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Servus Bosporus

„Wie ein Türke tickt willst du nicht wissen“

Dinçer Yusuf Gürsoy ist achtzehn Jahre alt, als seine Familie beschließt, in die Türkei zurückzukehren. Weil er keinen deutschen Pass hat, muss er fünfzehn Monate lang am türkischen Militärdienst leiden.

Von Ariana Zustra Donnerstag, 06.02.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.02.2014, 0:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Noch zweihundertdreizehn Tage bis zur Freiheit, “wenn man heute nicht mitrechnet.” Dinçer Yusuf Gürsoy zählt, wann die fünfzehn Monate seines Militärdienstes in der Türkei verstrichen sind. Dabei gehört er zu den wenigen Glücklichen, die Wachmänner des Topkapı-Palasts sein dürfen, dem ehemaligen Sultanpalast in der Altstadt. Verschwenderisch verzierte Tore, die in Gärten und Pavillons führen, vorbei an Schatzkammern, Badehäusern, dem Harem.

Andere Soldaten wurden in das Grenzgebiet zu Syrien beordert. Wie es ihnen dort geht, weiß er nicht, sagt er zumindest. Das Gesicht des 22-Jährigen ist noch jungenhaft, die blonden Haare sind abrasiert, doch durch die Uniform und das mit scharfer Munition geladene Sturmgewehr wirkt er erwachsener. “Jandarma” steht auf dem Aufnäher am Oberarm. Er ist der Mann für die Sicherheit.

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Acht Stunden am Tag schiebt Dinçer Yusuf Wache vor den Pforten des Palastes. Er erinnert sich noch an das erste Mal: Wie die Stunden nicht verstreichen wollte, wie er danach auf seinem Hochbett zusammengebrochen ist. Sein Gewehr wiegt zweieinhalb Kilo, “nach einer Stunde sind das zwanzig Kilo.” Doch das Schlimmste ist die Langweile. Wenn er mit einem Kameraden eingeteilt ist, den er nicht mag, überlegt er manchmal, nach Deutschland zurückzukehren, “aber nach einer halbe Stunde ist das wieder vergessen.” In solchen Momenten ruft er vom Münztelefon seine Mutter an. Seine Familie ist für ihn “das Wichtigste auf der ganzen Welt”. Er ist hergekommen, weil sie hergekommen ist, und er würde fortgehen, wenn sie fortgehen würde.

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Dinçer Yusuf Gürsoy wuchs in Bingen am Rhein auf. Nach dem Hauptschulabschluss trägt er Zeitungen aus, arbeitet in einer Dönerbude. Seine Ausbildung im Supermarkt bricht er ab, als seine Eltern und seine fünf Geschwister 2008 in die Türkei zurückkehren. Sein Vater, Sohn eines Gastarbeiters, geboren und aufgewachsen in Deutschland, hatte keine Lust mehr, für alle immer nur “der Türke” zu sein. Dinçer Yusuf hätte auch in Deutschland bleiben können, bis er 10.000 Euro gespart hätte, um sich vom türkischen Wehrdienst freizukaufen. Aber er wollte nicht allein bleiben. Die Sippe zieht nach Trabzon, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer.

In den ersten Monate fühlt sich Dinçer Yusuf wie im Urlaub. Doch nach und nach vermisst er seine Freunde, sein Auto, sein altes Zimmer. “Ich habe sehr schöne Sachen in Deutschland erlebt”, sagt er, als denke er dabei an ein Mädchen. In der Türkei hatte er bislang eine Freundin. „Das war nicht so stressig, sie hatte keinen Bruder.“ In einem Call-Center verhökert er Zeitungsabos nach Deutschland, bis er im Herbst 2012 zur Grundausbildung in Izmir antreten muss. Sechs Uhr aufstehen, 50 Liegestütze, „man rennt sich dumm und dämlich.” Er lernt, wie er stehen muss, wie er sprechen muss, wie er nicht sprechen darf. Schon gar nicht mit Journalisten. Er tut es trotzdem, heimlich, an einem Seiteneingang des Topkapı. “Ich habe das alles geplant, die finden das nicht heraus.”

Servus, Bosporus! 2014 reisten zwölf Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule nach Istanbul. Zehn Tage lang recherchierten sie in der türkischen Metropole für ihre Geschichten. Darin wollten sie vor allem die besonderen Beziehungen zwischen Menschen in Istanbul und Deutschland in den Fokus stellen. Aus den Geschichten ist „Servus, Bosporus!“ entstanden, ein Onlinemagazin, in dem sich die Vielfalt der Metropole Istanbul aber auch die Vielfalt journalistischer Erzählformen wieder findet. Einige der Artikel veröffentlichen wir in einer losen Reihe auch im MiGAZIN.“

In der Türkei fühlt sich Dinçer Yusuf manchmal, als wäre er zwanzig Jahre in die Vergangenheit gereist. “Die Kultur, die Menschen, … alles hier ist so anders. Autos sind so altmodisch.” In Deutschland haben ihn alle Yusuf genannt, weil es so ähnlich wie Josef klingt, in der Türkei nennen ihn alle Dinçer, weil es so türkisch klingt. Ausländerfeindlichkeit hat er nie erlebt. Du hast doch blonde Haare und blaue Augen, hat man ihm gesagt. “Ich glaube, die haben mich im Krankenhaus vertauscht!” sagt er dazu.

Ein Rudel junger Frauen in kurzen Röcken lustwandelt aus dem Palast hinaus. Dinçer Yusufs Blick streift die Frauen nur, sein Kamerad gafft ihnen unverblümt nach. “Türkische Männer gucken alle, egal wie alt sie sind. Für fünfundneunzig Prozent aller türkischen Männer ist es nicht normal, sich mit einem weiblichen Wesen ohne Hintergedanken zu unterhalten.” Er hat aufgegeben, das seinen Mitmenschen zu erklären. “Wenn man bei der Armee ist, merkt man, wie das Gehirn eines Türken funktioniert. Und glaub’ mir, das willst du nicht wissen.”

Hier geht es zum ersten Teil der Artikelserie: Zurück in die Türkei – Die dritte Identität Aktuell Gesellschaft

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  1. Nils Witte sagt:

    Vielen Dank Ariana Zustra für diese interessante Serie. Ich bin über die 10.000 Euro gestolpert und würde das gerne besser verstehen. Mich würde interessieren, welche Erfahrungen andere Leser gemacht haben. Hat sich jemand erfolgreich um Rückstellung beworben? In einer Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Thema von 2009 heißt es:

    “ Eine Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit ist allerdings in der Regel ohne eine Wehrdienstleistung in der Türkei oder die Zahlung einer entsprechenden Freikaufssumme möglich. Voraussetzung für die Entlassung ist lediglich eine ordnungsgemäße Zurückstellung vom Wehrdienst, die nach den bisherigen Erfahrungen regelmäßig vorgenommen wird.“
    (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/137/1613749.pdf)

  2. Pingback: Zurück in die Türkei - Die dritte Identität - Fachkräfte, Migration, Türkei, Türken - MiGAZIN

  3. Matthias sagt:

    Sehr interessant geschrieben!!!

    Aber 10.000 Euro ist nicht der richtige Kurs. Es sind für Personen unter 39 Jahren 5.000 Euro, erst später steigt die Summe auf 7.000 Euro.

    Und man kann sich wegen Ausbildung oder auch aus anderen Gründen zurückstellen lassen bis zum 39. Lebensjahr. Das funktioniert auch bei den türk. Generalkonsulaten in Deutschland problemlos.