Interview mit Klaus Jünschke
„Arme Menschen werden kriminalisiert – egal, welcher Herkunft.“
Hat Deutschland ein Integrationsproblem? Für Klaus Jünschke ist diese Debatte ein Ablenkungsmanöver: von Machtunterschieden und der Angst vor sozialem Abstieg. Im Grunde, so seine These, geht es um arme und reiche Menschen.
Von Ananda Rani Bräunig Freitag, 31.01.2014, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.05.2015, 17:18 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Streit um Multikulti, Warnungen vor Armutsmigration, die Mordserie des NSU. Hat Deutschland ein Rassismus-Problem? Ist die Integration gescheitert? In unserer Interviewreihe sprechen wir mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Mit Aktivisten, Autoren, Philosophen – oder einfach Menschen, die etwas dazu zu sagen haben.
MiGAZIN: Herr Jünschke, wo fängt Rassismus Ihrer Meinung nach an?
Klaus Jünschke: Ich denke, das ist sehr subjektiv. Es gibt zum Beispiel den Streit um die Frage: Darf man Zigeuner sagen oder sollte man Roma und Sinti sagen? Es gibt Sinti und Roma, die sagen: Wir sind Zigeuner und wir finden es lächerlich, wenn ihr zu uns Sinti und Roma sagt. Und es gibt Sinti und Roma, die sind verletzt, wenn man Zigeuner zu ihnen sagt. Das heißt, es gibt subjektiv verschiedene Auffassungen. Allgemein ist es ja klar: Wir haben, wenn wir es mit Rassismus zutun haben, mit Verhaltensweisen zutun, die andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion missachten, diskriminieren und misshandeln oder ermorden. In unserer Gesellschaft wird das sehr ausführlich diskutiert. Fast in allen Zeitungen, die ich lese, wird das immer wieder zum Thema gemacht. Das ist auch gut so. Denn wie soll man etwas verändern, was man nicht öffentlich ausspricht oder nicht zur gesellschaftlichen Diskussion stellt?
Gibt es auch Rassismus-Vorwürfe in Deutschland, die Sie für übertrieben halten?
Klaus Jünschke hat Ende der 60er Jahre Psychologie und Erziehungswissenschaften in Mannheim studiert und war in der Studentenbewegung aktiv. 1972 kam er ins Gefängnis, da er Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) war. In den letzten Haftjahren hat er an der Fernuniversität Hagen eine Examensarbeit zum Thema Rassismus und Erwachsenenbildung verfasst. 1987 setzte sich Antje Vollmer, Bundestagsabgeordnete der Grünen, für Jünschkes Begnadigung ein, da er sich eindeutig und glaubhaft vom Terrorismus losgesagt habe. 1988 wurde er vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel begnadigt und entlassen. Jünschke zog nach Köln und engagierte sich unter anderem für den Verein „Kölner Appell gegen Rassismus e.V.“ In den 90ern gründete er die Zeitschrift „Körnerstrasse 77„, die von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichsten Ländern geschrieben und gestaltet wird.
Jünschke: Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Ein Mann sieht, wie ein Junge mit einem Nagel sein Auto zerkratzt. Der Mann geht hin und gibt ihm eine Ohrfeige. Wenn der Junge ein Migrant ist und es würde heißen, dass es sich um Rassismus handelt, dann muss man sich fragen: Hat das wirklich etwas mit Rassismus zutun oder ist der Mann einfach verärgert, weil sein Auto zerkratzt wurde? Wenn man sich über so etwas streitet oder sich aufhält, das finde ich lächerlich. Wir haben ganz andere Probleme. Ein Teil der Aufgeregtheit um Sprache, um Benennungen von Konflikten, ist auch Teil einer Abwehr, sich mit dem Wichtigsten auseinanderzusetzen: mit Machtverhältnissen. Wer sich intensiv damit auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich Norbert Elias „Etablierte und Außenseiter“. Das ist eine Studie über zwei Gruppen von Nachbarn in einem englischen Vorort. Die einen sind neu zugezogen und die anderen alt eingesessen. Die haben sich nicht voneinander unterschieden, weder ethnisch noch sonst wie. Doch die einen hatten Angst um ihre Privilegien durch die neu Zugezogenen und haben sich gegen sie gewehrt, die Neuen kriminalisiert, verdächtigt. Wie dieser Konflikt dann eskaliert und gelöst wurde, das beschreibt diese Studie. Und da geht es um Privilegien, um Machtbeziehungen und sozialen Zusammenhalt. Da lernt man sehr viel – mehr als in neueren Studien über Rassismus.
Der Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ sagt es ja schon: Der Hass gegen das Fremde. Liegt hinter diesem Hass die Angst vor dem Fremden? Warum gibt es diese Angst?
Jünschke: Das Thema Angst ist für meine Begriffe ein Ablenkungsmanöver und eine künstliche Auseinandersetzung in einer Welt, in der Menschen immer ärmer werden und Reiche immer reicher. Da gibt es doch verständlicherweise Abstiegsängste. Das ist auch nicht neu, das ist uralt. Dass eine Gesellschaft, in der es Ungleichheit gibt und Machtunterschiede, einen Bedarf an Sündenböcken hat. Wenn es einen Videofilm gibt, wie ein junger Mann auf einem U-Bahnhof einen anderen auf dem Boden liegenden Mann zusammentritt und ich veröffentliche das zur Ausländerkriminalität in allen Medien, tagelang, dann entsteht Aufregung. Die Medien, die das fahrlässig so handhaben, die unterschlagen aber, dass die meisten Gewalttaten in unserer Gesellschaft nicht zwischen Fremden geschehen, sondern zwischen guten Bekannten, in den Familien, zwischen Eltern und Kindern. Und damit müssen wir uns auseinandersetzen. Das andere löst sich von alleine auf. Die Gewalt an den Schulen ist zurückgegangen, wo Konfliktschlichtungsmethoden entwickelt wurden. Das ist ja kein großes Problem. Wenn man Kinder liebevoll erzieht und ihnen das zur Verfügung stellt, was sie für ein vernünftiges Heranwachsen benötigen, warum sollen sie dann gewalttätig werden?
Glauben Sie, dass die Fremdenfeindlichkeit durch Brennpunkte mit einem hohen Migrantenanteil zunimmt?
Jünschke: Dass wir uns überhaupt mit so einem Mist beschäftigen müssen, zeigt vor allem das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Leute. In der Nachkriegszeit wurden in der Bundesrepublik Millionen deutsche Aussiedler und Vertriebene integriert. Wir hatten in den 50er und 60er Jahren noch sogenannte Halbstarken-Krawalle in allen Großstädten. Und da ging es um Deutschsprachige. Da trafen Hunderte junge Männer aufeinander. Die haben sich auf der Straße geknüppelt. Wo haben wir das denn heute?
Wenn man Menschen, die Probleme haben, in Wohnungen zusammenpfercht, die man nicht mehr pflegt, wo man alles vergammeln lässt. Da muss man sich nicht wundern, dass die Probleme den Menschen über den Kopf wachsen. In Köln waren zum Beispiel lange die sogenannten „Klaukinder“ ein Thema. Und warum? Wir hatten bis 2005 keine Schulpflicht für Flüchtlingskinder. Wir haben in den Flüchtlingsheimen viele Kinder gehabt, die einfach rumgegammelt sind. Die liefen herum, sahen in all den Geschäften Sachen, die sie nicht hatten. Und was haben die gemacht? Sie haben geklaut. Wenn man die Kinder in die Schulen lässt, Familien unterstützt, dann hört das auf.
Und wenn es so etwas gibt wie Neukölln, dann muss man doch nicht fragen: Ist das schlimm? Sondern: Wer hindert einen vernünftigen Umgang mit den Menschen, die dort leben? Buschkowsky schreibt: Neukölln ist überall. Aber unser Bezirksbürgermeister in Ehrenfeld antwortet: Neukölln ist nicht überall! Die Angstmache mit Migranten, die hat auch etwas mit ihrer Ausnutzung zutun. Man hat Menschen, die braucht man, und wenn man sie nicht mehr gebrauchen kann, möchte man sie wieder loswerden. Deswegen hält man sie in so einem Zwielicht. Das ist vielleicht nicht mal bewusst von denen, die so reden wie Buschkowsky, aber es ist borniert.
Wo sehen Sie in Deutschland bewusste und unbewusste Vorurteile?
Jünschke: Arme Menschen werden bei uns traditionell kriminalisiert. Egal, welcher Herkunft. Das haben Menschen, die im Gefängnis sitzen, alle gemeinsam: Sie sind arm. Was für ein Vorurteil gibt es denn gegen einen türkischen oder japanischen Milliardär? Hat er irgendein Wohnungsproblem? Oder hat der ein Zugangsproblem zur Disco? Oder hat der irgendwas anderes, wo er sich drüber beschwert, wenn er bei uns spazieren geht? Ich kenne noch keinen, der sich beschwert hat. Es geht um Arm und Reich. Und wir haben hier in der Bundesrepublik eine Vielzahl von Migrantinnen und Migranten aus fast allen Ländern der Welt. Diejenigen, wo die Armut am größten ist, die stehen am Pranger. Warum hat man Angst vor ihrer Armut und hilft ihnen nicht? Weil Leute denken, sie müssen teilen und ihnen wird etwas weggenommen. Und das ist auch Teil dieser Erziehung für die kapitalistische Gesellschaft. Eine Ellbogen-Gesellschaft und diese Ideologie der Chancengleichheit. Wir haben eine hierarchisierte Gesellschaft, wir brauchen eine Welt mit weniger sozialer Ungleichheit.
Das Thema Rassismus ist ja auch recht diffus. Es gibt nicht nur die einen, die fremdenfeindlich sind und die anderen, die es nicht sind. Dazwischen gibt es viele Nuancen. Wie sollte man das Thema angehen?
Jünschke: Es gibt so viele Initiativen, die sich damit auseinandersetzen. Es gibt mehr Rassismus-Gegner als Rassisten. Das ist nicht unser wirkliches Problem. Natürlich ist die NSU eine Organisation, die viel früher entdeckt und gestoppt hätte werden können. Aber wir sind nicht mehr in der Weimarer Republik. Wir sind im Jahr 2014 und hier in der Bundesrepublik haben wir andere Gefahren. Man muss Rechtsradikale bekämpfen, wo man sie trifft und ihnen nicht die Straße überlassen und gucken, dass man ihnen den Boden entzieht, argumentativ und mit Widerstand. Aber woher kommt das denn, dieses Herrenmenschendenken? Wir vom Kölner Appell gucken einfach, dass wir Kindern und Jugendlichen helfen, um ihnen eine vernünftige Ausbildung zu ermöglichen. Ich denke, wenn es für alle Kinder und Jugendlichen eine gewaltfreie Erziehung gibt und es dort Hilfe gibt, wo die Eltern selbst nicht helfen können, weil sie Probleme haben oder krank sind, dann löst sich das auf. Aktuell Gesellschaft Interview
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Ein guter Beitrag.
Jedoch ist es wichtig die Dialektik zwischen Armut / Rassismus im Blick zu behalten.
Armut zieht Rassismus auf sich … D.h. der faktisch vorhandene und oft lediglich in Abwehr befindliche Rassismus nimmt die Armut und damit „soziale Wehrlosigkeit“ zum Anlass sich zu äußern … der sonst gehemmte Rassismus wird angesichts der sozialen Schwäche bestimmter Personen offenbar … es besteht also eine Verweisungsbeziehung …
Die „rassische Herleitung“ als solche (positiv und negativ) ist aber ein noch viel allgemeineres Phänomen … es gehört zum Alltag von Menschen mit differenter Herkunft, dass ihre Persönlichkeitsmerkmale auch rassisch gedeutet werden … („Musik im Blut“ ) … leider besteht Anlass dies sehr ernst zu nehmen, denn es zeigt wie selbstverständlich rassische Herleitungen im Alltag noch sind … und sie stellen „nur“ die Spitze des Eisbergs dar … über den großen Rest des Eisbergs möchte ich hier erst gar nicht anfangen zu schreiben …
Josef Özcan (Diplom Psychologe)
http://www.mig-gesundheit.com
bester beitrag bisher überhaupt auf den migazin zum thema rassismus.
hier wird die wurzel des übels benannt , menschen werden gegeneinander ausgespielt und es wird von gesellschaftlichen realitäten abgelenkt ,wenn es um das emotional geladene uns und die geht.
Dank an Sie Frau Grade und Herrn Jünschke. Sie haben meinen Gedanken Worte gegeben. Vielen Dank.