitdem vom „efecto Merkel“, dem Merkel-Effekt, die Rede. Denn hoch qualifizierte junge Menschen pilgerten anschließend scharenweise zu Jobmessen im ganzen Land, um ihre Bewerbungen bei den deutschen Arbeitgebern mit den klangvollen Namen abzugeben. Die Goethe-Institute von Barcelona bis Sevilla konnten gar nicht so schnell neue Lehrer einstellen, wie die Nachfrage nach Deutschkursen stieg. Was lange Jahre undenkbar schien, nahm plötzlich Gestalt an: Junge Spanier machten sich in großer Zahl auf den Weg ins weit entfernte, kalte Deutschland.

Elena Llorente ist eine von ihnen. Nachdem sie ihr Psychologiestudium in Madrid abgeschlossen hatte, arbeitete sie zunächst als Lehrbeauftragte an der Universität und parallel dazu in Pflegeheimen. „Der Wunsch, ins Ausland zu gehen, war schon immer da“, sagt sie. 2011 fasste sie den Entschluss, dass es an der Zeit war, den Neuanfang in einem anderen Land zu wagen. Deutschland war sofort ihre erste Wahl. Llorente wusste um die vermeintlich guten Chancen am Arbeitsmarkt, nennt die reiche Kultur und, für Spanier eher ungewöhnlich, das Wetter in Deutschland als weitere Gründe. Sie mag es nicht nur heiß, sagt sie lachend. Zudem seien die Winter im hochgelegenen Madrid auch ziemlich kalt. Als Touristin hatte sie Deutschland zudem schon ein wenig kennengelernt und im Sommer 2010 mit einem Deutschkurs in einer spanischen Sprachschule angefangen. „Ich dachte, das lerne ich schnell“, sagt sie. Heute sitzt Llorente in einem Berliner Café und spricht darüber, wie viel Fleiß dazu gehört, die neue Fremdsprache zu beherrschen. Deshalb lautet ihr Rat an ihre Landsleute, sich nicht ohne ausreichende Sprachkenntnisse auf das Abenteuer Deutschland einzulassen.

Im Januar 2012 schrieb sie die ersten Bewerbungen an Unternehmen im Raum Berlin. Die meisten Ausländer zieht es in die deutschen Großstädte, vornehmlich in die Hauptstadt. Die Berater der Arbeitsagenturen klagen bisweilen darüber, wie schwierig es sei, den Kandidaten klarzumachen, dass viele offene Stellen eher von Mittelständlern aus der Provinz kommen. Sauerland statt Spreestrand – das ist nicht jedem sofort zu vermitteln. „Die stehen mit dem Koffer bei uns in Berlin und fragen, wann sie zu arbeiten anfangen können“, berichtet eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur über die Vorstellungen von so manchem Neuankömmling. Dabei ist gerade der Berliner Arbeitsmarkt ein vergleichsweise hartes Pflaster.

Auch Elena Llorente handelte sich einige Absagen ein, bevor sie schließlich eine Stelle bei einem Berliner Personaldienstleister im Talentmanagement bekam. Die Aufgabe schien ihr wie auf den Leib geschneidert: „Ich sollte spanische Pflegekräfte nach Deutschland bringen.“ Mit dem neuen Job im Gepäck, zog Llorente im Juli 2012 aus der spanischen in die deutsche Hauptstadt. In die neue Aufgabe habe sie sich rasch eingefunden, erzählt sie, die Arbeit habe ihr Spaß gemacht. Doch im Dezember, kein halbes Jahr später, machte die Firma plötzlich dicht. Für Llorente war der Verlust des Arbeitsplatzes und damit ihres sicheren Einkommens ein Schock: „Ich war alleine, weit weg von der Heimat.“

Die Zuwanderer müssen schon kurz nach der Ankunft im Zielland einige ihrer Illusionen über Bord werfen, wenn der harte Alltag sie eingeholt hat. Zu Beginn dieses Jahres empfing der hessische Sozialminister Jens Grüttner medienwirksam den Pfleger Ignacio Úbeda am Flughafen Frankfurt/M. Der junge Mann war der erste Teilnehmer eines Programms, das spanische Pflegekräfte nach Deutschland bringen sollte. Úbeda trat seinen Dienst in einer Einrichtung vor den Toren Frankfurts an. Nach wenigen Monaten gab er aus privaten Gründen auf und trat, diesmal ohne öffentlichkeitswirksame Fotos mit dem Sozialminister, den Rückweg nach Spanien an.

Für Elena Llorente kam dieser Schritt nicht infrage. „Ich hatte beschlossen zu bleiben und mich durchzukämpfen.“ Sie besuchte weiterhin die Sprachkurse am Goethe-Institut und sichtete den Stellenmarkt. Die Zahl der Vorstellungsgespräche in dieser Zeit schätzt sie auf 60, die der Bewerbungsschreiben auf noch viel höher. Im Jobcenter hatte sie zunächst das Gefühl, auf den Prüfstand gestellt zu werden. „Die wollten sehen, wie ernst ich es meine“, glaubt Llorente heute. Im Frühjahr 2013 bekam sie eine neue Betreuerin, der sie großes Bemühen attestiert. Aber die Angebote waren dünn gesät. „Ich spreche deutsch, was ist los“, habe sie sich von Selbstzweifeln geplagt häufig gefragt. Um nichts unversucht zu lassen, fuhr sie für ein Einstellungsgespräch bis nach München. Im Gespräch stellte ihr Gegenüber nach zehn Minuten fest, dass die Spanierin keine kaufmännische Ausbildung hat und damit für die Stelle leider nicht infrage kommt. Alles umsonst. „Das hätte man auch vorher klären können“, sagt sie noch heute verärgert. Im Sommer 2013 führte sie ein Praktikum zu einem Personaldienstleister nach Köln. „Ich durfte nichts machen“, sagt sie im Rückblick und führt das als Reaktion auf einen Fehler gleich zu Beginn zurück. Die Hoffnung auf eine Festanstellung im Anschluss war schnell zerstoben. „Ich war so enttäuscht.“ Die Liste der Fehlschläge wurde immer länger. Einige Stellen scheiterten an einer fehlenden Approbation. In einer Klinik in Rheinland-Pfalz sagte man ihr, dass ihr Akzent eine einwandfreie Kommunikation mit den Patienten verhindere. Sie suchte einen Logopäden auf, um etwas dagegen zu tun. „Der hat mich aber nicht genommen, weil ich gesund sei.“

Schließlich wurden ihre Ausdauer und Hartnäckigkeit aber doch belohnt, als sie im Jobcenter einen Bildungsanbieter entdeckte, der Psychologen für verschiedene Einrichtungen in Sachsen-Anhalt suchte. Die Arbeit bestand aus der Berufsvorbereitung für Rehabilitanden. „Das war der Traumjob für eine spanische Psychologin“, sagt Llorente. Diesmal ging alles recht schnell und unkompliziert. Sie bekam eine Stelle in Stendal. Das bedeutet nun, jeden Tag um 4.45 Uhr aufzustehen und täglich vier Stunden mit dem Zug zu pendeln. Doch die Spanierin ist nach den ersten Wochen glücklich: „Es lohnt sich.“ Und die Zeit im Zug lasse sich gut nutzen. Elena Llorente blickt heute auf zwei bewegte Jahre in Deutschland mit „sol y sombra“, Licht und Schatten, zurück. Häufig spricht sie über ihre Erfahrungen auch mit Freunden aus der Heimat. Viele spielen ebenfalls mit dem Gedanken, ihre berufliche Zukunft in Deutschland zu suchen. Elena Llorentes Rat ist derselbe geblieben: „Lernt Deutsch, lernt Deutsch.“ Leitartikel Politik

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