Third Culture
Nicht zu nah, sie ist noch ein wenig postmigrantisch!
„Hallo Herr Müllmann! – Was? – Sie verstehen mich nicht? Sie sind wohl ein Italiener? – Nein? Dann sind Sie aber ein Türke. – Sehen Sie, ich habe das sofort erraten. Ich wollte Sie nur etwas fragen, Herr Türke.“ Eine zufällig auf dem Flohmarkt gefundene Geschichte des Kinderbuchautors Janosch lässt nach Wörtern, Wirklichkeiten und Handlungsmöglichkeiten fragen - die neue Kolumne im MiGAZIN: Third Culture
Von Scarlett Ammá Mittwoch, 26.02.2014, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 28.02.2014, 2:35 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Wohin rast die Feuerwehr, heißt die bunte Kindergeschichte von Janosch. Ja, der Janosch mit der niedlichen, schwarz gelb gestreiften Tigerente. Und weiter im Text heißt es: „Und warum sind sie denn ein Türke? – Ist das wahr, daß Sie hier arbeiten, damit Sie uns beim Arbeiten helfen? – Manche Leute sagen, Müll stinkt. Das finde ich auch. Ich möchte kein Müllmann sein. Ich möchte lieber Autoschlosser werden oder Angler oder Apotheker. Und wer soll dann den Müll wegfahren? Da bin ich aber sehr froh, Herr Türke, daß Sie hierher kommen und arbeiten und den Müll wegfahren, sonst würde es überall stinken. Auf Wiedersehen Herr Türke, und danke!“
Ach Du Sch … !
„Boa! Krass!“, der Kommentar meiner türkischen Freundin, „Ne, das darf ja nicht wahr sein!“, empört sich meine chinesische. „Das ist verletzend“, attestiert unsere polnische Freundin. Kurz darauf höre ich: „Ja, schön. Das finde ich gut. Das war ja auch so.“ „Ach Du Sch…!“ und „Oh je“, stoßen aber die meisten hervor. Und in der Smartphone-Zeit ist das Foto mit der Buchseite schnell unter den Freunden der Freunde und den Bekannten der Bekannten verbreitet.
Über die neue Kolumne: third culture beschreibt die Verschmelzung verschiedener kultureller Lebenswelten hin zu einer neuen. Durch den Zuzug der Eltern oder der eigenen Einwanderung nach Deutschland, wachsen viele Menschen in mehreren Kulturen auf. Konträre Wertesysteme vereinen und ausleben zu wollen, kann leicht die eigene kulturelle Identität in Frage stellen. third culture schafft Raum für die Drittkultur und damit für die Potenziale der Vielfältigkeit.
Lesen bildet
Der Sammelband Feuerwehr und Regenauto lächelte mich vor zwei Jahren für zwei Euro auf dem Flohmarkt an und landete in meiner „Lesen bildet!“ Bio-Baumwolltasche. Vor Kurzem wurde das Buch von meinem gerade vierjährigen Sohn entdeckt und aus dem sorgfältig eingeräumten Bücherregal gezogen. „Mama, das hier!“ Und Mama las – die Geschichte mit der Feuerwehr. Spätestens an der Stelle „… Herr Türke“, stutzte ich und las tonlos weiter. Dann fantasierte ich mit Ton eine lustige Unterhaltung mit einem Müllmann ohne Nationalität und blätterte weiter. Ein Blick ins Impressum zeigte kein Ersterscheinungsjahr, nur „© Janosch 1998 Sonderausgabe der Transcripta AG, Luzern für SERGES MEDIEN GMBH, KÖLN“. Und wie das so ist, trägt mein Kind genau dieses Buch zu Oma, Freunden, Bekannten, der Zahnarzthelferin und, und, und. „Lies!“, lautet mein Stichwort. „Bitte die Seiten 7 und 8 neu erfinden“, sage ich lächelnd. Die immer neuen Gesichter und lustigen „Müllmann-Geschichten“ schmücken das Buch mit einer besonderen Spannung.
Tatütata. Einen Verletzten gibt es auch.
„Ich höre die Feuerwehr.“ Tatütata! Zufällig angestoßen rast parallel zur Janosch-Geschichte eine Feuerwehr im hochemotionalen Zickzack zu Empfindlichkeiten und bösen Wörtern. Mit Tatütata am „Na und“ vorbei, direkt zu „Rassismus“, „Diskriminierung“ und „Fremdenhass“, dann schnell zur „Zensur“, „Zerstörung von Kulturgut und künstlerischer Freiheit“ und gleich weiter zur „Geschichtsverfälschung“, …. Genug Stroh liegt auf allen Wörtern und es anzuzünden, ist gar nicht schwer. „Einen Verletzten gibt es auch“ oder mehrere. Das Thema hebt einen Deckel hoch und und lässt die Wunden ahnen.
Im Kolorit der Zeit
Erst vor wenigen Jahren fand die öffentliche Diskussion um den „Negerkönig“ in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf ein Ende. Der Oetinger Verlag beschloss die Umbenennung des „Negerkönigs“ in den „König der Südsee“. 2007 verlegte der Little Tiger Verlag das letzte Mal originalgetreu die Geschichte „Wohin rast die Feuerwehr“ in dem Sammelband Feuerwehr und Regenauto. Dass es sich bei der Geschichte um einen Nachdruck handelt, geht aus dem Impressum nicht hervor. Und das ist schade, denn die sympathische dazugehörige Verlegerin Dr. Katharina Eleonore Mayer, übrigens Mutter von zwei bikulturellen Kindern, beruft sich auf die Entstehung der Geschichte „Anfang der 70er im Kolorit der Zeit“.
Sprache erschafft Wirklichkeiten
Die Erstauflage von „Wohin rast die Feuerwehr“ erschien 1972 im Domino-Verein. Der 1963 in München gegründete Verein war laut dem damaligen Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur des Beltz Verlags eine „aus Schriftstellern, Illustratoren, Theoretikern, Pädagogen und Fachleuten des Verlagswesens bestehende Personengruppe.“ Die Geschichte entstand noch in den Boomjahren der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Die pädagogische Absicht, die unterstellt werden darf, war, der Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken. Ob die Umsetzung aus heutiger Sicht gelungen war? Wörter haben je nach Zeit, Menschen und Gruppe eine unterschiedliche Bedeutung. Gedanken und Sprache erschaffen Wirklichkeiten. Sie können dunkle Bilder aus Ängsten, Projektionen und Vorurteilen malen. Und sie können mit Offenheit, Einfühlungsvermögen und Respekt Werte erschaffen, die auch untereinander gelten.
Wurst-piep-egal
Während Janosch, Verleger, Theoretiker und Pädagogen über pädagogisch wertvollen Geschichten brüten, wachsen just in dem Moment neue Kinder heran, die Michael, Sabine und Christian heißen. Freudig spielen sie auf der Straße mit Giovanni, Maria und Mohammed. An einem unschuldigen Ort, an dem die Wörter nicht dasselbe wiegen wie bei den Großen. Genau dort nannten sie sich mit großer Freude Kartoffel-, Spaghetti-, Kümmel- und Knoblauchfresser und waren neugierig auf die „Schätze“ des anderen. Sie spielten Fußball, rauften sich, zogen sich an den Haaren, bastelten Gänseblümchenketten, erfanden gemeinsam Regeln und … hatten sich gern. Und ob deutsch, spanisch, griechisch, italienisch oder türkisch war wurst-piep-egal.
Ein Begriff aus den 70ern: Integration
Zu dieser Zeit hörte man „die Ausländer“, „die Gastarbeiter“ und „die Migranten“ und man brauchte Bücher, die den Kindern etwas anderes beibringen sollten, als es vielleicht die Erwachsenen taten. Aus den 70ern stammen auch die Integrationsmodelle und die meisten Vorstellungen über Integration. In einem Spiegel Artikel zu „50 Jahre Gastarbeiter in Deutschland“ heißt es treffend, dass der Begriff „Integration“ heute in die Irre führt, „denn um die Aufnahme von Ausländern, von Fremden in die deutsche Gesellschaft geht es längst nicht mehr.“
Du gehörst nicht ganz zu uns
Heute werden die ausländischen Freunde von damals „Menschen mit Migrationshintergrund“ genannt. Zusammen mit „postmigrantisch“ hört es sich ein wenig nach einer Krankheit an. „Nicht zu nah, sie ist noch ein wenig postmigrantisch!“ Zählen die Deutschen dann zu den „Menschen mit Kriegshintergrund“? Ähnlich seltsam erscheinen die vielen Probleme, die sich im alten Sinn mit Integration und den Defiziten der Menschen mit Migrationshintergrund auseinandersetzen. Mark Terkessidis erklärte in seinem Vortrag auf der BR-Tagung „Integriert! Und nun?“ sehr anschaulich, was damit hauptsächlich einhergeht: Die gefühlte Trennung in „WIR“ und „DIE“ und das Gefühl, „Du gehörst nicht ganz zu uns.“ Der Journalist und Migrationsforscher plädiert für Innovationen in Bildungseinrichtungen, um die Chancen der Vielfalt zu nutzen und zu wertschätzen, statt sich auf vorgeschobene Problematiken zu konzentrieren.
Alt gewordene, ranzige Wörter
Nicht-Wertschätzung hat viele Folgen und Folgekosten. Menschen, die sich wertgeschätzt fühlen, möchten sich einbringen. In unseren Unternehmen, Bildungseinrichtungen und in unserem Gesellschaftsleben gibt es wertvolle Potenziale, die nicht genutzt werden. Stattdessen wird emotional über alt gewordene, ranzige Wörter diskutiert. Dabei macht das Erfinden von neuen Geschichten viel mehr Spaß. Deshalb brauche ich auch die Geschichte von Janosch nicht umschreiben. Es ist wichtig, den Hintergrund zu kennen und sich in das Gestern einzufühlen, um das Heute zu verstehen.
„Irgendwie Anders“ ist irgendwie ziemlich gelungen
Ich kann neue Geschichten erzählen und andere Bücher für mein Kind aussuchen. Letztens entdeckte ich „Irgendwie Anders“ (Oetinger Verlag) und fand „Irgendwie Anders“ irgendwie ziemlich gelungen. Ich kann mit Humor leben, innovativ und spontan sein und ich kann andere Wörter benutzen. Andere Wörter, um „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu umschreiben. Wörter, die die Vielfalt betonen und das darin enthaltene Potenzial sichtbar machen. Begriffe, die Neugier, Selbstbewusstsein und Akzeptanz beinhalten. Buchstaben, die neue Ideen und Innovationen für einen Ort bergen, an dem sich viele bunte Menschen wertschätzen und achten. Wörter wie:
Drittkulturell / Drittkultur / Third Culture.
Es ist sehr viel angenehmer, Energie in Neues zu investieren, statt Altes zu bekämpfen oder Ranziges zu erhalten. Meiner Freundin ist es wurst-piep-egal, ob mein Vater Müllmann ist und ich muss sie nicht Frau Türke rufen oder postmigrantisch nennen. Na, was ein Glück für die, die schöne Wörter und die Möglich- und Wirklichkeiten, die daraus entstehen, lieben! Es liegt an mir und ihr und dir
– es liegt (an) uns, zu gestalten. Aktuell Meinung
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Ich mit der Autorin einer Meinung, daß der Begriff Integration endlich mal mit Samthandschuhen angefaßt werden sollte, und der von dem ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ sollte vor derm Hintergrund der Erkenntnis gesehen werden, daß es heute zunehmend weniger Menschen ohne gibt.
Doch hab ich Bauchschmerzen bei der Umtaufung literarischer Figuren in politisch korrekte heute angesagte Bezeichnungen wie Lindgrens ‚Negerkönig‘ bei Pippi Langstrumpf in ‚König der Südsee‘.
Das ist eine Form der Kulturklitterung, die einer zutiefst a-historischen Weltsicht Vorschub leistet. Die Kränkungen, Verletzungen und Übergriffe aus der Kolonialzeit werden dadurch kaum beseitigt, aber durch pseudo- ‚korrekten‘ Sprachgebrauch übertüncht. Und das ist traurig, gerade weil diese Kränkungen noch nachwirken. Viel besser wäre es, Erklärungen beizugeben. Dadurch würde auch gezeigt, daß jedes Werk aus dem Kontext seiner Zeit gesehen werden muß. Wenn das nicht geschieht, wie sollen Kinder einen Begriff für Veränderungen in der Zeit kriegen, oder lernen, mit welchem grauenhaften Vorurteilen und Herrenmenschenselbstbild die Vorfahren der heutigen Europäer lange den Rest der Welt betrachteten? Wer glaubt, das spiele heute doch keine Rolle mehr, ist naiv. Solche Wunden reichen tief und ihre Wirkungen halten über Generationen hinweg an . Wer wird dies aber heute verstehen, wenn aus Schriften früherer Zeiten der Sprachgebrauch, der diese Haltungen widerspiegelt, ausgemerzt wird? Das erinnert an Bücherverbrennungen. Und durch bloßes Umbenennen einzelner Figuren, das muß man sich klar machen, können diese Haltungen ja gar nicht herausgefiltert werden, Es wird nur schwieriger, sie zu erkennen..
Davon abgesehen: Wie soll ein Enkel die Kränkungen, die sein aus Anatolien eingewanderter Großvater im Deutschland der siebzger Jahre erleiden mußte, nachvollziehen, wenn aus den Kinderbüchern von damals diese Haltungen korrigiert werden?
Wichtiger scheint mir, heutige Sprachzeugnisse unter die Lupe zu nehmen, etwa genaues Hingucken auf Schulbücher usw., Und ein schöperischer Umgang mit Sprache wäre schön.
Nur eine Anmerkung: So neu ist das Phänomen der literarischen Umdeutung nicht.
Bereits Anfang der 60er namen so ziemlich alle Buchverlage das Grimmsche Märchen „Der Jude im Dorn“ aus ihren Märchensammlungen hinaus.
Der Zeitgeist ändert sich schließlich.
komplettes weglassen im Neudruck ist was anderes als Umschreiben – außer das weggelassene war ein elementarer Bestandteil – was bei „Jud im Dorn“ ja wohl eher weniger der Fall ist.
Wobei ich nichts dagegenhätte, wenn Pippi Langstrumpf gar nicht mehr gedruckt würde – „Negerkönig“ war noch das geringste Problem. Weitere sind, dass Pippi *alles* mit Gewalt löst (und dabei niemand zu schaden kommt, fast wie in ameikanischen Comics) und dass als Pippi&Co in der Südsee eintreffen, die „guten Weißen“ erstmal jede Menge toller Ideen haben, auf die „die Negerkinder“ nicht gekommen sind (z.B. ein Netz vor die lagune zu spannen, um Haie abzuwehren.
Auch beim besprochenen Janoschbuch wäre ein Nicht-Nachdruck (oder wenigstens mit Kommentar zur Entstehungszeit) sicher besser gewesen.
Nachdem ich ein Screenshot der besagten Stelle zugeschickt bekam, machte ich mich auf die Suche nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichte und wurde hier fündig: Tatsache, das Kinderbucht existiert wirklich.
Selbst wenn wir dem Autor positive Absichten unterstellen, ist die Lektüre heute nicht mehr zeitgemäß. Man stelle sich vor, im Kindergarten lernen die Kinder, Menschen mit schwarzen Haaren prinzipiell als „Herr Türke“ zu bezeichnen, sei in Ordnung.
Wenn eine Neuauflage (Feuerwehr und Regenauto) die Suggestion vermittelt, Türken seien nur für solche Tätigkeiten gut, verzerrt das die Realität und macht zudem Rassismus hoffähig. Die gesellschaftliche Brisanz liegt zudem darin, dass Integrationsgegner auf beiden Seiten gestärkt werden…