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Wir sind alle Nazis!

Deutschland braucht eine neue Erinnerungskultur

Warum darf ich, obwohl ich seit meiner Geburt in Deutschland lebe, Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt die deutsche Erbsünde – der Holocaust.

Von Mustafa Esmer Mittwoch, 29.01.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.02.2014, 0:39 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ich erinnere mich heute noch daran, wie mein Vater fast 9 Monate lang kämpfen musste, weil die GEWAG Wohnungsaktiengesellschaft Remscheid uns einzig Wohnungen in bestimmten – überproportional von türkischstämmigen bewohnten – Vierteln anbot, obwohl auch Wohnraum in anderen Stadtteilen verfügbar war.

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Die Suche auf dem privaten Wohnungsmarkt war nicht erfolgreich, da spätestens beim Telefonat auf einen Besichtigungstermin unsere ausländische Herkunft hörbar war. Meinem Vater war es jedoch wichtig, dass wir in einer Gegend aufwachsen, in der auch viele Deutsche leben, schon allein zum Zweck des Erwerbs von Sprachqualifikationen. Erst nach dem Einschalten eines Anwalts sowie eines guten Freundes, der zu dem Zeitpunkt in der IG-Metall bereits einen guten Posten hatte, wurde es möglich, in einer schönen Gegend – mit viel Wald und einer Talsperre in unmittelbarer Nähe – eine Wohnung zu bekommen.

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Ich erinnere mich noch immer an Kommentare der Sachbearbeiterin, wie: „Was habt ihr nur? Ihr seid Türken, da leben Türken, also das müsst Ihr verstehen. Deutsche wollen da nicht wohnen. Die Wohnungen müssen ja auch vermietet werden. Da seid ihr doch schön unter Euch.“ Auf Kritik reagierte die Dame mit Aussagen wie „Wenn es Euch nicht gefällt dann, könnt Ihr ja zurück in die Türkei.“ Ihre Spezialität bestand darin, die fehlende Sprachkompetenz meiner Eltern ausnutzend, Gespräche eskalieren zu lassen, ihnen Begriffe wie „Nazi“ in den Mund zu legen und sie dann lautstark aus dem Raum zu werfen.

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Alltagsrassismus ist Element der Alltagskultur
Das ist heute nicht anders. Dieser Form des Alltagsrassismus begegnet man auch heute noch. So hat beispielsweise mein Meinungsbeitrag zum abgeschobenen Intensivstraftäter Muhlis Ari eine hitzige Debatte mit meinen biodeutschen Freunden ausgelöst. Meine These im Fall Ari lautet: Deutschland trägt die Verantwortung für sein kriminelles Verhalten und nicht seine DNA. Dieser Einwand wurde jedoch heftig kritisiert mit Kommentaren wie: „Wenn sich Ausländer nicht benehmen können, dann haben die hier auch nichts verloren!“

Ich versuchte meinen Freunden darzulegen, dass er ja nicht kriminell war, weil er türkischer Herkunft ist, sondern aufgrund seiner Sozialisation. Es ging mir nicht darum, sein Fehlverhalten zu legitimieren, sondern auf Umstände zu verweisen, die deviantes Verhalten begünstigen. Ich beschrieb den Alltagsrassismus mit Beispielen aus meinem Alltag und erklärte, dass ich lediglich aufgrund meiner Persönlichkeit, Bildung und meiner Sprachkompetenz anders mit diesem Frust umgehen kann als Türkischstämmige, die nicht das Glück hatten, in einem guten Elternhaus aufzuwachsen und konservativ-osmanisch erzogen zu werden.

Mein Erklärungsversuch wurde aber mit „Jaja, wir Deutschen sind ja alle Nazis“ beantwortet. Eine inhaltliche Diskussion kam nicht zustande. Allem Anschein nach hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Aussagen wie „was habe ich mit dem Holocaust am Hut“ oder „Du weißt doch nicht, wie es ist, sich ständig diesen ‚Scheiß‘ anhören zu müssen“, ergaben einen Sinn.

„Exzeptionalismus der Schuld“
Warum darf ich trotz der Tatsache, dass ich seit Geburt in Deutschland lebe, hier aufgewachsen bin und die Politik aktiv verfolge, die Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt ein wesentliches Merkmal biodeutscher Identität, nämlich die deutsche Erbsünde – der Holocaust. Die Exklusivität der deutschen Erbschuld ist das Problem, das zu der fehlenden Anerkennung Neudeutscher vonseiten der Mehrheitsgesellschaft führt.

Auffällig ist, dass gerade die Generationen ab 1970 sagen, es einfach satt zu haben, für die Fehler ihrer Eltern und Großeltern büßen zu müssen. Sie hätten es satt, nicht offen sprechen zu können und ständig darauf bedacht sein zu müssen, bloß nicht als Nazi etikettiert zu werden.

Ich musste an den Beitrag von Rainer Werner Fassbinder für „Deutschland im Herbst (DE 1977/1978)“ denken, wo er seine leibliche Mutter, Lieselotte Eder, interviewt. Darin sagt sie: „Ich finde es fürchterlich. Aber man muss die Situation bedenken, in der sich meine Generation, die den Krieg erlebt hatte, befand. Wir standen total im Wald. Wir begriffen nicht, was geschehen war. Ich habe jahrelang darüber nicht sprechen können. Dazu kam, dass ich als Kind nicht gelernt hatte, zu sprechen. In meiner Familie war es nicht üblich, dass Eltern mit Kindern sprachen. Man wurde auch nichts gefragt […]“.

Meines Erachtens sind die politischen Maßnahmen, die als Entnazifizierung bezeichnet wurden, erfolglos gewesen, denn diese Methode war einzig ein Verbot der Nazidenke. In den Bildungseinrichtungen wurde durch ständiges Wiederholen ein Schuldkomplex eingepflanzt, ohne den Nachkriegsgenerationen Werkzeuge zur Hand zu geben, wie man denn nun damit umgehen soll. Die Nachkriegsgenerationen lernten lediglich Buße abzulegen und wurden im Sozialisierungsprozess von der Politik im Stich gelassen.

Die Erbsünde führt zur Exklusivität zweier Gruppen
Die angeblich liberalen Biodeutschen, jene die eher Links wählen, praktizieren Selbstverleugnung und die Konservativen, jene, die sich noch offen als Patrioten bezeichnen, haben einzig gelernt, was sie in der Öffentlichkeit zu sagen haben.
Ihr öffentlicher Sprech steht in krassem Widerspruch zu ihren Auftritten am Stammtisch oder unter Gleichgesinnten – soziale Medien, die auf Grund der Direktheit der Kommunikation Hemmschwellen zu senken vermögen, inklusive. Eines haben diese Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands gemein: Sie haben dicke Mauern um die Seele der Biodeutschen gebaut. Ein türkischstämmiger Immigrant, als Beispiel, kann nicht fühlen, wie es ist, mit dieser Erbsünde zu leben.

Deshalb muss das Deutschsein zu einer adaptierbaren Identität für Neudeutsche werden, damit ein „Wir“ überhaupt entstehen kann. Dieses Thema muss zwar langfristig durch die Zivilgesellschaft gelöst werden, dennoch ist es mit eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu etablieren. Die muss aktiv von der Politik gefördert, in der Bevölkerung etabliert werden, damit Deutsche durch Einbürgerung diese problemlos übernehmen können.

Eine neue Erinnerungskultur erarbeiten
Ich schlage eine Kommission vor, die sich aus Politik, Zentralrat der Juden, Migrantenverbänden, Vertriebenenverbänden usw. zusammensetzt und Eckpunkte einer neuen, zeitgemäßen Form der Erinnerungskultur gemeinsam erarbeitet. Ein „Wir“ gelingt nur dann, wenn die deutsche Geschichte ihre exklusive Last für Biodeutsche verliert und ALLE Deutschen dieses „Wir“ definieren können. Eine gemeinsame Erinnerungskultur, an der alle deutschen Staatsbürger teilhaben können, ist fundamental für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Erst dann wird auch die Anerkennung der Neuen als Gleiche auch in der biodeutschen Seele gelingen.

Man sollte aus dem Fehler gelernt haben und daraus die Verantwortung ableiten, dass ein solcher Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte sich niemals wiederholen darf! Man sollte nicht Generationen von Biodeutschen dazu zwingen, ihr gesamtes Leben geneigten Hauptes zu verbringen, sondern es ihnen zugestehen, erhobenen Hauptes zu gehen, mit der Sicherheit aus den Fehlern der Vorläufergenerationen gelernt zu haben, damit dieses „Nie wieder!“ glaubwürdig wird.

Aufarbeitung des Holocaust ist nicht abgeschlossen
Die Ethik, die Moral des Individuums muss es sein, welche die Verbrechen der Schoah verachtet, denn die existierende „Kultur der Scham“ hat Biodeutschen nichts beigebracht, außer dem Erlernen einer erwünschten Darstellung nach außen! Man hat einzig gelernt, wie die öffentliche Maske auszusehen hat – zumindest jene mit ausreichend Bildung. Man hat einzig gelernt, dass man vorsichtig sein muss mit dem, was man sagt, wenn es um ein Thema geht, das mit Juden zu tun hat, jedoch keine Moral, keine ethischen Grundsätze verinnerlicht. Es reicht die Betrachtung des Umgangs mit dem Islam in Deutschland, um dies erkennen zu können, falls man ein Beispiel wünscht.

In regelmäßigen Abständen tauchen in den Medien neue Nachrichten zu Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher auf und es stellt sich hierbei die Frage: Warum hat dies so lange gedauert? Nicht nur Täter schwiegen und versteckten sich, sondern auch traumatisierte Opfer, die sich mit der Grausamkeit der Verbrechen bis heute auseinandersetzen müssen. Lasst sie sprechen, wenn sie sich nach Jahrzehnten endlich in der Lage fühlen, denn diese Menschen wollen das Geschehen auf diese Weise verarbeiten. Dieses Echo der Schande wird uns noch einige Zeit begleiten. Wir sollten beweisen, dass wir die Verantwortung für das Recht auf Gleichheit eines jeden Menschen in unserer Gesellschaft tragen können und dessen Dringlichkeit auch in der Politik bewusst sind.

Deutschland ist kein Einwanderungsland
Unter Berücksichtigung dieses Aspektes ergibt das Postulat der alten Denke „Deutschland ist KEIN Einwanderungsland!“ einen ganz neuen Sinn und müsste ergänzt werden durch die Wortfolge „…und wird niemals eines werden, solange sich die Definition des Deutschseins nicht in den Köpfen der Menschen ändert“.

Die Bewältigung der deutschen Erbsünde ist der Dreh- und Angelpunkt beim Design einer gemeinsamen Zukunft. Denn dann wird der Kampf gegen rassistische Denkmuster nicht länger als Dogma einer exzeptionalistischen Erinnerungskultur gesehen – die ja wiederum eine biodeutsche Sonderrolle festschreibt, sondern als unabdingbare Notwendigkeit für den Aufbau einer lebenswerten Zukunft unseres Landes begriffen. Aktuell Meinung

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  1. Nora sagt:

    Vielen Dank für diesen Artikel!
    Im Zusammenhang damit möchte ich darauf hinweisen, dass – nicht unbedingt in der Politik, aber eben in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft – das Thema durchaus zunehmend aufgegriffen wird, im Sinne von Zafer Senocak, der schon in den 90ern schrieb: „Nach Deutschland einzuwandern heißt auch in die deutsche Vergangenheit einzuwandern.“ 2013 erschienen zB das Buch von Jennifer Teege „Amon“, sowie das Theaterstück „Sag mal dass wir nicht zu Hause sind“ von Rashid Novaire, inszeniert von Berivan Kaya am Ballhaus Naunynstraße, die sich damit auseinandersetzen, was es bedeuten kann, eben auch in der (post-)migrantischen Familiengeschichte die NS-(Täter)-Vergangenheit zu finden.

  2. Biblix sagt:

    Sehr interessanter Kommentar.

    Ich glaube aber nicht, dass es da absehbar zu Änderungen kommen wird, dazu gibt es zuviele Gralshüter der richtigen Meinung.

  3. Wiebke sagt:

    Herzliches Beileid zu deinen Erfahrungen, wenn du Ressentiments begegnest, sobald du Mißstände in D kritisierst. Und ich gebe Dir generell recht, dass wir ein Poblem der Identifikation in Deutschland haben, die es besonders Zuwanderern schwer macht, sich mit D zu identifizieren und zu integrieren. Kein Wunder, schließlich haben es ja auch viele Deutsche schwer sich mit D zu identifizieren, wie bereits richtig kommentiert wurde, und das kann sich durch noch so viele Entnazifizierungs- oder Aufklärungsmaßnahmen kaum ändern. Denn geschehen ist geschehen.

    Doch wirst du immer und überall, wenn du als jemand mit ‚Migrationshintergrund‘ Mißstände im Aufnahmeland kritisiert, solche Reaktionen seitens der Einheimischen hervorrufen, das ist kaum etwas spezifisch Deutsches. Es wird immer eine Scheidelinie konstruiert werden, um deine Meinungen als die eines Außenseiters zu disqualifizieren, und gerne mit historischen Argumenten: du hast ja das und das nicht erlebt .. Oder: das weiß du einfach nicht, du bist noch nicht lang ggenug hier usw. Oder kulturellen Argumenten: ihr denkt eben anders. (In geringem Grad sind reine Einwandererländer wohl Ausnahmen, aber auch In Amerika und Australien läuft es meinem Eidnruck nach für Einwanderer der ersten Generation kaum anders.)

  4. Christoph v.d.Ohe sagt:

    Ein wirklich schöner Beitrag,

    Besonders den Begriff Bio-Deutsche werde ich mir für Gesprächsrunden aufheben und im Zusammenhang mit dem straffälligen Muhlis trifft der Autor ganz meine Meinung.

    Ich als Biodeutscher mit Geburtsjahr 93 sehe die Disskussion meiner Generation aber mit anderen Augen.

    Sicherlich wird dieses „Erbsünde=Deutscher“ Schema auch von Eltern an meine Generation herrangetragen, aber viel schwerwiegender ist für mich, dass für viele meiner Genration ein Südländer egal welcher Herkunft (Ob in Deutschland geboren oder zugezogen spielt keine Rolle) als Synonym für Armut, Kriminalität und natürlich fehlende Sprachkenntnisse herhalten muss.

    Es wird einfach aus keiner Quelle die „meine Leute“ erreicht ein Bild von Gleichheit, gegenseitigem Vertrauen und einem miteinander geschaffen.

    Denn wenn der Bio-Deutsche eine Sache nicht hören will, dann das er genauso ist wie DIE

  5. Es geht nicht an, dass die Kirche immer noch ihr Geld durch den Staat eintreiben lässt.

  6. Lieber Mustafa Esmer:
    „Warum darf ich, obwohl ich seit meiner Geburt in Deutschland lebe, Missstände, die meinen Alltag bestimmen, nicht kritisieren? Ganz einfach: Mir fehlt die deutsche Erbsünde – der Holocaust.“

    Die Prämisse ist falsch und Wiebke hat bereits gesagt, dass es sich natürlich nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen handelt. Als Deutscher seit 23 Jahren in Frankreich weiß ich, wovon ich spreche. Zur französischen Politik äußere ich mich darum fast gar nicht mehr, denn mein Wort, also das des Deutschen, gibt Immer automatisch der Gegenseite Recht. Obwohl ich gegen Sarkozy als Präsidenten nichts hatte, möchte ich nicht, dass er noch einmal Staatschef wird, was er aber anstrebt. Wenn ich eine Liste « Deutsche gegen Sarkozy » gründen würde, wäre das für ihn die beste Reklame. Also lasse ich das. Türken und Türkendeutsche sind ja in D in der Minderheit. Viele sind gut integriert und mit Sicherheit sehr viele nicht. Die Beispiele, die du anführst, leuchten ein: Ghettodenken deutscher SachbearbeiterInnen…, Fremdenhass allgemein, keine Frage. Nur tragen ja manche spezifische Verhaltensweisen vieler türkischstämmiger Bewohner in D nicht dazu bei, ein Wir-Gefühl als Deutschlandbewohner langfristig zu entwickeln. Ich denke vor allem an das Verhältnis Männer und Frauen. Türken heiraten in der Regel Türkinnen und wenn sie in D keine Frau finden, holen sie sich eine Frau aus der Türkei. Durch falsch verstandene Religion bedingtes Mobbing biodeutscher Mädchen in Schulen, die sich westlich und manchmal sexy kleiden, ist eine Realität, die sich nicht leugnen lässt. Kurze Zeit hatte ich ein Verhältnis zu einer süßen Deutschtürkin, die große Probleme mit ihren Landsleuten (Männern) hatte, die sie als Hure beschimpften, weil sie sich mit Deutschen einließ. M.E. ist dieser verfluchte muslimisch-mittelalterliche Begriff von « Ehre » eine viel größere Hürde auf dem Weg zur funktionierenden multikulturellen Gesellschaft als irgendeine gemeinsame Erinnerung an Genozide. In dieser Logik könnte ja der türkische Genozid an den Armeniern positiv auf das deutsch-türkische Verhältnis wirken. Ich denke, dass die Bewusstmachung dieses Verbrechens im türkischen Selbstverständnis weit weniger verarbeitet wurde als im deutschen. Die Entnazifizierung in den Köpfen der Masse hat in D darum nachhaltig stattgefunden, weil alle deutschen Großstädte im Durchschnitt zu 80% zerstört wurden. Der verlorene Krieg und die Zerstörung, ausgehend von der dunkelsten Epoche der Weltgeschichte hat bewirkt, dass in D solche Gedanken nie mehr mehrheitsfähig sein werden. bismillahirrahmanirrahim!
    Wir brauchen nicht das größte Verbrechen der Menschheit, den Holocaust und die Erinnerung daran, zu bemühen, um irgendwelche Identitäten zu entwickeln und die Idee, Holocaust und deutsch-türkisches Selbstverständnis in Verbindung zu bringen, halte ich im übrigen für einen (gelungenen) journalistischen Aufmacher.
    Du sprichst davon, Erinnerungskultur etablieren zu wollen und schlägst eine Art Charta vor, die von Biodeutschen (wie Christoph v.d. Ohe merke ich mir den Begriff nicht nur, ich habe ihn bereits verinnerlicht. Danke für das Wort) erarbeitet wird.
    Hier frage ich mich, ob du das wirklich ernst meinst. Ein gemischt bio- und hybriddeutscher Rat soll entscheiden, dass wir uns z. B. an Goethe, den Kaiser Barbarossa, Friedrich den Großen (auf meinem Computer muss ich „Alt b“ tippen, um ein ‚ß‘ zu schreiben. Das ‚b‘ würde aber auch passen, fällt mir gerade auf: also Friedrich der Grobe) und andere positiv besetzte Lichtfiguren wie Gutenberg, Einstein (warum nicht Sepp Herberger, Nena und Uwe Seeler?) viele andere mehr, aber auch an den Holocaust … und damit verbundene Dunkelmenschen erinnern sollen. (international gesprochen vielleicht: Jack the Ripper und Mutter Theresa…)
    Dieser Rat macht dann Vorschläge an die Kultusministerkonferenz, die bestimmt, was davon in die Schulbücher kommt. Warum nicht?
    Bei diesem Rat bin ich übrigens gerne dabei.
    Allerdings glaube ich nicht, dass Erinnerung per Dekret funktioniert.
    Ein Beispiel: Im Gymnasium, vor mittlerweile 40 Jahren, hatten wir in Geschichte ein paar Unterrichtseinheiten zum Thema Ottonen. Tatsächlich fällt mir aber dazu (außer der Assoziation an den Viertaktmotor) gar nichts mehr ein. Erinnerung ist komplex und lässt sich nicht verordnen.

    Wie dem auch sei, als Auslandsdeutscher freue ich mich über diese Diskussion, obwohl sie im Ansatz müßig ist, aber kollateral entstehen Themen, die aktuell bleiben und den Rat zur Erinnerungskultur mache ich gerne mit dir. Herzliche Grüße aus Montélimar, der Hauptstadt des Nougats in Südfrankreich Karsten Brandt
    Mail: kb2@free.fr Telefon: 0033 4 75 01 29 44.html

  7. Rudolf Stein sagt:

    Herr Esmer, sie sprechen ein Thema an, das Deutsche, die aus der „Nazi-Generation“ stammen, sehr wohl bewegt, wenn sie nicht mit Scheuklappen durch das Leben gehen. Allerdings sind meine Schlussfolgerungen aus der Tatsache, dass ich ein Träger des Nazigens bin (Geburtsjahr 1933) ganz andere als die Ihren, wenn ich Ihnen zunächst noch zustimmen kann, dass die Erbsünde zur Exklusivität zweier Gruppen in der deutschen Gesellschaft führt. Da sind einerseits diejenigen, die mit der Erbsünde geboren wurden und tagtäglich von der Wiege bis zur Bahre von einer Gedächtnisindustrie darüber belehrt und aufgefordert werden, nichts zu vergessen, ja aufgefordert werden, den Vater oder Großvater erst sterben zu lassen, wenn er alle seine diesbezüglichen Sünden gebeichtet hat. Auf der anderen Seite sind Bürger wie Sie, denen selbst der eifrigste Vergangenheitsbewältiger nicht unterstellen kann, etwas mit der Nazizeit zu tun gehabt zu haben. Die Frage ist nun, ob die zweite Gruppe, die ethnisch und religiös sehr heterogen ist, in dem Moment, in dem sie die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, bereit ist, auch jene persönlichen Schuldkomplexe zu übernehmen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die übergroße Mehrheit derjenigen, die im Nahen Osten, Nordafrika oder Afrika geboren wurden, ein solches Ansinnen weit von sich weisen würden. Zurecht. Wir haben demzufolge mittlerweile eine Spaltung unserer Gesellschaft in solche, die qua Generationenfolge offiziell als die Träger einer historischen Schuld angesehen werden und solche, auf die das objektiv nicht zutrifft. Ihre Schlussfolgerung, dass Ihnen und den anderen Ihrer Gruppe aus dieser Spaltung Nachteile erwachsen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass die „Biodeutschen“ dieses „Alleinstellungsmerkmal“ benutzen, um sich Vorteile gegenüber der zweiten Gruppe zuverschaffen. Meine Erfahrung ist eine ganz andere: nicht selten – auch hier schon im MIGAZIN geschehen – wird die Nazikeule in Diskussionen herausgeholt, um biodeutsche Diskutanten abzubügeln. Von Diskussionen auf Schulhöfen ganz zu schweigen. Und der Unterricht in den Schulen wird diese Zweiteilung der Gesellschaft nicht beseitigen. Da die Nazivergangenheit Deutschlands ein beliebtes und dauerhaftes Unterrichtsfach ist, wird den jungen Menschen, die aus der zweiten Gruppe stammen, immer wieder klar gemacht, aus welchen kriminellen Verhältnissen ihre biodeutschen Klassenkameraden stammen und welche lupenreinen Menschen sie und Ihre Familien sind.

  8. Léon Reichenthal sagt:

    Dieser Erbsünde-Unfug und das ganze Schuldkomplex-Geschwafel mag zwar für einige eine willkommene Entschuldigung sein für den tatsächlich existierenden Rassismus in Deutschland nach dem Motto: Seht her, selbst uns, der Nachkriegsgeneration wird der Holocaust vorgeworfen, wir sind die Opfer, denen hier Unrecht geschieht.

    Erstens sind die Schuldigen fast alle tot, zweitens ist eine solche Stigmatisierung von sogenannten „Bio-Deutschen“ (ich lehne diese Bezeichnung ab) .eine Ungerechtigkeit
    a) gegenüber allen Deutschen, die damals im Widerstand oder in der Emigration waren
    b) gegenüber der Nachkriegsgeneration oder jenen Deutschen, die damals noch Kinder waren und
    c) auch gegenüber jenen Juden, die als Deutsche zu Tausenden in den Gaskammern ermordet wurden. Nicht wenige von Ihnen haben im Ersten Weltkrieg als Offiziere und Soldaten mit deutschen Nichtjuden Seite an Seite für Kaiser und Vaterland gekämpft. Und am Ausbruch des Ersten Weltkrieges tragen Deutschland und folglich auch die damals lebenden deutschen Juden eine gehörige Portion Mitschuld.

    Heute geht es nicht um Schuld, das wird offenbar von Vielen hierzulande, teils mit Absicht, verkannt, sondern um die Verantwortung aus der deutschen Geschichte. Und diese Verantwortung – Kampf gegen Rassismus, Diskriminierung, Antisemitismus und Faschismus – hat jeder Deutsche, ob Migrant oder nicht.

    Wenn der UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung des UN-Menschenrechtsrats in Genf, Vernor Munoz, feststellt, dass „Migrantenkinder in Deutschland systematisch benachteiligt werden“,

    wenn die stellvertretende Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Marianne Demmer,
    feststellt, „Deutschland sei, laut Pisa-Studie, Weltspitze bei der Benachteiligung der jungen Migrantinnen und Migranten, das sollte den Kultusministern eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben“,

    wenn eine Studie der OECD ( Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) feststellt, dass „Deutsche Behörden keine Migranten als Mitarbeiter wollen. Migranten im öffentlichen Dienst in Deutschland kaum Chancen haben, so sehr sie sich auch bemühen“

    und wenn selbst der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler feststellt, dass
    „die fehlende Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem eine unentschuldbare Ungerechtigkeit sei“

    dann stimmt vieles nicht in diesem unserem Lande,

    dann haben aber auch die beiden Debattier- und Schwafelvereine,

    der Zentralrat der Muslime und der Zentralrat der Juden ihre Aufgaben nicht erfüllt!

    Léon Reichenthal
    Vorstand der Liga gegen Rassismus
    Mitglied des Beirats für Migration und Integration
    Landkreis Bernkastel-Wittlich

  9. posteo sagt:

    Der vorausgehende Kommentar hat mich auf die Zusammenhänge zwischen Rassismus und sozialer Diskriminierung gebracht.
    Daher der folgende link: http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/asoziale_als_opfer_nationalsozialistischer_verfolgung_gestern_und_opfer_rechter_gewalt_heute/

  10. C.R. sagt:

    Erstmal stimme ich meinem Vorredner zum Teil zu. Möchte allerdings noch gerne hinzufügen, dass Deutschland in einigen Regionen sehr wohl historisch oft mit ethnischen Durchmischungen zutun hatten und somit der Begriff „Bio-Deutsch“ eigentlich falsch ist. Richtiger wäre eher „Traditions-Deutsch“ oder einfach „christliche Deutsche“. Natürlich bezieht das auch Deutsche mit christlichem Migrationshintergrund mit ein. Da allerdings eine große Anzahl von Deutschen, besonders in industriell geprägten Gegenden, einen Migrationshintergrund irgendwo aufweisen können (der nur viele Generationen zurück liegt), ist der Begriff Bio-Deutsch einfach verkehrt.

    Ein weiterer interessanter Verweis, der aber bei manchen Menschen mit Sicherheit argwohn auslösen wird, ist die Tatsache, dass das Territorium, was heute Deutschland bildet, schon lange Schauplatz vieler Kriege war. Was üblich in solchen Kriegen war, damit verweise ich stark auf den dreißigjährigen Krieg, sind Vergewaltigungen. Die Position innerhalb Europas und die späte Gründung des Nationalstaates werden ihr Übriges dazu beitragen.

    Trauriger Weise kann man allerdings den Grund dafür, warum sich die Einwanderer in industriell geprägte Gegenden (z. B. aus Polen und Tschechien) integriert haben, ganz einfach und schnell erklären: Die Assimilationspolitik die europäische Länder (auch während der Kolonialzeit) betrieben haben, war früher um ein vielfaches aggressiver. Polnische oder masurische Namen wurden stark eingedeutscht, teilweise in Namen, die wir heute als „typisch deutsch“ empfinden. Das gleiche wurde ja auch mit jüdischen Deutschen gemacht. Wenn diese nicht mehr auffallen wollten, konnten sie sich eindeutschen lassen. Reiche Familien konnten sogar die Namensrechte für Ortsnamen erwerben, wie z. B. Nathan Deutsch o. ä. Das wurde im Übrigen auch in Amerika gemacht. Da wurde aus einem „Schmidt“ schonmal ein „Smith“.

    Über die Zeiten des Barbarentums will ich hier jetzt garnicht anfangen …. Von Völkerwanderung wird jeder schonmal was gehört haben.

    Worauf ich damit hinaus will, sollte damit im Übrigen auch klar sein: Würde man in den Schulen mehr über diese ethnischen Durchmischungen lehren, dann würden die deutschen Kinder sich eventuell nicht mehr als „Bio-Deutsch“ verstehen, sondern eventuell nachvollziehen können, dass Migration nicht erst seit gestern existiert. Des Weiteren sollte man eventuell auch ein Unterrichtsfach wie „Ethik“ oder „Moral“ entwerfen, wo allgemein über Völkermorde gelehrt wird. Genozide sind nämlich nichts neues in der menschlichen Geschichte – Wenn der Holocaust auch der schrecklichste, weil durchorganisierteste, unter den Genoziden war. Erbsünde ist aber auch so ein Begriff…. Jeder Deutscher erbt die Sünde, weil er innerhalb der Institutionen dieses Landes groß wird. Über Steuern müssen wir also die Fehler vergangener Generationen bezahlen. Das ist durchaus völlig richtig so. Nicht jeder Deutscher war zu jenen Zeiten aber gleichermaßen am Holocaust beteiligt, wenn überhaupt. Demnach gibt es die Kollektivschuld nur bezogen auf das Administrationsgebiet Deutschland. Die meisten Gründe wurden ja bereits oben angesprochen – z. B., dass die beteiligten Generationen, die jetzt noch leben, im Krieg selber noch kleine Kinder waren.

    Ein Kurs über Migrationsgeschichte würde im Übrigen auch mal endlich diesen „völkischen“ Staatsbürgerbegriff eliminieren. Diese Idee eines deutschen Volkes existiert ja auch erst seit dem Ende der weimarer Republik. Vorher haben sich Deutsche über die Sprache definiert und nicht mehr – Da gab es auch noch deutsche Völker. Identitätsbegriffe sind immer ein Produkt von Eliten gewesen – Genau wie die Hochsprachen. Das ist für die Organisation eines Staates auch notwendig. Da es schon sehr viel geworden ist, breche ich jetzt mal ab.