Bremer Brechmittel-Fall
Polizeipräsident übernimmt Verantwortung für Tod in der Wache
2005 kam Alama Condé in Polizeigewahrsam ums Leben. Ein Polizeiarzt pumpte ihm so lange Brechmittel und Wasser in den Magen, bis er ins Koma fiel und starb. Zweimal sprach das Bremer Landgericht den Arzt frei. Und zweimal kassierte der Bundesgerichtshof die Urteile. 2013 wurde das Verfahren eingestellt. Nach neun Jahren kam die Entschuldigung des Polizeipräsidenten.
Von Rolf Gössner Freitag, 07.03.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.03.2014, 7:10 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Kürzlich erlebte Bremen eine ungewöhnliche Geste: Ein Polizeipräsident entschuldigte sich bei der Familie eines Polizeiopfers. Lutz Müller, oberster Repräsentant der Bremer Polizei, tat dies gegenüber der Mutter von Laye Condé, der 2005 in polizeilicher Obhut ums Leben kam, nachdem ihm gewaltsam Brechmittel verabreicht worden war. Nach neunjährigem Schweigen der Polizei und der verantwortlichen Politik ist eine solche öffentliche Entschuldigung zwar verspätet und überfällig – aber als seltene polizeiliche Initiative höchst bemerkenswert.
Der seit 2012 amtierende Polizeipräsident übernimmt damit Verantwortung, obwohl er zum Zeitpunkt des Todesfalls weder Beteiligter noch in verantwortlicher Position war. Als Polizeipräsident fühle er sich „verpflichtet, zu dem damaligen Ereignis eine Position einzunehmen und sie auch zu äußern“, so Lutz Müller. Und weiter: „Wir müssen die bestehende Sprachlosigkeit der Polizei überwinden.“ Er sagt dies, nachdem das Landgericht Bremen das Strafverfahren gegen den damals unmittelbar handelnden Arzt Igor V. wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt hat – gegen eine an die Mutter des Todesopfers zu zahlende Geldsumme in Höhe von 20.000 Euro.
In dem Strafprozess ging es um den gewaltsamen Tod eines mutmaßlichen Drogen-Kleindealers im Polizeigewahrsam, der erstmals im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln aufgefallen war. Der im Auftrag der Polizei tätige Arzt hatte dem aus Sierra Leone stammenden Laye Condé Ende 2004 im Polizeipräsidium zwangsweise Brechmittel und literweise Wasser eingeflößt, um ihn zum Erbrechen mutmaßlich verschluckter Kokainkügelchen zu zwingen. Der an Händen und Füßen gefesselte 35jährige, der zudem von zwei Polizeibeamten festgehalten wurde, fiel während der über einstündigen Tortur in Ohnmacht. Arzt und Polizeibeamte setzten die qualvolle Prozedur zur Beweissicherung gleichwohl fort, auch noch als ein Notarzt herbeigerufen worden war. Condé fällt ins Koma und stirbt wenige Tage später.
Zweimal sprach das Bremer Landgericht den angeklagten Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei – wegen Unerfahrenheit und Überforderung und weil er die Todesgefahr nicht habe vorhersehen können. Und zweimal kassierte der Bundesgerichtshof (BGH) die Bremer Urteile in ungewöhnlich scharfer Form: Die Urteile seien „durchgreifend rechtsfehlerhaft“, der zweite Freispruch, der Vorgaben des ersten BGH-Urteils mißachte, sei „fast grotesk falsch“. Der Arzt habe den Brechmitteleinsatz auch nach einer ersten Ohnmacht Condés unter „menschenunwürdigen Umständen“ fortgesetzt. Deshalb seien die Voraussetzungen einer Körperverletzung mit Todesfolge gegeben, also eines Gewaltverbrechens.
Dennoch wurde das Verfahren im dritten Anlauf am 1. November 2013 eingestellt. Der Angeklagte war im Laufe des jahrelangen Prozesses so schwer erkrankt, dass er auf unbestimmte Zeit verhandlungsunfähig ist. Nach Begleichung der Geldauflage wird das Verfahren endgültig eingestellt. So bleibt eine tödlich endende Misshandlungsprozedur in staatlichem Auftrag und staatlicher Obhut letztlich weitgehend ungesühnt.
Der Arzt wirkte ohnehin ziemlich verloren auf der Anklagebank, denn dort fehlten alle anderen Beteiligten und Mitverantwortlichen für das Bremer Zwangsbrechmittelsystem und seine tödlichen Folgen – all jene also, die diese Polizeipraktiken angeordnet, zugelassen oder sich an ihnen direkt beteiligt hatten. So fehlten auf der Anklagebank die politisch Verantwortlichen, zuvorderst der damalige CDU-Innensenator und auch der ehemalige SPD-Justizsenator, der als Zeuge vor Gericht noch immer die zwangsweise Vergabe von Brechmittelsirup verteidigte; des weiteren fehlten der damalige Oberstaatsanwalt und Polizeipräsident, dann die beiden an dem Brechmitteleinsatz unmittelbar beteiligten Polizeibeamten, die ihr Opfer gefesselt hatten und gewaltsam festhielten, um die Misshandlung zu ermöglichen, sowie der hinzugezogene Notarzt, der die Fortsetzung der Prozedur nicht verhinderte, sondern absicherte.
Sie alle waren mitverantwortlich für die grausame Beweissicherungsmethode, die an Waterboarding gemahnt und die schon 2001 in Hamburg zu einem Todesfall geführt hatte. 2006 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sie zu einer unmenschlichen, erniedrigenden und folterähnlichen Polizeimaßnahme und damit für menschenrechtswidrig: Sie verstoße gegen das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, so dass man von Brechmittel- oder Beweissicherungsfolter sprechen kann.
Und man hätte es schon vor dem Urteil wissen können, zumal Menschenrechtsorganisationen, Ärzte- und Juristenverbände aus ethischen und menschenrechtlichen Gründen frühzeitig protestiert hatten. Trotzdem blieb die Brechmittelprozedur bis Ende 2004 Bremer Politik, von der seit Anfang der 1990er Jahre Hunderte drogenverdächtiger Menschen, hauptsächlich solche mit schwarzer Hautfarbe, betroffen waren – gesundheitliche Schädigungen und Traumatisierungen inklusive.
Wenn die damals Verantwortlichen schon nicht vor Gericht landeten, so erwarten Betroffene und Öffentlichkeit zumindest, dass sie Verantwortung übernehmen und sich erklären – doch bislang vergebens, mit Ausnahme des damaligen Justizstaatsrats und heutigen Innensenators Ulrich Mäurer (SPD), der den Tod von Condé inzwischen wenigstens „zutiefst bedauert“. Doch Polizeipräsident Lutz Müller machte es mit seiner öffentlichen Entschuldigung allen vor (und wenig später folgte ihm auch Bremens Senatspräsident und Bürgermeister Jens Böhrnsen): Bereits im Juni 2013 hatte Müller unter widrigen Umständen Kontakt zur Mutter von Laye Condé in Afrika aufgenommen und ihr in einem Brief sein Bedauern über den Tod ihres Sohnes in Polizeigewahrsam ausgedrückt: „Unter polizeilicher Obhut darf kein Mensch ums Leben kommen.“ Deshalb sei es ihm so wichtig, dass „wir und nachfolgende Generationen von Polizistinnen und Polizisten sich mit dem Tod von Laye-Alama Condé und den Begleitumständen ernsthaft, vorwurfs- und vorurteilsfrei auseinandersetzen“.
Inzwischen hat Lutz Müller eine lesenswerte Broschüre mit dem Titel „Der Tod von Laye-Alama Condé“ erarbeiten lassen. Diese Materialsammlung wird künftig auch im Rahmen der polizeilichen Aus- und Fortbildung eingesetzt. All das lässt für die weitere Entwicklung einer Fehlerkultur oder besser: Fehleraufarbeitungskultur bei der Bremer Polizei zumindest hoffen; vielleicht wird so auch die Zivilcourage im Falle zweifelhafter Polizeimaßnahmen gefördert.
Mit Bedauern, Entschuldigung und Ausbildungsbroschüre dürfte es aber nicht getan sein – weitere Schritte der politisch-gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels, des gesamten Brechmittelkomplexes, inklusive des mutmaßlich rassistischen Hintergrunds, müssen folgen, so wie es die Bremer „Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé“ schon lange und zurecht anmahnt. Dazu gehört eine Einladung der Familie Condé nach Bremen, um sie in würdigem Rahmen im Namen des Senats um Verzeihung zu bitten und ihr angemessene Entschädigung anzubieten. Über ein Denkmal an zentraler Stelle und eine Mahntafel am Polizeipräsidium wird derzeit noch verhandelt. In der Polizeiausbildung müssen Anstrengungen unternommen werden, um rassistischen Tendenzen, wie sie im Zuge polizeilicher Kontrollen und Drogenermittlungen immer wieder kritisiert werden, entgegenzuwirken – etwa mit Hilfe obligatorischer Menschenrechts- und Antirassismustrainings. Nicht zu vergessen: die Einrichtung einer unabhängigen Institution zur Kontrolle unverhältnismäßiger Polizeigewalt, wie sie Bürger- und Menschenrechtsorganisationen schon lange fordern. Leitartikel Meinung Politik
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